Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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zwischen dem Hühnerstall und dem Gemüsegarten auf Waschbetonplatten. Davor thronte ein uralter, runder Holztisch. Drei Garten-stühle aus Plastik vervollständigten die armselige Garnitur.

      Wir saßen da nie. Es war ein ungemütlicher, verwahrloster Platz. An warmen Sommertagen stank es dort nach Kompost und Hühnermist.

      Einen Balkon hatten wir auch nicht, aber den hat kaum ein altes Haus am Elbdeich.

      „Das ist hier an der Elbe immer viel zu zuchig für einen Balkon“, sagte mein Vater mal zu Rieke und mir, als wir uns einen zu Weihnachten gewünscht hatten.

      Wir Kinder suchten uns unsere eigenen Plätze zum Spielen und Verweilen. Am Graben, auf einer alten Kastanie, im Schuppen oder auf dem Heuboden.

      Auf dem Wäscheplatz gab es eine alte Eisenstange, an der wir Schweinebaumeln machten. Außerdem hatte Opa Hermann uns einen Sandhaufen aufgeschüttet, auf dem ich bis zur Einschulung viel gebuddelt habe. Irgendwann diente er dann aber nur noch als Katzenklo.

      Oft ging ich zu Johanna zum Spielen. Die wohnt auch jetzt noch nur acht Häuser weiter. Ihre Eltern hatten immer schon einen wundervollen Garten mit großer Rasenfläche. Dort spielten wir im Sommer Federball oder lagen auf einer Wolldecke unter einem Kirschbaum und dachten uns Geschichten aus. Es war dort viel ruhiger als bei uns.

      Johannas Vater arbeitete als Prokurist und grillte gerne und viel. Ich durfte oft dabei sein und leckere Bratwurst und Steaks mitessen. Mein Vater hatte für´s Grillen nichts übrig. Die Essenszubereitung überließ er komplett seiner Schwiegermutter und seiner Frau.

      An die Elbe ging ich nicht alleine. Ich hatte zwar schon mit sechs schwimmen gelernt, aber über den Deich durfte ich bis zu meinem zehnten Geburtstag nur mit Erwachsenen gehen. Mein Vater hatte das Verbot mit einer so großen Vehemenz vorgetragen, dass ich dachte, dass auf Nichtbeachtung die Todesstrafe stünde. Rieke wagte sich schon mit neun ohne Erwachsene ans Elbufer. Ich beobachtete das ängstlich, aber ich verpfiff sie nicht.

      Rieke machte überhaupt viel verbotenes Zeugs und belächelte meine Sammelleidenschaft und meine einsamen Streifzüge.

      Meine gesamte Jugend war geprägt von viel frischer Luft, aber auch vom Fernsehprogramm. Vor allem in den Herbst- und Winterferien habe ich viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht. Oft kam auch Matzi rüber.

      Meine Eltern hatten auch im Winter viel Arbeit. Sie mussten neben allen anderen Aufgaben jeden Tag am frühen Morgen und am späten Nachmittag melken. Meine Schwester und ich wuchsen deshalb relativ unkontrolliert auf.

      An Regentagen hockten wir an den Nachmittagen auch in den Sommerferien vor der Glotze. Es gab extra Ferienprogramme für Kinder.

      Wir waren fasziniert von Lassie, Daktari, Flipper und den Astrid Lindgren-Filmen. Auch Zeichentrickfilme wie Tom und Jerry und Biene Maja standen bei mir hoch im Kurs. Solche Sendungen bezeichnete meine Schwester als „absolut babyhaft“. Sie schaltete dann einfach um oder machte Jazzdance-Übungen vor dem Fernseher, so dass ich nichts mehr erkennen konnte.

      Ich reagierte darauf sehr zornig und trampelte mit hochrotem Kopf auf dem Boden herum oder zog Rieke an den Haaren. Meine Wutausbrüche beeindruckten sie allerdings überhaupt nicht. Meistens lachte sie nur überheblich darüber.

      Nach dem Abendbrot saßen wir auch mit unseren Eltern gemeinsam vor dem Bildschirm. Im Vorabendprogramm gab es zum Beispiel Ein Colt für alle Fälle, Montagsmaler und Bonanza. Später am Abend guckten wir Wunschfilme und Sport. Und das alles auf nur zwei Programmen und einem Regionalsender. Das Aktuelle Sportstudio schaute ich mir schon mit elf Jahren jeden Sonnabend an. Außer mir interessierte das nur meinen Vater, aber der schlief meistens schon nach dem ersten Interview ein. An manchen Tagen fielen ihm schon bei der Tagesschau die Augen zu. Darüber ärgerte er sich dann maßlos, denn der Wetterbericht ist für einen Bauern natürlich von großem Interesse.

      Sonnabends machte ich es mir dann gegen halb elf mit Fanta und Erdnussflips gemütlich. Zugedeckt mit einer Wolldecke und oft auch schon im Schlafzeug lag ich auf dem Sofa. Auf der Wolldecke verteilte ich pieksige Krümel und in meinem Magen blubberte es wegen der Kohlensäure im Softdrink.

      Neben mir lag mein schnarchender Vater, während ich Harry Valerien oder Dieter Kürten lauschte. Die Geräusche, die mein Vater machte, beruhigten mich komischerweise. In solchen Momenten fühlte ich mich sehr verbunden mit ihm unter dem warmen Licht unserer Stehlampe.

      Als Johanna mal bei mir übernachtet hatte und wir auch abends Sport guckten, schielte sie sehr ängstlich zu meinem schlafenden Vater rüber. Der schnappte nach einem lauten Knattergeräusch nach Luft und röchelte dann wie verrückt. Man konnte meinen, dass es sein letzter Atemzug war. Doch dann sägte er weiter sehr sonor und stoisch Äste durch.

      „Er überlebt das“, sagte ich zu meiner Freundin und widmete mich wieder dem Sportstudio.

      Mein Vater trug in der kälteren Hälfte des Jahres immer Socken, die Oma Bertha ihm gestrickt hatte. Seine Füße rochen oft unangenehm wie Harzer Käse. Ich legte mich immer so hin, dass meine Nase möglichst weit weg von ihm war.

      Und immer wieder wurde Werbung gezeigt. Natürlich viel weniger als heute auf den Privatsendern, aber wir Kinder waren angefixt von den kleinen Spots. Gerne wurde Reklame für Süßigkeiten, Alkohol und Kopfschmerztabletten gemacht.

      Passend zu den Schokoriegeln gab es auch immer wieder Werbung für Zahnpasta. Damals dachte ich, dass ein Leben ohne Beck´s, Spalt und Blendamed nicht möglich sei. Auch ging ich davon aus, dass reiche Menschen immer Pastellfarben trugen.

      Die Helden meiner frühen Jugend waren Typen wie Pippi Langstrumpf, Robin Hood, Winnetou und die Rote Zora. Ich bewunderte ihren Mut und ihre Fairness.

      Hätte es nicht die großartige Frau Brümmermann in der Schülerbücherei meiner Grundschule gegeben, wäre ich vielleicht nie zum Lesen gekommen.

      In unserem Haus gab es mindestens zwanzig Kochbücher, aber nur zwei Märchenbücher. Und ich wusste, dass im Nachtschrank meiner Mutter eine Bibel und ein Aufklärungsbuch in Frakturschrift lagen.

      Mein Kampf hatte meine Oma bei einer großen Aufräumaktion vor einem Hausumbau in die Tonne geschmissen, wie sie mir später einmal stolz berichtete.

      Frau Brümmermann suchte mir spannende Lektüre raus und gab mir auch mal mehr als die drei erlaubten Bücher gleichzeitig mit nach Hause.

      In der dritten Klasse begann ich, Bücher förmlich zu verschlingen . Ich liebte Klassiker von Astrid Lindgren und Internatsgeschichten von Enid Blyton.

      Vieles davon war im Schneiderbuch-Verlag erschienen. In den Büchern gab es Werbung für Pfandbriefe. Bis heute habe ich davon keine Ahnung. Und ich frage mich auch, was das in Kinderbüchern zu suchen hat.

      Obwohl meine Großeltern spannende Geschichten erzählen konnten, lasen sie uns nie etwas vor. Auch meine Eltern machten das leider nicht.

      In Olde kommen die Helden meiner Kindheit immer mal wieder vor. Bei Faslamsumzügen verkleiden sich jüngere und ältere Leute auch mal als Pippi Langstrumpf, Biene Maja oder Robin Hood. Hier am Elbdeich zwängt man sich mitten im nasskalten Januar in enge Kostüme und bunte Felljacken, setzt sich Masken auf, unter denen man kaum Luft bekommt und lässt so das traditionelle Fest der Mägde und Knechte jedes Jahr neu aufleben.

      Im Frühling und im Sommer machten Johanna und ich viele Radtouren. Manchmal auch mit Matzi und seinen Freunden. Unsere Mütter gaben uns hartgekochte Eier, Klappstullen, Äpfel und Säfte für ein Picknick mit.

      So kamen wir nicht sofort wieder und sie hatten ihre Ruhe.Von Mai bis September klemmte stets eine karierte Decke auf meinem Gepäckträger.

      Gerne radelten wir am Deich entlang und guckten auch sehnsuchtsvoll nach drüben.

      „Auf der anderen Elbseite ist zwar Hamburger Gebiet, aber die Vier- und Marschlande sind noch platter und dünner besiedelt als unsere Gegend“, erklärte uns Opa Hermann.

      Ich dachte früher, dass dort schon Einkaufsmeilen und Discos sein müssten. Großstadtflair