Von der Entstehung des Christentums. Beate Braumann

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Название Von der Entstehung des Christentums
Автор произведения Beate Braumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783844244649



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Umständen erfolgen, und dazu mussten am besten ein paar Tage vergehen. So lange wollten wir uns in einer trocken gefallenen Zisterne verstecken, die außerhalb der Mauern im Fels verborgen lag. Sie war von der Straßenseite aus nicht zu vermuten, und wer die Anhöhe erklomm, sah in eine steile Schlucht. Die Wasserleitung in die Stadt hatte man unter den Vorsprung gegraben, über den ein Suchender blickte, und neben ihr führte ein so schmaler Pfad entlang, dass Höhenangst nicht von Vorteil war.

      Wir kletterten und huschten durch eingestürzte Mauern, unser Ziel war das erste Sammelbecken des Wasserkanals in der Stadt, das mit einem inzwischen zerstörten Haus überbaut worden war. Dort hatte ich den Deckel des Zugangslochs mit Schutt unkenntlich gemacht.

      Der Schutt fehlte jedoch, der Deckel war blank. Das gefiel mir nicht, aber ich schwieg. Wir banden eine Schnur um einen schräg nach oben stehenden Balken, der eine sorgsame Schichtung von Trümmerteilen stützte. Nachdem wir uns hinuntergelassen hatten und der Deckel nahezu das Loch bedeckte, zog Jakob mit aller Kraft und die ganze Bescherung stürzte in sich zusammen. Um auf den Pfad neben der Leitung zu kommen, mussten wir die ersten zwei Dutzend Ellen durch den Kanal kriechen, der schlimmste Teil für mich. Aber es sollte noch ärger kommen. Nach wenigen Schritten wandte sich Jakob, der darauf bestanden hatte vorauszugehen, mit Besorgnis in der Stimme um.

      »Der Weg ist weg.«

      »Wie ... weg?«

      Jemand hatte die Felskante auf einer Länge von zehn Ellen gewaltsam abgebrochen, bis dicht an die Leitung, augenscheinlich hatten fachmännische Hände geeignetes Werkzeug geführt. Nun schwante mir einiges, und mein Herz wurde schwer. Was war zu tun? Der Rückweg war versperrt, wir konnten kein Brett oder Ähnliches holen, um den Abgrund zu überbrücken. Es blieb nichts anderes, als uns an die Seitenwand des Kanals zu klammern und hinüberzuhangeln. Jakob schien von der Bodenlosigkeit wenig beeindruckt, er ging nicht davon aus, dass Gott seine Agenten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abstürzen lassen würde. Ich vermochte dem jungen Mann kaum zu folgen, setzte langsam Hand um Hand und sang leise vor mich hin: »Du hast mich aus dem Schoß meiner Mutter gezogen, Du hast mir Geborgenheit geschenkt an ihrer Brust, Dir bin ich anvertraut von Jugend an, von Geburt an bist Du mein Gott.« So schaffte ich es, meinen Schwindel über dem Abgrund zu bezwingen. Der weitere Weg bot keine Hindernisse mehr, und als wir die Zisterne erreichten, offenbarte sich uns der Grund für den umsichtigen Abbruch des Zugangs.

      Dorthin hatten sich acht Familien und ein paar Einzelne geflüchtet, die in stickiger Enge lagerten. Sie hatten mir nichts von ihren Plänen erzählt. Wir ihnen nichts von unserem. Die Mienen hellten sich jedoch auf, als sie unser ansichtig wurden. Den Anführer bei sich zu haben, mochte ihren Hoffnungen neue Nahrung geben. Es bedurfte keiner besonderen Einfühlung, um zu wissen, von welcher Absicht und welchem Begehr ihre Herzen bewegt wurden. Sie begehrten ein langes jüdisches Leben. Für den Fall, dass Gott ihnen ein solches gewähren wollte, waren sie ihm so weit entgegengekommen wie irgend möglich. Sie hatten ihn um Überleben angefleht, indem sie ihm eine Rettung erleichterten. Vielleicht würden sie irgendwann an die Sonne klettern, wahrscheinlicher aber war, dass sie längst verdurstet waren, wenn die letzten Schakale aus dem Tross abzogen. Fünf von ihnen verstarben aufgrund der Entbehrungen und Verwundungen während meiner Zeit in der Zisterne. Ich besuchte jede der Familien, die auf die zwei Räume verteilt waren, sprach mit ihnen als Rabbi.

      In der Versammlung der Ältesten, die nach meinem Herumkriechen zusammenhockte, bestätigten sich meine Eindrücke. Es war längst, vermutlich vor dem Aufbruch aus der Stadt, festgelegt worden, wer wen zu töten hatte, falls die Römer sie entdecken sollten. Ein jüdisches Leben wäre dann nicht mehr möglich, egal welches Schicksal den Einzelnen traf. Kein Gebot könnte mehr beachtet werden, sie müssten alles, was ihnen heilig war, mit Füßen treten. Das Leben als Gottesdienst wäre beendet. Also wollten sie sich Gott anvertrauen, um ihn über ihre Not zu befragen. Sie waren nie auf die Idee verfallen, sich mit dem Gedanken an ein mögliches gottfernes Leben unter den Römern überhaupt zu befassen. Wenn der Geist zum Sterben in Knechtschaft verurteilt war, sollte die Hülle des Körpers Folge leisten, denn wozu gab es sie noch? Mein Beitrag zu dem Gespräch bestand in der Mahnung, die Rede von Sünde und Strafe, die ebenfalls angeklungen war, zu mäßigen. Es gebe zwischen ihren Sünden, welcher Art immer, und der Strafe des Untergangs der Stadt und des Landes kein Verhältnis, das dem Wesen Gottes entspreche. Wir seien mit Gott im Gram vereint. Die Sünden, die den Krieg heraufbeschworen, führten zu selbst auferlegten Strafen. Gottes Liebe sei davon unberührt. Er werde seine Kinder unter allen Umständen in die Arme schließen. Nach dieser ersten und letzten Zusammenkunft beteten wir lange.

      Jakob und ich bekamen die besten Plätze zugewiesen, direkt am Eingang, ein Mädchen mit kugelrundem Bäuchlein uns gegenüber. Ich fühlte mich ausgeschüttet, wie verlorenes Wasser, als hätten sich alle Glieder aufgelöst, mein Herz zerschmolzen wie Wachs. Unser Plan war in sich zusammengefallen, kaum dass wir an seine Ausführung gegangen waren. Natürlich mussten wir mittun und auf den Abzug der Römer hoffen. Und wenn die Freiheit winkte, so hatten Jakob und ich ein ganz anderes Leben vor uns, als wir uns das gedacht hatten. War das denn eigentlich zu beklagen? Keineswegs. Langsam ging es mir besser. Ein junger Sohn Jotapatas, dem kaum der Bart flaumte, der jedoch die geheimen Schliche kannte, auf denen man sich zwischen den Felsen zurechtfand, wurde regelmäßig durch ein erweitertes Regenloch zum Spähen ausgeschickt. Zwei Tage schien alles gutzugehen, die Römer schleiften die Stadt und bauten ihre Maschinen ab. Sie suchten gewiss nach dem jüdischen Strategen, die Schicksalswaage blieb in der Schwebe. Bis zum dritten Tag.

      Das schwangere Mädchen war verschwunden. Frühmorgens wurde sein Fehlen bemerkt. Es dauerte kaum bis Sonnenaufgang, dass sich draußen großes Geschrei erhob. Die Römer hatten uns gefunden. Die werdende Mutter war geflohen, weil ein Wesen, das dabei ist, Leben weiterzugeben, nicht zugleich mit dem Wesen den Tod finden darf, das dabei ist, lebensfähig zu werden.

      Ich musste ziemlich lange hinübergestarrt haben, dorthin, wo die junge Frau ihren Platz gehabt hatte, ehe mir etwas auffiel. In der Wand, an die sie sich gelehnt, klaffte ein Spalt. Befand sich dahinter ein Hohlraum, ein Gang, durch den sie geflüchtet war? Aber nein, warum sollte sie sich tiefer verkriechen? Ich hatte nach meiner Ankunft in Jotapata sämtliche Wasservorräte und Zisternen gründlich inspiziert und alle Wände abgeklopft. So auch hier. Ich musste etwas übersehen haben. Das machte mich stutzig. Das mögliche kleine Versagen weckte meine Neugier. Ich kroch hinüber, zwängte mich durch die schmale Öffnung und konnte mich dahinter aufrichten.

      Tatsächlich, ein Weg zwischen Felsen hindurch, keine Anzeichen von Werkzeugspuren, meine ersten Schritte wurden noch vom schwachen Schein des Eingangs erhellt. Obwohl meine Wissbegierde wuchs, setzte ich die Füße sorgsam, um meinen Augen Zeit zur Gewöhnung zu geben. Es ging mählich bergab, immer schneller traute ich mich vor. Wieso konnte ich überhaupt etwas sehen? Von den Wänden schien ein Schimmer auszugehen. Ich trat nahe heran und der Stein zeigte sich durchsetzt von feinen Linien, die Lumen in sich trugen. Sie waren miteinander verbunden wie ein Nervengeflecht, und meine Finger spürten eine verhalten glühende Wärme.

      Ich wanderte lange hinab, ich kann nicht sagen, wie lange, es zog mich unwiderstehlich voran. Was erwartete mich? Welche Erkenntnis harrte meiner in der tiefsten Höhle der Welt? Dass ich dahin unterwegs sei, verstand ich von selbst. Die Felsen traten nach und nach zurück, auch ging mir das Gefühl für eine Decke verloren. Dafür spürte ich ein sachtes Rumpeln in Abständen, gefolgt von einem leichten Beben. Nach einer Weile blieb ich stehen und hob den Kopf.

      Über mir spannte sich eine weite Höhle, ein riesiges Gewölbe, dessen Höhen und Wände von Glimmer durchzogen waren. In der Spitze, ganz nach oben jedoch, erblickte ich ein ungeheures Herz, um das sich das Leuchten ballte. Es hing mächtig im leeren Raum und bewegte sich langsam, wie mühselig. Wenn es zögernd endlich schlug, schien es sich aufzubäumen, und ich spürte das Zittern der Felsen durch meine Füße. Da überkam mich ein Wasserfall des Begreifens. Der Berg war die versteinerte Geschichte der Menschheit, das Schimmern in den Adern waren die zu reinem Leid zusammengepressten menschlichen Verbindungen und das Herz versorgte sie mit der Kraft des Ertragens. Es nährte ihre Leidensfähigkeit. Einst war es das Herz einer Menschheit gewesen, dessen hoffnungsvoller Puls davon kündete, dass die Zukunft erstrebenswert sei. Inzwischen hatte es sich zum Herzen der Qual gewandelt. Es lebte nur noch dem Schmerz, so gut es das