Till Türmer und die Angst vor dem Tod. Andreas Klaene

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Название Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор произведения Andreas Klaene
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738062090



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mehr ausging, und er spürte, dass er mit dieser Frage nichts zu tun haben wollte. Sie stand plötzlich wie ein Gespenst vor ihm in einem dunklen Raum, in dem es keinen Lichtschalter gab. Dann sah er Jupp leblos dort liegen, aber es war nicht der Mann, den er kannte. Der Tod hatte seine Persönlichkeit geplündert und nur die miese Kopie eines Menschen liegen lassen. Diese Vorstellung erinnerte Till aber nicht nur an Jupp, der erst jetzt, nach seiner Existenz, so richtig in ihm zu leben begann. Sie rief ihm mit schriller Stimme ins Bewusstsein, dass auch er irgendwann zur toten Kopie seiner selbst werden würde.

      Der Verkehr hatte sich beruhigt. Till musste also nicht mehr ständig auf der Flucht vor drängelnden Autofahrern sein. Mit Luchsaugen hatte er bereits mindestens zwei Dutzend Straßen durchschlichen. Rote Autos fuhren und standen überall, aber das, was er suchte, verbarg sich.

      Immer häufiger schaute er auf die Uhr. Am liebsten hätte er seinen Abendtermin abgesagt oder zumindest verschoben.

      Stattdessen gab er Gas, fuhr auf der Manningastraße Richtung Ortsausgang und kam zu einer breiten Einfahrt. Sie führte auf den großen Parkplatz genau jenes Supermarktes, den er an anderen Tagen im Vorbeifahren gesehen hatte.

      Am hinteren Ende angekommen, nahm er ein Stück Schimmelkäse aus dem Regal und bat die Verkäuferin, zehn Scheiben Gouda für ihn zu schneiden. Till sah auf ihre Hände, die in weißen Einweg­handschuhen steckten und den gelben Käselaib ans rotierende Messer der Schneidemaschine pressten. Die Frau sah so aus, als hätte sie außer dem Käse auch noch das Leben im Griff. Sie funktionierte. Bestimmt, so dachte er, ebenso zuverlässig wie das blitzend rotierende Messer. Das tat nach Kräften alles, was die Hände der Frau von ihm verlangten. Er malte sich aus, wie die scharfe Stahlscheibe mit Fingern und Knochen fertig werden würde und spürte plötzlich ein Verlangen nach Szenenwechsel.

      Till drehte sich um, schaute mit einem Blick, der keinerlei Ziel hatte, in die langen Gänge. Erst als ein paar Schritte vor ihm eine Frau mit ihrem Kind zwischen den Reihen auftauchte, vergaß er das Messer, das hinter ihm seine Arbeit tat. Ihr Einkaufswagen war bis an den Rand mit Waren gefüllt, und ihre Tochter thronte mittendrin. Er musste unweigerlich lächeln. Die Kleine sah es und lächelte zurück. Zuerst ganz spontan, dann verschämt. Er wollte ihre Scham vertreiben, zwinkerte ihr zu und erreichte damit, was er partout nicht wollte. Das Mädchen lehnte sich über die Brüstung des Wagens – wie eine, die unmittelbar vor ihrem akrobatischen Auftritt stand. Noch ein schneller Blick zu Till, und schon schob sie ihren kleinen Oberkörper weiter über den Rand, hielt sich fest und ließ ihn ganz langsam an der Außenseite so tief sinken, dass das Blut ihrem hellen Gesicht Farbe gab.

      Die junge Frau schien nichts von dieser Vorführung mitzubekommen. Ihre Augen hafteten mit der Ruhe einer Eule mal auf dem Einkaufs­zettel, der zwischen ihren Fingern klemmte, mal auf dem Regal. Sie reagierte auch nicht, als ein Apfelsaftpaket aus dem Wagen auf den Boden klatschte. Schlagartig lebendig wurde sie, als Till danach schnappte und es in den Wagen legte.

      Sie sah ihn mit einer freundlichen Quirligkeit an, die er bei so einem Eulenmenschen nie vermutet hätte, sagte auch etwas zu ihm, irgendetwas, das auf gewiss herzliche Weise ihren Dank ausdrückte. Doch was, das bekam er nicht mit. Er registrierte, dass hinter ihr eine andere Frau auftauchte, eine, die gerade dabei war, nicht nur seinen Gehörsinn zu entern.

      Dennoch bekam er mit, dass er gerufen wurde, und zwar in einem Ton, der ihm sagte, dass es zuvor bereits einen Ruf gegeben hatte, einen, der nicht bei ihm angekommen war.

      »Hallo, junger Mann, Ihr Käse! Oder darf es sonst noch etwas sein?!«

      So ganz schien diese Frau das Leben doch nicht im Griff zu haben, wenn sie einen wie ihn, der seine Zeit und das Leben überhaupt tausend Mal hin und her gewendet hatte, wie einen Siebzehnjährigen ansprach. Er hob zum Zeichen, dass er verstanden hatte, die Hand Richtung Käsetheke, ohne sich umzudrehen. Die Frau mit den Einweghandschuhen sollte nicht noch einmal rufen. Er würde schon kommen, jedoch nicht auf der Stelle.

      Inzwischen war die Frau, die soeben einiges in ihm durcheinander gebracht hatte, zwischen den Regalen verschwunden. Diese Tatsache brachte ihm nicht gerade Ausgeglichenheit. Er machte kehrt, schnappte sich den Gouda, der in weißem Papier griffbereit auf der Glasfläche lag, warf der Verkäuferin ein verlegenes Lächeln und ein schnelles »Danke!« zu, schenkte der Mutter und ihrer kleinen Akrobatin im Vorbeieilen ein charmantes Gesicht und machte sich zielstrebig mit seinem Wagen davon.

      Till schob bis zur nächsten Kreuzung, blieb stehen, schaute links und rechts und entschied sich für rechts. Beim Halt an der nächsten Kreuzung das Gleiche. Wieder bog er rechts ab, schob noch schneller durch den langen Gang, bugsierte an Männern und Frauen vorbei, die in den Weiten dieses Warenwaldes offensichtlich nicht auf ra­sante Fahrer gefasst waren. Manche standen plaudernd da, als befänden sie sich mitten im Wald und packten gleich ihr Picknick aus. Eine dickliche Frau, die ihn kommen sah, riss ihren mitten im Weg dümpelnden Einkaufswagen an ihren Leib. Als er im Vorbei­ziehen ein Wort des Dankes fallen ließ, sah sie ihn begeistert an wie einen Marathonmann, der noch die Kraft aufbrachte, sie trotz aller Erschöpfung in der Zielgeraden zu grüßen. Von solchen Frauen ging etwas Rührendes aus, etwas, das ihn auch durchaus erwischte. Aber nur wie ein kitzelnder Streifschuss.

      Im nächsten Augenblick machte er eine Entdeckung, die in seinem inneren Maschinenraum alles auf Stopp stellte: Sarah war endlich wieder aufgetaucht und schlenderte suchend an den Regalen entlang.

      Für Till hatte dieser Moment aber etwas Unwirkliches. Jetzt, wo er sie klar vor Augen hatte, bekam er Zweifel. Er fragte sich, ob es wirklich sein konnte, dass er sie mit nur einer einzigen Suchaktion gefunden hatte. Und noch ein anderer Gedanke fing an, in ihm zu wabern: Er hatte sie doch nur ein paar Sekunden lang hinter dem Lamberti-Palais gesehen. Reichte solch eine Minisequenz, um einen Menschen Tage später zwischen anderen klar identifizieren zu können?

      Er war sich so gut wie sicher, dass diese Frau Sarah war, obwohl sie nun nicht im festlichen Kleid vor ihm aufkreuzte und obwohl sie ihr dunkles Haar in diesem Supermarkt ganz anders trug. Jetzt hatte sie es zusammengebunden, und auch das schwarze Shirt, das nun weit ihren Oberkörper umspielte, hinterließ eine andere Atmosphäre als das Bild, das er in Erinnerung hatte. Hingegen das Rot einer scharfen Chili-Schote, das sich als Jeans um ihren Po und ihre Beine schmiegte, das schien eindeutig ein Merkmal der Frau zu sein, die er hinterm Hotel in Aurich viel zu schnell aus den Augen verloren hatte.

      Till hatte es jedenfalls überhaupt nicht mehr eilig. Er schob seinen Wagen in ihre Richtung, musste auf dem Weg dorthin noch einiges in seinem Kopf klären.

      Was ihm jetzt, während er dieser Frau mit jedem Schritt näher kam, am meisten zu schaffen machte, war seine eigene Rolle. Er dachte an das, was er hier veranstaltete, und hielt sein Verhalten nicht gerade für erwachsen. Till kam sich geradezu pubertär vor. Er entlarvte sich als einen, der kopflos Stunden seines Arbeitstages investierte, um eine Frau aufzuspüren, die er nicht kannte und die bei näherem Hinsehen zur Enttäuschung mutieren konnte. Und schlimmer noch: Er musste daran denken, wie Hunde sich gebärdeten, männliche, wenn sie den Duft einer läufigen Hündin in der Nase hatten: Nichts konnte sie aufhalten, sie liefen zielstrebig der Nase nach. Ohne Gehirn. Auch über jede Schnellstraße.

      Nein, dieses Bild passte nicht, dachte er, nicht zu ihm, und schob es mit dem Einkaufswagen aus seinem Gedankenweg. Im Grunde hatte er doch gar keine Ahnung, wie er die Frau, die mittlerweile direkt neben ihm immer nach weiß Gott was suchte, einschätzen sollte. Wenn ihre Stimme die richtige wäre, das wusste er, könnte sie der Himmel sein, der in Eichendorffs Gedicht die Erde küsste.

      Ohne es geplant zu haben, verhielt Till sich nun ganz automatisch wie sie: Er suchte. Was, das wusste er noch nicht. Aber sein Hin-und-her-Geschlendere sollte sie wissen lassen, dass sie beide etwas gemein­sam hatten. Wenn zwei unter Vielen ihre Gemeinsamkeit entdeckten, konnte sie das zusammenbringen. Zumindest wäre das ein Grund, etwas zueinander zu sagen.

      Er blickte ratlos auf zahllose Deoflaschen, Aftershaves und Zahncremes, die sich akkurat wie Soldaten bei einer Militärparade präsentierten. So, als könnte er mittlerweile nicht mehr daran glauben, auf eigene Faust fündig zu werden, schaute er kurz zu ihr hinüber. Sie ließ sich jedoch nicht stören, konzentrierte sich auf ihre eigenen Besorgungen. Dann hörte er, wie sie etwas sagte. So, als würde