Dorf, Stadt Fluss. Sabine Lehmbeck

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Название Dorf, Stadt Fluss
Автор произведения Sabine Lehmbeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742770387



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Finger waren dunkelrot gefärbt.

      „Hilfe, was ist denn mit dir passiert?“, rief ich entsetzt und deutete auf ihre Hände. Seelenruhig beguckte sich Waltraud ihre Finger.

      „Ach, mien Deern, ich musste noch Rote Bete schälen für morgen und dat Schietzeug kriegst du ja nicht abgeschrubbt!“, sagte sie schließlich.

      „Ach so.“ Ich war erleichtert. Hatte ich doch für einen Moment geglaubt, dass es beim Bäcker tatsächlich einen Messerangriff gegeben hatte.

      Waltraud wirkte sehr geschafft. So kannte ich sie gar nicht. Resigniert ließ sie den Kopf hängen, stöhnte auf und erzählte mir, dass sie auch extra zum Friseur gegangen war und sogar etwas Make-up von der Maskenbildnerin aufgetragen bekommen hatte.

      Doch hatte sie sich maßlos geärgert, dass ihre Chefin den ganzen Tag nicht vor Ort war. Hildegard wollte ihren Zahnreinigungstermin nicht sausen lassen und hatte noch eine Bekannte in Hamburg besucht.

      „Mensch, hier war so viel Trubel, ich bin ganz durch ´n Wind. Und dann macht die sich aussem Staub!“, schimpfte Waltraud. „Aber de Film-Lüüd sünd ganz nett to mi ween, vör allem de Wachtmeister“, berichtete sie nickend weiter, während sie den Ladenschlüssel aus ihrer Kittelschürze kramte und den kleinen Laden zusperrte.

      Hildegard soll sich am nächsten Tag angeblich darüber aufgeregt haben, dass den ganzen Tag kaum Umsatz gemacht wurde. Das Filmteam hatte viele Kunden weggeschickt, weil sie nicht bei ihrer Arbeit gestört werden wollten.

      Anette und Co berichteten mir, dass sie nicht mal als Statisten dienen durften. Lediglich einzelne Körperpartien wie Jeansbeine und Sandalenfüße waren dann im fertigen Film zu sehen. Ihre Stimmen waren nicht zu hören, und auch der Aufwand mit den neuen Blusen und der frischen Dauerwelle hatte sich für sie nicht ausgezahlt.

      Die Dorfsleute mussten fast die ganze Zeit hinter dem Flatterband warten, mit dem der Parkplatz vor dem Bäcker abgesperrt worden war.

      Eine gewisse Enttäuschung machte sich in Olde breit.

      Beinahe das ganze Dorf guckte ein Jahr später beim Dorffest den gesamten Krimi auf einer großen Leinwand. Von der Handlung bekamen die meisten von uns nicht viel mit. Fast alle waren angetrunken und unterhielten sich lauthals.

      Ungeduldig warteten wir auf die Szene, in der Waltraud mit dem Kommissar sprach.

      Die zwei Minuten Filmsequenz beim Bäcker waren toll. Waltraud strahlte Bjarne Mädel an und die Frisur saß. Also ihre. Sie hauchte dem Kommissar einen wichtigen Hinweis zu. Man konnte es kaum verstehen. Er nickte ausdrucksstark und rannte aus dem Laden. Seine Einkäufe ließ er stehen. Was wiederum zu einem heftigen Kopfschütteln bei Waltraud führte.

      „Diese jungen Leute sind aber auch tüdelig“, bemerkte sie und packte Brötchen und Milch zurück ins Regal.

      Die nächste Szene spielte an den Landungsbrücken. Wir spulten mehrmals zurück und guckten die Bäcker-Szene immer wieder. Es erfüllte uns alle mit Stolz, unseren Laden in einem Fernsehfilm zu sehen. Da war es überhaupt nicht mehr schlimm, dass Waltraud und Bjarne Mädel die einzigen bekannten Gesichter auf der Leinwand waren.

      Mir hallen die Worte über Probleme und Ausländer noch nach, als ich mit den Brötchen nach Hause radle.

      Mein Mann und ich frühstücken also nur zu zweit. Unser Sohn Moritz studiert seit zwei Jahren in Marburg und unsere Tochter Lina ist nach der elften Klasse von der Schule abgegangen und nun für ein Jahr in Australien, um sich die Zukunftssorgen aus dem Kopf zu jobben.

      Wären Lina und Moritz jetzt hier, kämen sie gegen elf Uhr in die Küche geschlurft und würden sich noch ein Brötchen kurz vor dem Mittagessen schmieren. Sie hätten bissige Feststellungen parat und Kritik und Hinterfragungen.

      Meine Kinder kamen und kommen meistens zu mir mit Problemen oder Zahnschmerzen. Mein Mann war bei so was eigentlich nie ein Ansprechpartner für sie.

      Meine Freundinnen und ich machen da die gleiche Erfahrung, dass wir in den Familien oft unfreiwillig die Bosse sind. Bosse werden schon mal angegriffen, aber man traut ihnen auch viel zu. Und Mama-Bosse sind eben auch zum Trösten da.

      Ich kann nicht gerade behaupten, dass Olde ein Nest voller Feministinnen ist, aber es gibt viele starke und tonangebende Frauen.

      Auf dem Land haben ja in vielen Vereinen traditionell die Männer das Sagen. In unserem Dorf ist das durchaus anders gelagert. Man kann beobachten, dass hier seit Jahrzehnten die wahren Chefs die Frauen sind. Sie beeinflussen die Männer und ganz oft auch die Kommunalpolitik. Unter anderem durch ihre Kunst, köstliche Torten zu zaubern.

      Außerdem kochen sie den Kaffee und bestimmen, wie stark der zu sein hat. Die Damenriege schmiert die Brote und zaubert den Eintopf für das Blutspenden und den Adventsbasar. Sie variieren die Dosierung und die Zutaten je nach Sympathiewert der Gäste oder nach Laune.

      Aber die Frauen hier sind natürlich nicht nur für das Kulinarische zuständig.

      Ortsvorsteherin Anette, Jutta, Hulda und Uschi leiten den DRK-Ortsverein, Teile des Sportvereins und bilden den Vorstand des Landfrauenvereins. Auch außerhalb ihrer offiziellen Ämter unternehmen die vier viel gemeinsam.

      Die Damen zicken auch mal ´rum, weil es einfach nötig ist. Weil die Kerle mal wieder nicht zugehört haben, nicht greifbar sind, sie nicht ausreichend informiert haben, weil sie zu lange an der Theke gesessen und auf dem Feuerwehrball nicht mit ihnen getanzt haben.

      Einige Frauen in Olde besitzen mittlerweile Höfe, lenken auch Firmengeschicke, größere Kutter und einige sogar LKW´s, wenn es sein muss.

      Jeder Hof hatte früher mindestens eine Oma oder eine Großtante, die alles zu wissen glaubte und kluge Ratschläge gab, die allerdings nicht jeder hören wollte.

      Unser kleiner Laden hat mehrere Stammkundinnen, die über andere bestens Bescheid wissen und mit diesem Wissen nicht geizen. Auch die Postbotin, die bis vor kurzem in unserem Örtchen die Post austrug, leitete vorzugsweise pikante Informationen weiter. Mal gegen Schnaps, mal für eine Gegen-Information.

      Mit dem Getratsche der Damenwelt wird Politik gemacht und es werden Tipps im Umgang mit dem anderen Geschlecht ausgetauscht. Kochrezepte sind nur ein oberflächlicher Vorwand für ein Gespräch. Meistens steigt man schnell sehr viel tiefer in die Materie des Zwischenmenschlichen ein.

      Die Frauen unseres Dorfes machen sich gegenseitig Mut.

      „Birgit, fahr doch ruhig mal weg mit dem DRK. Der Olle kommt schon klar, der kann auch mal mittags zum Fährimbiss oder auch bei unserer Oma mit essen. Auf einen mehr oder weniger am Tisch kommt das ja bei uns nicht an!“, riet Hulda neulich ihrer Freundin mitten im Edeka.

      „Ich weiß nicht…“, erwiderte Birgit daraufhin zögerlich.

      „Du, meine Mutter hat immer gesagt, dass Matrosen- und Außenminister-Ehen die besten sind“, wusste Hulda zu berichten.

      „Wieso das denn?“, fragte Birgit erstaunt.

      „Weil Du den Gemahl dann nur für die Hälfte der Zeit bei dir hast“, sprang Uschi ihrer Freundin Hulda erklärend zur Seite. Viele der engagierten Landfrauen nutzen ihre Erfahrung und das Erfahrene, um andere zu warnen oder eben eine Ratgeberin zu sein.

      So wie meine Tante Tilda. Sie ist die jüngere Schwester meiner Mutter Vera. Die beiden sind in Olde geboren.

      Meine Tante heiratete mit zwanzig meinen Onkel Wolfgang, einen Werftarbeiter, und wohnte dann zehn Jahre mit ihm in Wilhelmsburg. Ihren Sohn Matzi wollte Tante Tilda aber lieber auf dem Land großziehen. Zu dritt lebten sie über vierzig Jahre neben uns hier in Olde im Deichweg. Fast genauso lange hatte meine Tante eine kleine Boutique in der Kreisstadt.

      Vor ein paar Jahren ist sie wieder nach Wilhelmsburg in die Nähe des Inselparks gezogen. In den vierzig Jahren ihres Landlebens hat meine Tante immer wieder vom Leben in der großen Stadt geschwärmt.

      Als 2013 Menschen aus aller Welt zur Internationalen Gartenschau nach Wilhelmsburg kamen, entstand bei Tante Tilda der Wunsch, wieder dorthin zurückzukehren.