Название | Till Türmer und die Angst vor dem Tod |
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Автор произведения | Andreas Klaene |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738062090 |
Während Marjet erzählte, sah sie Till so an, als würde sie aus seinem Gesichtsausdruck lesen wollen, ob er ihr glaubte. Dann fiel ihr ein, wie sie ihn überzeugen konnte: »Ich glaube, es war 1903, da passierte etwas ganz Schreckliches: Irgendein besoffener Passagier sah Pelorus Jack und schoss auf ihn. Dieser Verrückte hat ihn zwar nicht getötet aber verletzt. Als die Mannschaft das mitbekommen hatte, war sie so geladen, dass sie den Kerl um ein Haar gelyncht hätte. Pelorus Jack versteckte sich dann und tauchte erst zwei Wochen später wieder auf.«
Marjet registrierte, dass er ihr mit höflich versteckter Amüsiertheit zuhörte und durchaus Lust auf noch mehr Seemannsgarn hatte.
»Der neuseeländische Staat ist jedenfalls nicht so ein Zweifler wie du. Nach dieser Attacke hat er im Jahr 1904 dafür gesorgt, dass Pelorus Jack geschützt wurde. Und zwar per Gesetz. Der Staat hat also für ein einzelnes Meereslebewesen ein Gesetz gemacht. So etwas hat es nie zuvor gegeben.«
»Und jetzt ist es diese Geschichte, die ihn unsterblich macht«, sagte Till mit Nachdenklichkeit und Respekt im Ton. So wollte er Marjet zu verstehen geben, dass er ihr wirklich glaubte.
»Nicht diese Geschichte. Das, was er getan hat, macht ihn unsterblich. Wäre er nicht gewesen wie er war, würde keiner seine Geschichte erzählen.«
»Und du wärst nie auf die Idee gekommen, aus ihm eine Bronze zu machen. Eine, die so viel Lebendigkeit zeigt, dass man glauben könnte, das Leben von Pelorus Jack würde nie enden.«
»Ja, da ist was dran. Irgendwie wünsche ich mir immer, dass solch eine Arbeit zu einer Art Momentaufnahme für die Ewigkeit wird.«
»Wie meinst du das?«
»Früher hat dieser Delfin die Menschen mit seiner Freundlichkeit und Treue so berührt, dass er in ihnen lebendig blieb – in ihren Gedanken und Geschichten. Und wenn ich es schaffe, dass mein Pelorus Jack bei den Leuten hier an Bord auch etwas bewegt, dann ist er wirklich unterwegs zur Ewigkeit. – Eine schöne Vorstellung, oder?«
Till stand auf, legte noch einmal seine Hand auf den Rücken des Delfins, als wollte er ein wenig von dessen kraftvoller Ewigkeit in seinen Sinnen mit nach Hause tragen, und sagte lächelnd: »Klar, dieser Gedanke hat was. Aber das ist ja noch nicht alles. Je mehr die Skulptur hier an Bord beeindruckt, desto deutlicher sind deine eigenen Spuren zu sehen.«
»Ich gebe zu, auch das ist ein attraktiver Gedanke für mich. Aber ja wohl für jeden. Wollen wir nicht alle Spuren hinterlassen?«
»Am liebsten schon«, sagte er, während er seinen Blick kurz auf den Teppich des Salons richtete. »Und am besten so tiefe Spuren, dass der Wind sie auch dann, wenn wir nicht mehr sind, noch lange nicht mit Sand verdecken wird.«
Er musste an den alten Mooshammer vom Attersee denken. Der hatte es geschafft, recht tiefe Spuren zu hinterlassen, lauter Erfolgsspuren. Aber wenn es stimmte, was seine Tochter gesagt hatte, reichte ihm das nicht. Womöglich würde er selbst im Tod nicht zur Ruhe kommen, wenn seine Nachkommen anfingen, ihre eigenen Abdrücke im heimatlichen Boden zu hinterlassen. Vielleicht zwang er seine Tochter und ihren Mann deshalb, exakt in seine Fußstapfen zu treten. Er glaubte wohl, dass nur so etwas von ihm über den Tod hinaus für alle sichtbar bleiben würde. Wenn das gelänge, würde er in der Erinnerung des Dorfes lebendig bleiben.
Jupp war ganz anders gewesen. Mehr wie Pelorus Jack. Er hatte einfach getan, was er glaubte tun zu müssen, und das so gut er konnte. Ob auch er sich Gedanken gemacht hatte über das, was von ihm blieb? Wahrscheinlich, aber nicht so, dass Till es mitbekommen hätte. Und schon gar nicht war es bei Jupp in Frage gekommen, seine Spuren für die Ewigkeit zu konservieren.
Marjet stand auf und sagte, während sie ihre Hand beiläufig auf Tills Schulter legte: »Wenn der Wind unsere Spuren nicht wegwehen soll, haben wir eine Menge zu tun. Aber das kann ja auch eine sehr schöne Aufgabe sein.« Sogleich ging sie weiter zur Treppe des Salons und bat ihn, dort auf sie zu warten. Sie wolle sich nur schnell bei Ian McStone verabschieden.
Till kam nun ein Gedanke, der in eine ganz andere Richtung ging. Er überlegte, ob man auch durch das Spuren schuf, was man nicht tat, was man unterließ, obwohl man es hätte tun sollen. Ihm wurde klar, dass er gerade dabei war, genau solche in Ennos Bewusstsein zu treten, und zwar, indem er an diesem Tag dort fehlte, wo er eindeutig seinen Platz sah: bei Jupps Begräbnis. Diesen Platz hatte er sich selbst zugewiesen, aber er fühlte auch – zumindest gegenüber Enno – eine gesellschaftliche Verpflichtung, dabei zu sein.
In den letzten Tagen war es ihm recht gut gelungen, sich sein bespritztes Gewissen blitzblank zu denken. Schließlich war es ihm und Marjet gar nicht so leicht gefallen, für ihr Treffen eine gemeinsame Lücke in den Terminkalendern zu finden. Darum hatten sie alles Notwendige für ihre Begegnung bereits vor Wochen festgezurrt. Im selben Moment, als Till von Jupps Tod und der anstehenden Beerdigung gehört hatte, hatte er seinen Besuch in Den Haag für sich als etwas Unumstößliches erklärt.
Aber was hieß das schon, unumstößlich, wenn das Leben eines nahestehenden Menschen eingestürzt war? Er musste sich selbst gestehen, dass es in diesem Fall durchaus möglich gewesen wäre, sich mit Marjet auf einen späteren Termin zu verständigen. Sie hätte garantiert Verständnis dafür gehabt.
Jetzt, wo sie ihn mit diesem Geständnis allein gelassen hatte, wurde sein Denken zu einem bösen Reptil. Zielstrebig schlängelte es an ihm empor, geradewegs Richtung Hals, um im nächsten Moment das eigentliche Geständnis aus ihm herauszuquetschen. Ja, verdammt nochmal, er hatte gekniffen. Er hatte Jupp nicht besucht, als er noch lebte, und auch heute war er nicht bei ihm, als er mit seinem Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Allein dieses Wort Sarg. Natürlich landete alle Welt in diesen finsteren Behältnissen. Aber was hatte er mit der toten Welt zu tun? Erst wenn jemand aus dem eigenen Dunstkreis gestorben war, tauchte der Sarg in seinen Gedanken auf. Dann ritzte diese allerletzte Unterbringungsmöglichkeit mit ihrer markanten Form das Antlitz des Grusels in ihn hinein. Er merkte, dass er all diese Gedanken schleunigst beerdigen sollte. Eine Ahnung sagte ihm, was geschehen würde, wenn er es nicht täte: Sie würden ihn in die dämmrige Nebellandschaft seines eigenen Ichs ziehen, in eine Gegend, deren Schluchten und Sümpfe er sich nie genau angesehen hatte, und die er auch gar nicht kennenlernen wollte.
Marjet war es, die für ihn diese Beerdigung übernahm, indem sie plötzlich wieder im Salon auftauchte und sagte: »So, ich habe alles erledigt. Hast du noch einen Wunsch? Sonst können wir meinetwegen wieder fahren.«
Till hatte noch einen Rest Kaffee in seinem Becher. Er kippte die lauwarme Brühe herunter, warf sein Notizheft hinter sich auf die Rückbank und machte sich über Amersfoort und Zwolle auf seinen Weg zurück nach Aurich.
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