Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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hatte uns erklärt, dass die Bracks durch Deichbrüche entstanden waren.

      Ganz ohne Sorge war meine Mutter nie, aber sie erlaubte mir das Baden dort. Sie hielt die Bracks für wesentlich harmloser als die Elbe.

      Ich muss neun gewesen sein, Matzi fast elf.

      Matzi sollte auf mich aufpassen. So der Wunsch meiner Mutter.

      Es war ein Nachmittag mitten in der Woche. Leider waren die Sommerferien schon vorbei. Seit Tagen kursierte in der Schule das Gerücht, dass es bald Hitzefrei geben würde.

      Es war enorm schwül, der Himmel hatte eine milchig-gräuliche Färbung. Fast schien es, als hingen schwere Wolken bis auf die Erde.

      Matzi sprang sofort ins Wasser und tobte mit seinen Kumpels Volker und Olaf auf einer Luftmatratze herum. Die drei spritzten sich nass, kämpften miteinander und juchzten. Sie nannten das „Rangeln“.

      Waren die Jungs nicht im Wasser, spielten sie Karten.

      Um mich kümmerte sich niemand.

      Ich breitete mein Handtuch in ihrer Nähe aus.

      Volker und Olaf waren in Matzis Klasse. Für Volker schwärmte ich ein bisschen. Er lächelte mich immer an, wenn wir uns mal alleine begegneten.Volker neckte mich manchmal und hatte mir einmal in der Pause eine süße Vanillemilch ausgegeben.

      An besagtem Nachmittag würdigte er mich keines Blickes. Er versteckte sich hinter einer großen Sonnenbrille und drehte an seinem Ghettoblaster ´rum.

      Auch Matzi sprach mit mir kein Wort.

      Ich war traurig, dass Johanna nicht da war. Ihre Mutter hatte sie gezwungen, für ein Diktat zu lernen.

      Es wurde immer heißer und feuchter. Ich wollte mich nun auch im Brack abkühlen.

      Mit schnellen Schritten huschte ich in die Bretterbude, die am Ufer stand, um meinen Bikini gegen einen Badeanzug auszutauschen. Die Gemeindeverwaltung hatte den Verschlag als Umkleidekabine aufgestellt.

      Jemand hatte Mariebelle ist eine Nutte in die Wand eingeritzt. Was eine Nutte ist, wusste ich ungefähr, darüber dachte ich nicht weiter nach. Doch zerbrach ich mir den Kopf darüber, wer Mariebelle sein könnte. Ich kannte kein Mädchen und auch keine Frau mit so einem Namen.

      In Windeseile zog ich mich um und lief wieder zu den Jungs.

      Es donnerte und blitzte nun heftiger. Reflexartig hielt ich mir die Ohren zu. Volker und Olaf rafften ihre Sachen zusammen und rannten zu ihren Fahrrädern.

      „Los, komm schnell, wir müssen es nach Hause schaffen, bevor es schlimmer wird und total anfängt zu pladdern!“, rief Matzi mir aufgeregt zu.

      So schnell wir konnten, preschten wir zu unseren Rädern und rasten wie aufgescheuchte Hühner Richtung Olde. Dicke Tropfen kamen vom Himmel, es wurde immer dunkler um uns herum.

      Schon nach ein paar hundert Metern waren wir bis auf die Haut durchnässt.

      Meine Bronchien schmerzten und ich zitterte vor Angst.

      In immer kürzeren Abständen zuckten die Blitze am Himmel und ohrenbetäubende Donnerschläge waren zu hören. Ich sah, dass mein Cousin noch mehr zitterte als ich. Er klapperte mit den Zähnen und schaute mich mit aufgerissenen Augen an. Sonst spielte er immer den coolen Macker.

      „Hier wohnt doch irgendwo eine alte Verwandte von uns“, stieß Matzi keuchend hervor.

      Mir fiel ein, dass in dem kleinen, moorigen Wäldchen vor uns die Hexe lebte. Ich kannte sie eigentlich nur vom Hörensagen und war ihr mal mit meiner Mutter bei der Post begegnet.

      „Du meinst die Hexe?“, fragte ich zähneklappernd.

      Matzi guckte mich stirnrunzelnd an. „Weiß nicht, nennt ihr die so?“

      „Ja“, sagte ich.

      „Los! Wir fragen, ob wir uns da unterstellen können!“, rief er.

      „Gut“, willigte ich kraftlos ein.

      Bibbernd vor Kälte hielten wir am Gartentor des Hexenhäuschens. Das Tor ließ sich öffnen und wir schoben unsere Räder mit schnellen Schritten über den matschigen Weg bis zur Haustür. Zu allem Überfluss war ich barfuß.

      Genau wusste ich nicht, wie die Frau mit Matzi und mir verwandt war. Aber das war mir in dem Moment auch egal.

      Sie war immer schwarz gekleidet. Aus irgendeinem Grund kam sie nie zu den Familienfesten. Später erfuhr ich, dass sie auch nie eingeladen wurde.

      Todesmutig drückte ich auf den Klingelknopf. Matzi verkroch sich förmlich hinter mir.

      Die Hexe öffnete die Tür und schaute uns fragend an. Als sie uns dann aber zu erkennen schien, begrüßte sie uns herzlich.

      „Oh, ihr armen Mäuse… Ihr seid ja völlig durchnässt. Hat euch das Gewitter überrascht? Kommt doch rein!“ Ihre Stimme klang unerwartet sanft. Sie bat uns mit einer einladenden Geste auf ihren Flur.

      Schüchtern huschten wir ins Hexenhäuschen. Matzi und ich waren triefend nass und hinterließen kleine Pfützen auf dem Flurteppich.

      „Hier ist das Bad. Da könnt ihr euch föhnen. Ich bring euch Handtücher und trockene Sachen“, sagte sie und öffnete eine Tür. „Möchtet ihr was trinken?“

      Wir nickten zögerlich. Im Bad roch es etwas muffig, aber es war hell und freundlich eingerichtet. Neugierig schaute ich mich um.

      Die Hexe kochte uns Kakao und gab uns Pullover und Hosen. Die Sachen waren uns meilenweit zu groß, aber wir krempelten die Ärmel auf und schnallten Gürtel um. Ich traute mich nicht zu fragen, von wem die Kleidungsstücke waren. In der Küche roch es nach Pfannkuchen.

      Während ich Kakao schlürfte, durchfuhr mich eine wohlige Wärme und ich lächelte die Hexe an. Sie lächelte zurück.

      „Ich bin übrigens Gertrud“, stellte sich die Hexe vor. „Mein Sohn Ulf wohnt jetzt in Lüneburg. Mein Mann lebt schon lange nicht mehr“, erzählte sie und schluckte.

      „Wie geht es denn euren Eltern?“, fragte sie nach einer kleinen Pause.

      „Meinen Eltern geht es gut“, sagte Matzi knapp.

      „Meine Mutter arbeitet viel draußen mit und Oma kocht oft für uns alle. Mama hat auch immer Angst vor Gewittern“, erzählte ich.

      Ich mochte die Hexe auf einmal. Allerdings hatte ich keine Lust, es Matzi zu zeigen. Ich wollte das für mich behalten. Jemanden mögen, den die anderen verachteten, das empfand ich als ein cooles Geheimnis.

      Schweigend radelten wir nach Hause.

      Als wir vor unseren Häusern zum Stehen kamen, fiel mir plötzlich ein, dass wir ja noch über unser Alibi reden mussten. Wir waren uns einig darüber, dass wir nichts von unserem Besuch bei der Hexe erwähnen wollten.

      Matzi winkte nur müde ab und meinte: „Wird schon schiefgehen, Ela.“ Erschöpft trottete er ins Haus.

      Unsere Eltern fragten ausnahmsweise nach, wo wir gewesen waren. Meine Mutter mit ihrer höllischen Angst vor Gewittern war fast umgekommen vor Sorge. Sie war tatsächlich mit TT zum Brack gefahren, um dort nach uns zu suchen.

      Insgeheim freute ich mich darüber. War ich also meiner Mutter doch nicht so egal.

      „Wir waren bei Susi. Die war auch am Brack. Und als das Unwetter losging, hat sie gesagt, dass wir mit zu ihr dürfen“, log ich.

      Keiner wollte etwas Genaueres wissen. Meine Mutter hatte beschlossen, die Mutter meiner Mitschülerin Susi zickig und überheblich zu finden. Allerdings kannte sie Susis Mutter nur von Elternabenden und interessierte sich gar nicht weiter für die zugezogene Familie.

      Hätten meine Eltern erfahren, dass wir bei der Hexe im Haus waren, hätten sie ganz genau wissen wollen, wie es bei ihr aussah, wie sie reagiert hatte, ob es etwas zu essen gab und so weiter.

      Komischerweise schien sich niemand über