Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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zu meiner Fahrt zum Bäckerladen, in dem gar kein Bäcker mehr arbeitet. Sondern zwei Damen um die achtzig, die ohne Arbeit nicht leben wollen.

      Gören aus dem Dorf riefen früher „Edeka gleich Ende der Karriere!“.

      Doch für die beiden Frauen ist das Ende ihrer Karriere noch lange nicht in Sicht. In den späten 90ern hat mal jemand aus der Stadt einen Aufkleber auf dem Mülleimer vor dem Laden hinterlassen, auf dem zu lesen war Wir wollen nicht nur die Hälfte vom Kuchen, wir wollen die Hälfte der Bäckerei! Man munkelte in Olde, dass das bestimmt eine Feministin war.

      Die eine Dame ist Hildegard und die besitzt den ganzen Laden. Die andere Dame ist Waltraud und ihre Angestellte und damit zufrieden. Hildegard hat in ihrem kleinen Frischemarkt alles, was man so braucht und auch ein paar Dinge, von denen man sich fragt, ob sie jemals irgendwer brauchen könnte.

      Über der Eingangstür, die jedes Mal beim Öffnen laut bimmelt, klebt seit Jahrzehnten eine Jägermeister-Werbung mit einem riesigen Hirschkopf samt Kreuz und Geweih. Der kleine Edeka ist Meeting- Point und Tante Emma-Laden zugleich. Hier werden Geschichten, Kochtipps und Vorurteile ausgetauscht. Feststellungen zum Wetter und zu Beziehungen werden mit auf den Weg gegeben und gute Wünsche für die Feiertage.

      An diesem Sonnabend möchte ich vier Brötchen. Die Back- und Wurstwaren darf man sich nicht selber nehmen, die werden einem von den beiden Damen eingepackt. Ich ordere also meine Bestellung.

      „Heute wieder nur vier?“, wundert sich Hildegard.

      „Ja, Hildegard, danke“, entgegne ich knapp. Damit gibt sie sich natürlich nicht zufrieden.

      „Ihr seid wohl wieder nur zu zweit?“-

      „Ja.“ Für Hildegards Geschmack viel zu wenig Information.

      „Ja, so ist das“, seufzt sie, „wenn die Kinder aus dem Haus sind.“ Sie schaut mich auffordernd an.

      Ich finde es auch erstaunlich, nur vier statt zehn Brötchen zu kaufen. Mein Sohn ist zum Studieren weggegangen und nun ist auch meine Tochter ausgezogen. Ich lächle und lasse so früh am Morgen lieber andere schnacken. Mensch, die sind alle schon so fit, denke ich. Ich gähne. Hinter mir in der Brötchenschlange ertönt plötzlich ein Stimmengewirr.

      Es werden mal wieder weltbewegende Themen gewälzt.

      „Und, wie is?“, fragt unser Nachbar Manni.

      „Muss ja…“, antwortet Gunnar.

      „Moin, Jan, auch hier?“, fragt Manni und dreht sich kurz zu Jan um.

      „Is ja heute nicht so kalt…“, lässt Anette verlauten. Anette ist unsere Ortsvorsteherin und zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins.

      „Nee, aber heute Nacht waren null Grad“, weiß Jutta zu berichten.

      „Ich nehme heute nur Weltmeister“, sagt Gunnar schnell, als er merkt, dass er dran ist. Hildegard weiß, dass er sieben Stück haben will.

      „Frau Meyer im Elbuferweg in Grabsen hat ja echt wieder Pech. Nun sind da ja Ausländer eingezogen in ihren Wohnblock“, erzählt Manni nun mit ernstem Tonfall.

      „Ja, das könnte da echt Probleme geben“, bestätigt Ortsbrandmeister Piet Petersen, der gerade erst reingekommen ist und eigentlich gar nicht wissen kann, worum es geht. Piet ist auch einer, der behauptet, dass man als Auswärtiger erst wirklich zur Dorfgemeinschaft gehört, wenn man schon dreißig Jahre auf dem ortsansässigen Friedhof gelegen hat.

      Hilfe, denke ich, muss das denn schon vor dem Frühstück wieder mit den ganz harten Themen losgehen? Schlagartig meldet sich meine Migräne wieder. Sie ist wie eine allergische Reaktion auf Stammtisch-Parolen.

      Auf meinem Weg zur Kasse frage ich halblaut: „Gibt es überhaupt Orte ohne Probleme?“ Doch niemand hört mir zu. Ich würde am liebsten fragen, wer von dieser „Sonnabend-Früh-Einkaufs-Community“ einen sogenannten „Ausländer“ persönlich kennt, oder eine „Ausländerin“. Mir fällt zu diesen Themen wirklich viel ein. Doch bin ich einfach noch zu müde für solche Diskussionen. Es sind ja auch eigentlich gar keine Diskussionen, sondern hohles Gewäsch. Auch unser Dorf steckt voller Probleme, denke ich automatisch. Völlig normal, wenn unterschiedliche Menschen zusammenleben.

      Erst letzte Woche habe ich wieder behauptet, dass in jedem vierten Haus in Olde mindestens ein Alkoholiker lebt. Oder eine Alkoholikerin. Meine Freundin Johanna und ich haben vor zwei Monaten eine „ortsbezogene Volkszählung“ gemacht und haben Strichlisten für derartige Phänomene wie Alkoholsucht in unserem Dorf angefertigt. Dabei ist herausgekommen, dass etwa 27% der Einwohner/innen Probleme mit dem Alkohol haben. Oder sollte man besser sagen, dass sie Probleme ohne Hochprozentiges haben?

      Auch haben wir herausgefunden, dass etwa 60% der über Dreißigjährigen öfter mal zusammen mit ihren Eltern auf Konzerte oder zu Sportveranstaltungen gehen. Etwa 45% der verheirateten Frauen sind in ihrer Ehe unglücklich, aber nur 30% der Ehemänner. Eine repräsentative Umfrage war das aber nicht. Die Ergebnisse basieren auf Schätzungen, die wir während einer kleinen Nachtvesper bei einer Flasche Sekt und Spiegeleiern nach dem Feuerwehrball in meiner Küche angestellt haben.

      Aufgrund dieser Umstände kann man natürlich nicht von belastbaren Daten sprechen. Doch Johanna und ich sind überzeugt, dass diese Zahlen zu etwa 80% stimmen.

      Mein Mann Rolf bestreitet vehement die Anzahl der Alkoholiker. Für ihn sind zwei Flaschen Bier jeden Abend aber auch völlig okay.

      Obwohl Rolf erst vor dreißig Jahren nach Olde gezogen ist, kennt er sich mit den Gepflogenheiten unseres Dorfes bestens aus. Er lernt schnell. Rolf ist Berufsschullehrer, aber tief in seinem Innern schlummert ein Landwirt und er hat meinem Vater Hanno von Anfang an gerne bei der Hofarbeit geholfen.

      Johannas Mann Stefan amüsiert sich stets über unsere Volkszählungen. Er ist ein waschechter Bayer. Anfangs hatte er Schwierigkeiten, sich in Olde wohlzufühlen. Die Leute waren ihm zu spröde und zu wenig innovativ, wie er stets betonte. Auch die Berge fehlten ihm. Stefan ist Schreiner und die Oldener bezeichneten ihn als „Tischler“.

      „Ja zefix, wos moants‘n ia, ois wia i oiwei nua Disch macha dad“, fragte er oft genervt.

      Inzwischen ist Stefan integriert, obwohl er immer noch einen kaum verwaschenen bayrischen Dialekt hat. Er ist schon seit zig Jahren der Gerätewart unserer Feuerwehr.Stefan haben wir das jährliche Oktoberfest auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums am Rande unserer Kreisstadt zu verdanken. Ich mag Stefan. Das Oktoberfest mag ich nicht. In unsere Gegend passen Fischerfeste und Faslamsumzüge viel besser. Aber das ist eine andere Geschichte.

      Auch in unserem Dorf gibt es natürlich viele Zukunftssorgen. So erzählte unsere Ortsvorsteherin Anette neulich hier im Edeka, dass auch Theissens nicht wissen, ob es mit dem Hof weitergeht. In meiner eigenen Familie ist das ein ganz schmerzhaftes Thema. Auch mein Vater musste unseren Hof vor ein paar Jahren aufgeben.

      In unserem kleinen Laden wurde sogar schon mal eine Krimiszene gedreht. Der Film wurde Monate später in der gesamten Republik ausgestrahlt. Hildegard und Waltraud wollten es ursprünglich nicht an die große Glocke hängen, dass in ihrem Geschäft der NDR Filmaufnahmen machen wollte.

      Doch der Dorffunk funktioniert in Olde. Anette, Jutta, Manni, Birgit und Uschi ließen es sich natürlich nicht nehmen, am Drehtag dort aufzutauchen. Die Frauen kauften sich neue Oberteile und unser Dorffriseur Henry zauberte wahre Kunstwerke auf den Köpfen der Damen. Für diesen Anlass gab er sich besonders viel Mühe.

      So mancher aus dem Dorf hatte auf eine heftige Schießerei oder wenigstens auf eine wilde Verfolgungsjagd gehofft. Der Kommissar, gespielt von Bjarne Mädel, hatte jedoch lediglich den Auftrag, im Edeka Milch und Brötchen einzukaufen und der Kassiererin eine Information zu entlocken. Für höchstens zwei Minuten Film ging damals fast ein ganzer Drehtag drauf.

      Ich kam zu spät, um die Kameras und die Stars noch anzutreffen. Zwischenzeitlich hatte ich sogar vergessen, dass an jenem Tag der Krimi gedreht wurde, denn ich musste mit meiner Tochter Lina zum Arzt. Als ich kurz vor Ladenschluss abgehetzt auftauchte, saß Waltraud in sich zusammengesunken