Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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an Freundschaften aus meiner Jugendzeit zurück. Es wächst in mir der Wunsch, auch meine alte Brieffreundin Simone mal wieder zu besuchen oder wenigstens mal mit ihr zu chatten.

      Ich habe sie neulich mal gegoogelt. Bei Xing fand ich eine Simone Reuser, Projektmanagerin in Berlin. Die Frau auf dem Foto bei Xing ist dunkelhaarig. Ich weiß nicht, ob das meine frühere Brieffreundin ist.

      Mone war früher rothaarig und auch fülliger als die abgebildete Projektmanagerin.

      Es war die intensivste Brieffreundschaft, die ich jemals hatte. Kaum ein Tag verging, an dem ich ihr nicht geschrieben habe. Mein ganzes Taschengeld ging für Briefporto drauf.

      Ständig radelte ich zu Inge Meineken, die bis vor zehn Jahren eine kleine Poststelle in Olde hatte. Über Tante Inge- die nicht meine richtige Tante war, die wir Dorfkinder aber alle so angeredet haben- wurde in Olde gesagt: „Se is nich neischierich, aver se möcht doch geern allens weeten“!

      Sie verwickelte mich geschickt in eine Plauderei und erzählte mir von ihren Kindern oder von irgendwelchen Vorkommnissen im Ort. Tante Inge schaffte es immer, etwas aus mir herauszubekommen. Ich machte Bemerkungen zu ihren Äußerungen und beantwortete so ganz unbewusst höchst persönliche Fragen.

      „Jens hat echt Stress in der Schule. Die Lehrer auf der Realschule sind ja teilweise echt schlecht. Er sagt, dass es auf dem Gymnasium wohl freundlicher zugeht und ihr mehr lernt!“, erzählte mir Tante Inge einmal fast beiläufig, während sie eine Briefmarke abstempelte.

      „Ja, äh, weiß nicht… aber meine Mutter sagt immer, dass man auf der Realschule viel mehr praktische Sachen beigebracht bekommt ...und dass wir Gymnasiasten nur so abgehobenes Zeug lernen und nicht mal den Dreisatz beherrschen. Äh, und deshalb können wir auch nicht ausrechnen, welche Mengen wir brauchen, wenn die Zutaten im Rezept für sechs Personen angegeben sind, wir aber nur für vier Leute kochen. Also sagt Mama“, stotterte ich.

      Damit hatte ich was über meine Mutter verraten und über mich und über den Unterrichtsstoff meiner Schule. Inge Meineken lehnte sich zufrieden zurück und grinste. Wieder hatte sie Gesprächsstoff für mehrere andere Kunden.

      Inge Meineken lebte, wie viele Frauen in Olde, nach dem Motto Was ich weiß, macht auch andere heiß.

      In meinen Briefen nannte ich Simone nur „Mone“. Sie wohnte damals mit ihren Eltern in Hückelhoven, eine kleine Stadt zwischen Mönchengladbach und Aachen. In den Ferien haben wir uns ein paar Mal gegenseitig besucht.

      Meine erste Tour zu Mone nach NRW war 1983 in den Osterferien. Ich war sehr aufgeregt.

      Immerhin fuhr ich das erste Mal ganz allein mit dem Zug. Ich wusste mit dreizehn immer noch nicht, wo genau in unserer Kreisstadt der Bahnhof war. Meine Eltern fuhren mit uns Kindern nie Zug. Urlaub war ein Fremdwort in meiner Familie. Zu Verwandtschaftsbesuchen oder Wochenendausflügen in den Harz oder an die Nordsee nahmen wir immer das Auto. Zum Glück gab es eine direkte Verbindung von Hamburg nach Mönchengladbach, so dass ich nicht umsteigen musste.

      Mones Mutter war eine gutmütige Frau, die ihren beiden Töchtern vieles ermöglichte. Sie holte mich zusammen mit meiner Brieffreundin in Gladbach vom Bahnhof ab und erzählte in ihrem niederrheinischen Singsang alles Mögliche über die Gegend und die Zeche, in der ihr Mann arbeitete.

      Frau Reuser kaufte beim Bäcker Kuchen für uns und wir kochten uns in Mones Zimmer mit ihrem eigenen Wasserkocher Tee. Mone besaß genau wie ich kleine Tee-Blechdosen für lose Teeblätter. In jedem Geschenke-Laden in Harburg oder in der Kreisstadt gab es diese Döschen, die mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt waren.

      Mone war ein eingefleischter Borussia-Fan. Die Fohlen-Elf hatte es ihr seit Kindertagen angetan.

      Meine Brieffreundin fuhr sogar zu Auswärtsspielen.

      Damit stieg sie in die Fußstapfen ihres Vaters, der Tag und Nacht seinen grün-weißen Fan-Hut trug. Dementsprechend zerknittert und speckig sah der Hut aus.

      Mones absoluter Topstar war der Abwehrspieler Michael Frontzeck. Seinen Namen hatte sie sich sogar mit Kugelschreiber auf den Arm „tätowiert“. Nach jeder Dusche wurde der Namenszug nachgeschrieben.

      Mone akzeptierte meine Begeisterung für die Geißböcke und schickte mir sogar zum Geburtstag und zu Weihnachten Pakete mit rot-weißer Zahnpasta und FC Köln-Wimpeln. Wenn unsere Mannschaften gegeneinander kickten, herrschte allerdings eine Woche Funkstille zwischen uns.

      Es war das erste Mal, dass ich Ostern nicht in Olde verbrachte, aber Heimweh hatte ich kaum. Die ganze Familie Reuser wirkte großzügig, herzlich und offen. Auch zum Osterfeuer am Ortsrand gingen wir mit den Eltern, der Oma und zwei Freundinnen von Mone. Es lief fast genauso ab wie bei uns in Olde. Auch hier gab es Getränke- und Bratwurstbuden, Musik aus Lautsprecherboxen, Geplauder und viele freiwillige Feuerwehrleute, die ihren Durst löschten.

      Am Ostermontag marschierten Mone und ich schon um halb elf mit ihrem Vater zum Fußballplatz des FC Borussia Hückelhoven. Dort sollte ein Pokalspiel stattfinden.

      Herr Reuser hatte ein Vereinstrikot über sein Hemd und seinen dicken Bierbauch gezogen. Mone trug einen Gladbach-Schal. Ich zeigte meine Vereinszugehörigkeit nicht.

      Bevor das Spiel losging, spendierte uns Mones Vater an einer Bude neben dem Sportplatz Pommes mit Mayo.

      Schon um halb neun waren wir aufgestanden. Ich hatte beim Frühstück nicht viel ´runterbekommen, denn die Stimmung in der Familie war angespannt.

      So etwas schlug mir immer auf den Magen.

      Frau Reuser war sehr wütend auf ihren Mann gewesen, denn sie war der Meinung, dass man an Ostern für die Kirche und die Familie da sein sollte.

      „Mutti, ich gönne dir deinen Jesus, gönne du mir meine 90 Minuten am Spielfeldrand. Und die Mädchen nehme ich ja mit. Wie du siehst, kümmere ich mich um die Familie!“, hatte Herr Reuser klar gemacht und dabei kräftig geschnaubt.

      Mone hatte gegrinst und den rechten Daumen hochgehalten. Ihre Mutter hatte weiter geschimpft und erst ihrem Mann Sturheit und dann ihrer Tochter mangelndes Einfühlungsvermögen vorgeworfen. Herr Reuser hatte energisch mit der flachen Hand auf den Esstisch gehauen und gedröhnt: „Ende der Diskussion!“

      Dann hatte er das Radio lauter gemacht und Howard Carpendale hatte die motzende Frau Reuser übertönt.

      Wie Mones Vater so selbstgefällig in Unterhemd und Hosenträgern am Frühstückstisch hockte, erinnerte er mich stark an jemanden aus einer Fernsehserie. Ich kam allerdings nicht drauf, an wen.

      Auf dem Sportplatz standen wir zu dritt neben der Trainerbank auf dem Kreidestrich, den der Platzwart extra am Morgen neu nachgezogen hatte. Mones Vater fachsimpelte mit einem Mann, auf dessen Jacke Co-Trainer stand, über die Aufstellung. Er gestikulierte so kräftig mit den Händen, dass ihm ein Großteil der Mayonnaise aus der Pommes-Schachtel auf sein Trikot tropfte. Beim Versuch das fettige Zeug von seinem Bauch zu wischen, verteilte er es großräumig auf dem Logo des Werbepartners. Dann leckte er sich die Finger ab.

      „Addi, das kannste nich machen, den Erwin musste spielen lassen. Der flippt sonst aus! Der saß doch schon letzte Woche auffer Bank“, schrie Herr Reuser den Co-Trainer an.

      Der schmächtige Mann mit Locken und zerfurchtem Gesicht zuckte nur mit den Schultern. „Ich mach die Aufstellung nicht, Günter. Und du weißt genau, dass Kalle sich da nicht reinreden lässt. Der wird schon seine Gründe haben.“

      Mones Vater schlug sich mit der Hand gegen seine Stirn und schüttelte energisch den Kopf. „Ihr wollt es nicht kapieren, oder? Der Erwin ist tausendmal schneller und fitter als der Bodo, der olle Knallkopp!“, regte er sich weiter auf.

      Der Schiedsrichter kam angelaufen, pfiff auf seiner Trillerpfeife und ermahnte uns, gefälligst hinter die metallene Barrierestange zu gehen. Herr Reuser gehorchte widerwillig und wir dackelten ihm hinterher.

      „Mein Vater hat einen Heidenrespekt vor dem doofen Schiri“, flüsterte Mone mir zu.

      „Aha“, entfuhr es mir. Ich fragte mich, wieso Mones Vater bei