Till Türmer und die Angst vor dem Tod. Andreas Klaene

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Название Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор произведения Andreas Klaene
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738062090



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das ja so eine Sache.«

      »Was für eine Sache?«

      »So manche Ehrlichkeit wirkt halt hochexplosiv. Das kennen Sie doch auch.«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Na ja, wenn man jemanden vernichten will, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, reicht es manchmal schon, einfach mal eine Wahrheit auszuplaudern.«

      »Was soll das? Wenn ich Sie recht verstanden habe, wollen Sie Ihre Frau nicht vernichten sondern zurückgewinnen.«

      »Ist schon richtig, Herr Türmer.«

      »Okay, dann plaudern Sie jetzt doch einfach mal Klartext, und ich werde sehen, ob ich Ihnen tatsächlich helfen kann.«

      »Ich bin mir sicher, dass Sie das können. Aber für den Klartext lassen Sie mir bitte noch ein paar Tage Zeit. Dann weiß ich mehr.«

      »Ist mir recht«, sagte Till, und indem er das aussprach, merkte er, dass er es überhaupt nicht bedauern würde, nie wieder von diesem Mann zu hören.

      Der Brief

      Till schrieb im Laufe von Jahren viele Briefe in geheimer Mission. Auch für Menschen, die er nicht mochte. Sympathie war für ihn bei diesen Aktionen nicht elementar. Aber eine andere Voraussetzung brauchte er. Zumindest dann, wenn es darum ging, eine Beziehung zu retten: Er wollte bei seinem Auftraggeber die Bereitschaft erkennen, auch das eigene Verhalten kritisch zu betrachten. Schnell erkannte er, ob solche Offenheit vorhanden war. Wenn er feststellte, dass es daran mangelte, blockte er ab. Er hatte keine Lust, der Selbstherrlichkeit eines Kunden mit einem ausgefeilten Brief noch Format zu geben. Denn ursprünglich war es nicht von ihm geplant, solche Briefe zu schreiben und daran auch noch zu verdienen. Sein Geld kam recht gut durch Werbetexte herein. Außerdem schrieb er Biografien. Die meisten für Menschen, die es hoch hinaus geschafft hatten und für Unternehmer, die sich einen Aufstieg ausrechneten, indem sie Kunden und Geschäftspartnern einen Lesestoff gaben, der sie neugierig machte. Denn wenn Till über sie schrieb, ging es nicht um ihre Produkte und Leistungen. Er präsentierte den Menschen, der hinter dem Unternehmen stand, seine Persönlichkeit mit allen Ecken, Sorgenfalten und Durchhaltekanten.

      Zu seinem ersten Brief ganz spezieller Art hatte er sich von einem Freund hinreißen lassen. Dessen Ehe war kontinuierlich einem Abgrund entgegengerutscht.

      »Wir können überhaupt nicht mehr miteinander reden«, hatte Hannes manchmal zu Till gesagt, bevor seine Frau mit beiden Kindern ausgezogen war. Der Mann sah keine Möglichkeit mehr, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Mehrfach hatte er versucht, ihr seine Gedanken zu schreiben, doch in seiner Verzweiflung brachte er nichts als unglaubwürdige Entschuldigungen und schwer zu schluckende Vorwürfe zu Papier. Hannes schickte keinen seiner Briefe ab, aber den letzten Versuch legte er Till auf den Tisch. Der sagte: »Darf ich dir mal ein paar Fragen stellen?«

      Hannes war offen für alles. Aus ein paar Fragen wurde ein ganzer Fragenkatalog. Auf diese Weise brachte Till seinen Freund auf Gedanken, die er sich zuvor kaum oder gar nicht gemacht hatte. Es ging um Träume und Ziele, die Hannes lange vor seiner Ehe hatte, um das, was er an Ines einst geliebt und das, was sie an ihm besonders verehrt hatte, als die Zukunft noch vor ihnen lag. Till wollte auch wissen, wie Ines großgeworden war, welche Erfolge es in ihrer Geschichte gegeben hatte, und in welche Fallgruben sie geraten war. Hannes hingegen wollte Tills Rat, doch den bekam er nicht. Der stellte nur Fragen. Bis spät in die Nacht.

      Hannes hatte kein Problem damit, offen zu antworten, so sehr ihm die Fragen auch unter die Haut gingen. Was ihn aufwühlte, waren seine eigenen Antworten. Er war zwar keiner, der nah am Wasser gebaut hatte, aber an diesem Abend blickte er mit Tränen in den Augen auf Ines und auf sich selbst. Am Ende hatte Till viel über seinen Freund und auch über Ines erfahren, und auch so manches, was nie zuvor irgendwo ausgesprochen worden war. Hannes hatte das Gefühl, mit all dem, was er sich nun selbst klar vor Augen gerückt hatte, noch einmal ganz neu mit seiner Frau durchstarten zu können. Er glaubte, genau zu wissen, was künftig anders gemacht werden musste, aber er hatte keine Ahnung, wie er Ines dazu bewegen sollte, ihn anzuhören. Auch jetzt würde er es nicht schaffen, all seine Gedanken auf gute Weise zu Papier zu bringen.

      »Sag mal, Till, würdest du das für mich machen?«, fragte er wie einer, der darum bat, für ihn eine Karre Futter ins Löwengehege zu schieben.

      Im ersten Moment hielt Till das Vorhaben seines Freundes für absurd. Er malte sich aus, wie es ihm vorkommen würde, wenn er am Ende eines langen Briefes »Dein Hannes« schreiben würde. Seine Skrupel wurden aber innerhalb von 24 Stunden von der Hoffnung auf einen Erfolg besiegt. So kam es, dass er seinen ersten Brief in geheimer Mission schrieb und erreichte, dass Ines mit ihren Kindern wieder nach Hause kam. Was darüber hinaus geschah, hätte er selbst nicht für möglich gehalten.

      Till sprach Hannes nie wieder auf ihre gemeinsame Aktion an, und auch Hannes verlor lange Zeit kein Wort darüber. Erst etwa zwei Jahre später, bei einem zufälligen Treffen im Hafen von Greetsiel, hatte Hannes etwas zu berichten. Es war in einem Moment, als Ines mit den Kindern zu einer Eisdiele schlenderte.

      Hannes nahm seinen Freund zur Seite. Sie lehnten sich an die Hafenmauer und blickten auf die vielen bunten Fischkutter, die vor ihnen im Wasser dümpelten, und Till spürte deutlich, wie ihm diesmal etwas unter die Haut ging. Und zwar als Hannes sagte: »Du glaubst gar nicht, wie oft ich mir deinen Brief hervorhole, die Kopie davon, und ihn lese.«

      »Du meinst deinen Brief«, sagte Till, ohne seinen Blick von den Kuttern zu lassen.

      »Lass man! – Ich lese ihn. Der bringt mich immer wieder in Spur. Und ich will dir sagen, dass es bei uns so gut läuft wie nie zuvor.«

      Die Gespräche zwischen Till und seinen geheimnisvollen Brief­kunden fanden so gut wie ausnahmslos per Telefon statt. Er ließ nicht irgendwelche Leute, die ihn im Internet oder auf kaum nachvollziehbaren Wegen aufgestöbert hatten, in sein Allerheiligstes. So hätte er seine Wohnung mit den hohen Decken und dem alten Parkett nie bezeichnet, aber so empfand er sie, sobald jemand dort aufkreuzte, der dort nicht hingehörte. Sie lag im Herzen Aurichs, da, wo vor Jahrhunderten die Cirksenas herrschten. Sie waren die Fürsten, die man in diesem Küstenlandstrich Häuptlinge nannte. Ihr Geist und herber Charme schienen in dieser Stadt nie gestorben zu sein. In Aurichs alten Gemäuern lebten sie, und im zehneckigen Mauso­leum auf dem städtischen Friedhof wohnte, was von der Herrscherfamilie greifbar übriggeblieben war. Dort lagen unterm Gewölbe in prachtvollen Särgen ihre Gebeine.

      Till fühlte sich mit der ostfriesischen Geschichte zwar verbunden wie das Deichschaf mit der Herde, dennoch blieb er dem Ort der letzten Ruhe fern. Auf Friedhöfen herrschte eine Stille, in der die Predigten der Grabsteine nicht zu überhören waren. Zu Hunderten erzählten sie ihm von seiner eigenen Endlichkeit. Was er brauchte, war die Ablenkung vom Tod. Bei seinen Briefkunden fand er sie. Indem er ihnen zuhörte, sich in sie und ihre Katastrophen hineindachte, bekam er den spürbaren Beleg für seine eigene Funktionstüchtigkeit. Er lebte, konnte helfen, wo scheinbar nichts mehr zu machen war, und erntete dafür so lauten Dank, dass er fürs Ticken der eigenen Uhr kein Ohr mehr hatte.

      Seine vielen und langen Telefonate dienten nicht nur dem Schutz seines privaten Bereiches. Bei einer direkten Begegnung fiel es den meisten Kunden schwer, in Offenheit alle relevanten Intimitäten auszubreiten. Der Blickkontakt und das Gefühl, von Till unter die Lupe genommen zu werden, hemmte. Am Telefon taten sich die meisten leichter. Dort bekam er zwar nichts von ihrer Mimik und Gestik mit, aber das war kein Beinbruch. Er hatte es gelernt, aufmerksam zuzuhören. So aufmerksam, dass es ihm häufig gelang, Wesentliches zwischen den gesprochenen Zeilen zu entdecken. Wenn seine Gesprächspartner das merkten, fühlten sie sich nicht entlarvt. Im Gegenteil, es tat ihnen gut. Denn ihnen wurde klar, dass ihr Fragesteller ihnen so interessiert und hellwach zuhörte, wie sie es kaum woanders erlebt hatten.

      In einem weiteren Telefonat mit Marco Grossanter bekam Till zwar einiges von diesem Mann zu hören, allerdings wenig von brauchbarer Substanz. Egal, ob er ihn nach seinem Werdegang fragte oder ob er lediglich wissen wollte, wann er geheiratet hatte, Grossanter wich aus. Dies allerdings äußerst professionell, indem er wortreiche Selbst­darstellungen