Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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alten Stadt am Rhein hat mich Anfang der 80er Jahre so beeindruckt wie Saturn. Damals der Plattenladen schlechthin.

      Meine Oma sagte vor meiner Fahrt nach NRW zu mir: “Geht auf jeden Fall auch zu 4711!“

      Ach, das war mir total egal.

      Nach dem Touristenprogramm steuerten Mone und ich schnurstracks Saturn an. Ihre Mutter ging derweil zum Friseur und zur Pediküre. Und zwar bei beiden Dienstleistern das volle Programm. So hatten wir vier Stunden für uns.

      Es duftete in diesem Laden so irrsinnig gut nach frisch ausgepackten elektronischen Geräten, nach Plastik und nach Freiheit. Coole Rhythmen und Beats waberten durch den riesigen Verkaufsraum.

      Ehrfürchtig ließ ich meinen Blick über das wahnsinnig große Angebot schweifen und war hin und weg, als Mone mir erzählte, dass man in diesem Laden in die Platten per Kopfhörer reinhören konnte.

      Wir ließen uns von den äußerst freundlichen und zuvorkommenden Verkäufern immer neue LP´ s und Singles auflegen.

      Frauen arbeiteten dort nicht. Jedenfalls nicht an dem Tag, an dem wir uns im Kölner Saturn aufhielten.

      Ich hörte etwas von Cindy Lauper. „Boah, cool!“, schrie ich. Doch Mone guckte mich nur stirnrunzelnd an und zeigte auf ihre Kopfhörer.

      Auch sie rief irgendwas, das ich nicht verstehen konnte. Ich nahm die Kopfhörer ab und hörte so was ähnliches wie „Alter, Bowie is geil“.

      Gerne hätte ich mir viel mehr Scheiben gekauft. Aber ich hatte nur noch dreißig Mark übrig und so konnte ich mir nur das Album Born in the USA von Bruce Springsteen und die Single Time after time von Cindy Lauper leisten.

      Der „Boss“ war in meinem Freundeskreis heiß begehrt. Johanna und andere Schulfreundinnen schwärmten von seiner Musik und von seinem Hintern auf dem Plattencover.

      Ich vergötterte Springsteen auch und hatte mir das Geld für seine neue Platte mühsam zusammengespart.

      In der Bravo informierte ich mich über das Privatleben der Stars. Inzwischen kaufte ich mir das Heft selber. Mit meinen Freundinnen und einigen Jungs aus der Schule veranstalteten wir regelmäßig Plattenabende, an denen wir bei irgendjemandem im Zimmer hockten und mit geschlossenen Augen den Songs einer neu erstandenen Scheibe lauschten. Manchmal tanzten wir Mädchen auch zu The Police, Nena oder Hubert Kah. Ulli war leider nie dabei.

      Ich las wahnsinnig viel und gerne, aber Musik begleitete wirklich jede Ritze meines Teenagerlebens. Sie war immer da und nur durch bestimmte Songs kam ich an meine Gefühle.

      Johanna ging es damals sehr ähnlich. Mone auch.

      Auf Konzerte ging ich so gut wie gar nicht. Ich war zu träge, mich rechtzeitig um Karten zu kümmern und sie waren mir meistens auch zu teuer. Mein Babysitter-Lohn plus Taschengeld reichte dafür nicht aus. Auf der Zugfahrt von Mone nach Hause hörte ich mit dem Walkman meine Kassetten. Das Gerät hatte mir Tante Tilda zur Konfirmation geschenkt. Herbert Grönemeyer, Alison Moyet, The Police und Bruce Springsteen versüßten mir die Heimfahrt.

      Ganze Sonnabende im Herbst und im Winter haben Johanna und ich damit zugebracht, Hüllen von Leerkassetten zu beschriften. Wir haben die Linien auf den kleinen Blanko-Booklets der Kassettenhüllen mit Wachsmalstiften grundiert und dann mit Filzstiften Interpret und Kurztitel darauf geschrieben. Meistens hockten wir im Schneidersitz auf dem Fußboden oder auf dem Bett. Meine Zunge kippte mir aus dem Mund, wenn ich die Kassetten in höchster Konzentration beschriftete.

      Wolf-Dieter Stubel war der Moderator, dessen Stimme auf sehr vielen Tapes der frühen 80er zu hören war. Er lieferte aus dem Funkhaus in Hamburg direkt vom Plattenteller in norddeutsche Jugendzimmer.

      Ich träumte also bei cooler Musik in meinem Abteil vor mich hin, als es plötzlich passierte: eine Art Würgegeräusch kündigte einen Bandsalat an. Das Kassettenband hatte sich verheddert und war vollkommen aus der Spur geraten. Ich versuchte, mit Hilfe eines Bleistiftes das Band wieder auf die Spulen aufzuwickeln. Dabei riss das ohnehin poröse Magnetband durch.

      „Scheiße, Scheiße“, fluchte ich laut vor mich hin. Meine Sitznachbarn im Abteil guckten mich an, als sei ich nicht ganz dicht.

      Ich wagte nicht, ein weiteres Tape einzulegen. Zu Hause würde ich das Teil mit Tesa reparieren. Gestresst schob ich mir ein Kaugummi in den Mund.

      Während die Landschaft an mir vorüberzog, dachte ich über Köln und Aachen nach. Was es doch in Städten für unendliche Möglichkeiten gab.

      Jugendliche trafen sich dort in Discos, Jugendkellern oder Billardclubs. In Plattenläden, Bistros und Eisdielen. Sie schlenderten mit coolen Jeansjacken am Rheinufer entlang, hörten auf der Kölner Domplatte mit Ghettoblastern gemeinsam Musik oder führten Breakdance-Einlagen vor, für die sie auch Geld zugeworfen bekamen.

      Die Treffpunkte unseres Dorfes für Jugendliche waren schlichterer Natur. Das Kriegerdenkmal, zwei Bushaltestellen, eine Telefonzelle und das Kühlhaus standen in Olde zur Verfügung.

      An diesen Orten lagen immer Kippen, und auch mal Kondome. An der Bushaltestelle gab es dann noch den orangefarbenen Kaugummiautomaten. Allerdings war der Schlitz für das Münzgeld total verklebt.

      Ziemlich ausgelaugt kam ich gegen Abend in Hamburg an. Zum Glück waren die beiden Schallplatten unversehrt geblieben.

      Meine Mutter holte mich am Hamburger Hauptbahnhof ab. Ich freute mich sehr, sie wiederzusehen. Abgehetzt erzählte sie mir, dass mein Vater mit dem Mähdrescher zur Landmaschinenwerkstatt musste und Opa auch keine Zeit hatte, mich zu fahren.

      „Los, Ela, wir müssen zum Abendbrot zu Hause sein! Dein Vater will was in den Bauch kriegen, wenn er wieder da ist“, trieb meine Mutter mich an.

      Und dann kam tatsächlich: „Ich hab außerdem Hack im Kofferraum!“ Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

      Meine Mutter musste sich auf den Hamburger Feierabend-verkehr konzentrieren und klebte an der Windschutzscheibe.

      Die Fahrt vom Hauptbahnhof zu unserem Hof glich einem Höllentrip. Ich schwitzte vor Angst, aber ich schwieg.

      Aus lauter Dankbarkeit, dass wir unfallfrei zu Hause ankamen, schmiegte ich mich auf dem Hof an meine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Verdutzt schaute sie mich an.

      Nach dem Abendbrot machte ich mich daran, das Kassettenband zu reparieren.

      Rieke kam ohne Anklopfen in mein Zimmer gestürzt. „Bitte gib mir mal die Springsteen-Platte!“, bettelte sie mich an.

      „Nö, da höre ich erst selbst in Ruhe rein! Außerdem geht bei dir immer alles kaputt“, sagte ich mit Nachdruck und hielt die LP versteckt hinter meinem Rücken.

      „Ela, du hättest mir auch gerne was von den Eurythmics mitbringen können“, nervte meine Schwester mich weiter.

      „Ich hatte kein Geld mehr. Hol dir das doch selber“, sagte ich und streckte ihr die Zunge raus. „Irgendwo in der Weltstadt Hamburg wird es diese Platten schon geben.“

      Beim Versuch, Rieke aus meinem Zimmer zu schieben, fiel mir die Springsteen-Scheibe runter. Vor Schreck machte ich völlig kopflos einen Schritt nach hinten, trat auf das gute Stück und es zerbrach. Verzweifelt schrie ich auf und sprang aufgeregt herum.

      „Da siehst du, was du angerichtet hast!“, brüllte ich meine Schwester an. Die rannte aus dem Zimmer und ich schmiss mich heulend auf mein Bett.

      ***

       „Michaela, hast du dir weder den Aachener, noch den Kölner Dom von innen angesehen?“, fragt TT entsetzt nach. „Beide gehören doch zum UNESCO-Kulturerbe, Kind! Und man muss doch in Köln auf die Besucherplattform des Domes... Mensch, dieser Wahnsinns-Blick!“

      „Um Himmels Willen, ich bin doch nicht schwindelfrei…“, erinnere ich meine Tante. „Ich habe mir aber einiges von Mones Eltern über den Kölner Dom anhören müssen und später auch darüber gelesen. Wir Mädels haben uns damals für ganz andere Dinge interessiert