Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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      Für Tante Tilda ist Wilhelmsburg ein wichtiges Puzzleteil in ihrer Welt. Sie liebt diesen Bezirk, in dem sich Studierende, Arbeiter/innen, Christen, Muslime und Angehörige anderer Religionen tummeln.

      Meine Schwester Rieke und ich nennen unsere Tante nur „TT“. Sie ist so schnell und zackig wie diese zwei Buchstaben und wirkt überhaupt nicht altmodisch.

      TT ist wieder ledig. Vor etwa fünf Jahren hat sie sich von Onkel Wolfgang getrennt. Die Scheidung ist ein noch laufender Prozess. Die beiden lassen das Ganze allerdings schleifen und widmen sich lieber ihren neuen Aufgaben. Mein Onkel Wolfgang wohnt noch immer mit meinem Cousin Matzi neben uns in Olde. Er verrichtet jegliche Art von Diensten für die Kirchengemeinde in unserer Kreisstadt und repariert und verleiht mit meinem Mann Rolf landwirtschaftliche Maschinen. Abends sitzt er in seiner Stammkneipe mit seinen Stammkumpels, philosophiert und spielt Doppelkopf oder Halma. Ich glaube nicht, dass mein Onkel Stammtisch-Parolen klopft. Jedenfalls keine, die Vorurteile betonieren und ganze Gruppen von Menschen diskriminieren.

      Meine Tante macht viele Reisen, leitet einen Frauen-Treff, geht zur Gymnastik und gibt ungefragt Tipps, wie man so weit kommen konnte wie sie. Außerdem lädt sie gerne in ihre helle Wohnung in der Nähe des alten Bunkers ein und demonstriert, wie man ohne große Probleme auch dort in der Stadt zwei Hunde halten kann.

      Ich finde meine Tante durchaus attraktiv. Ihr genaues Alter verrät TT nur ungern und ihren Geburtstag hat sie nie gefeiert, aber meine Mutter hat mir mal erzählt, dass TT drei Jahre jünger als sie ist. Somit weiß ich, wie alt sie ist.

      TT will keinen Mann mehr dauerhaft bei sich wohnen lassen. Alleine schon, weil sie keine Lust auf zu viel Bügelwäsche, Mettwurst im Kühlschrank und Konflikte um die Fernbedienung hat. Aber sie ist durchaus nicht abgeneigt, ab und zu einen Herren zu sich einzuladen. Und ich kann mir lebhaft vorstellen, dass diese Herren sich dort nicht nur von ihren Kochkünsten überzeugen lassen können.

      „Eine feste Beziehung mit einem Kerl? Um Himmels Willen! Ich will meine Ruhe haben. Und außerdem hab ich ja meine beiden Süßen“, hatte meine Tante neulich erst wieder verkündet. Daraufhin hatte sie zärtlich ihre beiden Jack Russells Bud und Spencer gestreichelt. Die Hunde jaulten dankbar auf und leckten ihr über die Hand. Ich finde das eklig.

      TT und Wolfgang hatten immer Hunde. Solange ich sie kenne.

      Als ich klein war, gab es in Olde nicht so viele Hundebesitzer. Die wenigen Hunde, die hier lebten, liefen fast alle auf den Höfen nebenbei mit. Oder hatten eine Hundehütte und waren oft angebunden. Wenn mich nicht alles täuscht, kam der Begriff „Gassi gehen“ in meiner Kindheit gerade erst auf.

      Seit etwa dreißig Jahren hat etwa jeder zweite Haushalt in Olde einen Hund.

      Johanna hat einen Golden Retriever. Sie ist der Meinung, dass es inzwischen total anerkannt ist, mit einem Hund spazieren zu gehen. Auch in Olde. Auch mitten am Tag. Um Viehzeug muss man sich schließlich kümmern, das sehen auch die Alten ein.

      Schwierig wird es dann, wenn man an einem Tag, der kein Sonntag ist, ohne Hund über den Deich schlendert. Dann wird man garantiert komisch angeglotzt und da wird sich wohl so mancher fragen, ob man nichts Wichtiges auf dem Hof, im Haus oder im Garten zu tun hat.

      ***

       Tante Tilda lege ich jedes Kapitel dieses Romans einzeln vor. Als sie das erste Kapitel fertig studiert hat, fragt sie: „Michaela, was hat eigentlich die Frauen in unserem Kaff so hart gemacht?“ Sie schenkt sich Prosecco nach.

      „Wieso hart?“, frage ich verdutzt zurück. In meinen Augen sind die Frauen aus Olde nicht hart. „Und was heißt überhaupt Kaff? Das klingt total abwertend. Du hast hier doch auch die meiste Zeit deines Lebens gerne gewohnt!“

       Ich komme richtig in Fahrt. „Die Frauen sind einfach sehr ehrlich und offen. Die reden halt wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die arrangieren sich mit ihren Männern, mit den Kindern und Schwiegereltern.“ Ich räuspere mich. Meine Tante guckt mich entgeistert an.

       Mit so einem Redeschwall hat sie wohl nicht gerechnet.

      „Sie haben Patenkinder in Afrika“, erkläre ich weiter, “engagieren sich für Flutopfer, sammeln Geld für das DRK und und und. TT, das weißt du doch besser als ich. Du hast ja da auch jahrelang mitgemacht!“

       TT schnaubt verächtlich und zündet sich eine Zigarette an. „Ach, ich kenne das“, winkt sie ab. „Die machen das, weil es die anderen auch machen. Damit niemand schlecht über sie redet. Oder weil sie einsam sind. Oder weil auch schon die Mama das so gemacht hat. Ich hatte jedenfalls keinen Bock mehr auf diese Vereinsmeierei.“

      „Oder, oder, oder“, äffe ich meine Tante genervt nach. „Du kannst tausend Gründe finden, um Anette und Co schlecht zu machen, wenn du es nur willst.“

      „Jetzt beruhige dich mal, Ela, wer macht sich denn hier die ganze Zeit lustig über die Dorfsfrauen?“ Meine Tante schnappt nach Luft. „Ehrlich gesagt hab ich Anette und Co das auch etwas übelgenommen, dass die nie in meiner Boutique eingekauft haben!“, fährt sie fort.

      „Siehste, du bist persönlich beleidigt und meinst, dass ich sie verachte!“ Ich stöhne auf. „Und nein, ich mache mich nicht über sie lustig! Ich meine das im Buch doch eher humorvoll und versuche einfühlsam zu sein“, empöre ich mich weiter.

      „Okay, dann erzähle aber auch, warum ihr in den Vereinen nicht mitmacht, Johanna und du.“ TT lächelt mich süffisant an.

       Ich überlege. Sie trifft durchaus einen Nerv bei mir.

      „Tja...“, beginne ich vor mich hin zu stammeln, „du weißt ja, dass ich viele Ehrenämter in der Schule hatte. Außerdem bin ich echt immer zur Stelle, wenn man mich im Dorf braucht, beim Blutspenden oder beim Sportfest. Aber ich will mich nicht für eine Vorstandsarbeit festnageln lassen.“

       Ich nehme einen Schluck aus meinem Sektglas und lehne mich auf dem Sofa zurück. „Erst neulich wurde ich wieder gefragt, ob ich im MTV die Schriftführerin machen will. Hab ich aber abgelehnt. Die meinten allen Ernstes, ich könne ja ganz gut formulieren und wäre ziemlich leidensfähig.“ Ich lache auf.

      „So viel Witz hab ich Anette und ihrer Bande gar nicht zugetraut.“ TT schüttelt schmunzelnd den Kopf.

       Meine Tante drückt ihre Zigarette aus, schnappt sich ihre Handtasche und steht auf.

      „Und ich weiß auch, warum Johanna bei den Landfrauen nicht mitmacht“, lässt sie grinsend verlauten.

      „Weil sie Anette und Jutta nicht leiden kann und das beruht sich auf Gegenseitigkeit“, sprechen wir beide wie im Chor. Dann müssen wir laut lachen.

       Ich proste meiner Tante zu und bedanke mich für ihre erste Einschätzung.

       Tante Tilda verabschiedet sich und betont, dass sie auch die weiteren Kapitel lesen und kommentieren möchte.

       Kaum ist sie raus, reiße ich die Terrassentür auf und atme tief durch.

      Dorf Kapitel 2

      In meiner Kindheit nannte mich Oma Bertha immer „die Sachensucherin“, obwohl sie Pippi Langstrumpf gar nicht kannte. Stundenlang stromerte ich durch Wiesen, Obstplantagen und Felder und sammelte Steine, Federn und andere Sachen. Voller Hochachtung legte ich das alles in Schachteln und Gläser.

      Meine Oma half mir, die Behälter zu beschriften und bewahrte die Fundstücke für mich in einer Schuppenecke auf. Sie nannte das Ganze „Elas Schatzkammer“ und freute sich mit mir über die Schönheiten der Natur. Immer wieder gingen wir zwei gemeinsam dorthin und bestaunten verschrumpelte Kastanien, Hühnerfedern und Moos. Bis ich etwa sieben war, ging ich davon aus, dass es sich bei „Sachensucherin“ und „Mitschnacker“ um Berufe handelte.

      Wir hatten keine richtige