Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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ihm in einer Tüte mit nach Hause.

      Als wir noch eine Arztpraxis im Ort hatten, ließen fast alle Dorfbewohner/innen ihre Wehwehchen dort behandeln.

      Ich war als Kind selten krank. Meine Mutter führte das darauf zurück, dass sie mir regelmäßig Lebertran verabreichte. Der half zwar offiziell nur gegen Rachitis, aber für meine Mutter war Lebertran ein Wundermittel, das allen möglichen und unmöglichen Krankheiten vorbeugte.

      Mit etwa zwölf Jahren bin ich mal mit meiner vier Jahre älteren Schwester zu unserer Ärztin gegangen. Ich wunderte mich kurz, warum Rieke meine Begleitung wünschte, aber sie sagte, allein fände sie es langweilig. Als sie dann aber unserer Mutter mitteilte, dass wir zum Reiten gehen wollten, schnallte ich, dass ich mitspielen sollte. Immer noch liebte ich Geheimnisse. Besonders ausgebufft mussten wir beim Lügen in unserer Familie nicht sein. Unsere Eltern hatten ohnehin fast nie Zeit und Ruhe, um genau hinzuhören.

      Rieke sagte mir klipp und klar, dass ich nicht verraten durfte, dass wir zur Ärztin wollten. Falls es doch herauskommen sollte, sollte ich sagen, dass sie beim Reiten einen Tritt vom Pferd gekriegt hätte und sie das untersuchen lassen wollte.Einerseits war ich stolz darauf, von meiner großen Schwester in einen geheimnisvollen Schlachtplan eingeweiht zu werden. Andererseits hasste ich es, wenn Rieke mich benutzte und mit mir umging, als sei ich nicht ganz dicht.

      Ich saß mindestens eine Dreiviertelstunde im Wartezimmer, während Rieke im Sprechzimmer unserer Hausärztin war. Alle Leserkreis Daheim-Hefte hatte ich durchgeblättert. Die Berichte über Stars und Sternchen interessierten mich nicht sonderlich.

      Endlich kam meine Schwester wieder. Ich knallte ein Magazin auf das Tischchen neben mir und sprang auf.

      „Wieso hat das denn so wahnsinnig lange gedauert? Und was hast du überhaupt?“, fragte ich genervt und neugierig zugleich vor versammelter Mannschaft. Mindestens sieben Bekannte aus Olde und Umgebung saßen im Raum und guckten uns neugierig an.

      Rieke errötete leicht und presste einen Zeigefinger auf ihre Lippen. „Top secret“, raunte sie mir zu und guckte schnell in eine Zeitschrift. „Wir müssen noch eben auf das Rezept warten“, nuschelte sie in die Frau im Spiegel. Vor lauter Nervosität hielt sie das Heft falsch herum. Kaum hatte Rieke das ausgesprochen, kam auch schon eine Arzthelferin mit einem kleinen Zettel wedelnd ins Wartezimmer gestürmt. „Fräulein Brockmeyer, hier ist noch das Rezept für die Pille!“, flötete die Frau, die weiße Kleidung und Gesundheitslatschen trug.

      Rieke hielt sich erst beschämt die Zeitschrift vor das Gesicht, packte mich am Arm, riss der Helferin das Rezept aus der Hand und rannte dann mit mir im Schlepptau raus.

      Neugierig fragte ich meine Schwester auf dem Parkplatz vor der Praxis, warum sie so hektisch reagiert hatte.

      “Man, das sollten Mama und Papa doch nicht erfahren! Ich war so froh, dass die Ärztin mir das ohne große Probleme aufgeschrieben hat und nun weiß es doch schon heute Abend wieder das halbe Dorf!“, zischte Rieke erbost.

      Meine Schwester tat mir in ihrer Wut und Verzweiflung aufrichtig leid. Natürlich würde es heute Abend das ganze Dorf wissen.

      Ich ahnte in etwa, was es mit der Anti-Baby-Pille auf sich hatte. Aus der Bravo war ich einigermaßen aufgeklärt. Von Rieke bekam ich immer ihre aussortierten Ausgaben. Ich gab sie dann etwa eine Woche später an Matzi weiter.

      Doch hatte ich keine Ahnung, dass man sich die Pille beim Arzt verschreiben lassen musste und fragte mich dort auf dem Parkplatz auch, was unsere Eltern und die Dorfbewohner/innen eigentlich gegen Verhütung haben sollten.

      Als wir mit unseren Rädern schon ein Stück gefahren waren, wollte ich Rieke etwas von ihrer Wut ablenken und fragte: „Fandst du doch sicher blöd, dass die Arzthelferin dich Fräulein genannt hat, oder Rieke?“

      Sie schnaufte nur genervt und rief: „Ela, das ist so was von unwichtig gerade!“

      Ich schaute sie an. „Sag mal, hast du etwa Tränen in den Augen?“ Rieke trat kräftiger in die Pedalen und raste so schnell, dass ich kaum hinterherkam.

      Erst Monate später schnallte ich, dass meine große Schwester einen festen Freund hatte, bei dem sie nach Feten auch schon übernachtet hatte. Meine Mutter glaubte, dass sie bei ihrer Freundin Christine schlief. Ich konnte es nicht begreifen, dass sich jemand in meine Schwester verguckt hatte. Zu mir war sie nicht nur einmal im Monat extrem schroff und fies.

      Rieke trug damals die Haare wie Chris Norman. Und das war meiner Meinung nach auch schon das Weiblichste an ihr. Ständig ertönte Livin´ next door to Alice in ihrem Zimmer und oft genug hörten wir es im ganzen Haus. Riekes Freundinnen sollten sie „Alice“ nennen.

      Als Chris Norman dann aber immer häufiger mit Suzi Quatro auftrat und sich eine Dauerwelle machen ließ, ließ die Leidenschaft für den Frontmann von Smokie bei meiner Schwester allmählich nach. Chris Norman wurde von der Wand abgenommen und durch einen Rod Stewart- Starschnitt ersetzt.

      Nach Jahren erzählte mir meine Mutter auf einem Sonntagsspaziergang, dass Anettes Schwester auch im Wartezimmer gesessen hatte, als die Sprechstundenhilfe Rieke das Rezept für die Pille so völlig ohne Diskretion überreicht hatte. Dorothea hatte meiner Mutter davon am nächsten Morgen brühwarm berichtet. Unsere Mutter hat sich jedoch nie in Riekes Verhütungsmethoden eingemischt und auch ihre Liebschaften nicht weiter kommentiert. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.

      ***

       „Ach ja, Tante Gertrud... das war die Cousine von Oma. Hab ich nie verstanden, warum sie Hexe genannt wurde.“ TT schüttelt verständnislos den Kopf.

      „Echt? Omas Cousine? Wusste ich gar nicht. Warum haben denn Oma, Mama und Papa immer so schlecht über sie geredet?“, frage ich erstaunt.

      „Keine Ahnung. Dein Vater zeigte ja schon immer ohne Umschweife, wenn er jemanden nicht mochte. Zu mir war Hanno erst auch immer so reserviert. Ich hatte ja öfter mal Dekotipps oder so für Vera, und da hat er immer dazwischengefunkt. Wollte einfach nie Hilfe oder Ratschläge annehmen und ist auch deiner Mutter immer über den Mund gefahren. Jaja, dein Vater war schon früher ein Kauz.“

       Tante Tilda lacht kurz auf.

      „Onkel Wolfgang hat ihn früher auch mal Klapskalli genannt“, erinnere ich mich.

       Meinen Vater halten viele für ziemlich verschroben und ich glaube, dass er darauf ein bisschen stolz ist.

      „Sag mal, warst du gar nicht in Sorge um Matzi bei dem schweren Gewitter damals?“, will ich wissen. TT starrt nachdenklich zur Zimmerdecke.

      „Klar, war ich etwas in Sorge um ihn. Er hatte ja auch öfter Fahrradunfälle und war nicht besonders sicher im Schwimmen. Aber ich wusste ja, dass er bei dir gut aufgehoben war. Außerdem hatte ich gar nicht so viel Zeit mir ständig Gedanken um ihn zu machen, ich hatte echt viel mit meinem Laden zu tun.“ Ich grinse.

       Meine Tante vergisst immer, dass ich fast zwei Jahre jünger bin als ihr Sohn. Wie hätte ich als Neunjährige auf ihn aufpassen sollen?

      „Übrigens, Ela, Vera und ich haben herausgefunden, dass ihr an dem Nachmittag bei der Hexe gewesen seid.“ Meine Tante tätschelt meinen Arm.

      „Im Ernst?“ Ich gucke sie überrascht an.

      „Ja, Gunnar hat euch bei der Hexe, also bei Gertrud, vom Hof fahren sehen. Er hat euch bei Vera verpetzt. Außerdem haben wir natürlich mitbekommen, dass ihr gar nicht eure Sachen anhattet.“

      „Und dann hat Mama mich gar nicht zur Rede gestellt?“, wundere ich mich. TT zuckt mit den Schultern.

      „Unsere Vera hatte mehr verständnisvolle Momente als man denkt.“ Sie zwinkert mir zu. „Bei der Geschichte mit der Pille hat sie Rieke ja auch keine Vorhaltungen gemacht.“

       Wir nicken beide und lächeln vor uns hin.

      Aachen