Von der Entstehung des Christentums. Beate Braumann

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Название Von der Entstehung des Christentums
Автор произведения Beate Braumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783844244649



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hingegen verabschiedete ich in kurzer Zeit eine größere Anzahl von Sterbenden durch einen Blick in ihre Augen. Dazu gehörten nicht nur Juden, sondern auch die bis zum Tod feindlichen Fremden. Und bei diesen Menschen in höchster Not, besonders wenn ihr Ableben auf meine Befehle hin oder in meiner Verantwortung erfolgte, sah ich, kurz bevor die Seele den Körper verließ, wie die Vorhänge plötzlich zerfaserten, und erkannte für kurze Augenblicke, was sie verdeckt hatten. Während meine Blicke die Reste der fadenscheinigen Schleier durchschauten, gewahrte ich auch, dass sie aus dem kostbarsten aller Stoffe gewebt waren, aus reiner Scham.

      Was ich beim Auszug der Seelen vorfand, sollte mir als Basis dienen, endlich das oft schon Angedachte zu Ende zu denken. Ich sollte unverblümt zur Kenntnis nehmen, wie es um die Gottsuche auf meiner Erde bestellt war. Ich sollte aus den Augen der Sterbenden den nötigen Befund erheben und bedenken, was er bedeutete und wonach er verlangte.

      Der Befund lautete: Das, wozu das menschliche Leben geschaffen wurde, hat nicht stattgefunden.

      Ich habe das Unerfüllte in den verlöschenden Augen gesehen. Darin die Qualen der Enttäuschungen. Das Abwärts der Ernüchterung, das mit der Kindheit begann, ist in Erwartung des Todes unten angekommen. Wer die Augen schließt, tut dies in seinem Blühwillen versehrt. Für die meisten ist ihr Leben wie ein Wintertag bei den Skythen, kurz, finster und schmutzig. Ein Sturz durch die Zeit, den keiner unbeschadet übersteht. Das war es, sagt das Abgelebte zum Sterbenden, die ganze großartige Schöpfung ist gegeben worden, um in etwas derart Armseligem zu fruchten. Darin besteht das Walten und Werden des schön geordneten Kosmos, dass er zur Blüte etwas so Missgestaltetes wie das menschliche Dasein austreibt.

      Von Kindesbeinen an mit dem Fruchtwasser der Selbstschädigung genährt, begibt sich der Mensch auf eine Reise in die Lebensverwüstung. Jahrtausende erlebter Unfähigkeit reihen sich aneinander. Daraus erlöst zu werden, schreit seine Seele zu Gott. Aber wie zum Hohn treten Welterlöser gleich im Dutzend auf. Ihre überwältigenden Triumphe befördern die Zerstörung der Zukunft, und die Wahrheitstüchtigkeit ihres Mordens wächst ins Unendliche. Der Zeitraum, in dem ein Erlöser geboren und sein letzter Priester verscharrt wird, ist für die Gottsuche verloren.

      In den Schriften der Juden stehen bewegte Klagen über die Vielfalt der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit geschöpflichen Tuns. Sinnschwund und Sinnsturz bestimmen das Lernen im Leben. Endgültig erlischt der Sinn in den Ergebnissen des Werdens. Sie preisen deshalb die Toten glücklicher als die Lebenden und höher als beide den, der nicht ins Dasein trat und das üble Geschehen nicht sah, das vorgeht unter der Sonne. Jeder Tag Leid. Alles ist eitel, zu vereiteln ist nichts. Das ist Wahnsinn. So steht es geschrieben.

      Der Annäherung an Gott ist ein solches Leben nicht dienlich. Die Seelen werden isoliert, Kontakte sind heikel und schwer herbeizuführen. Vertraulichkeiten sind äußerst selten und ein vernünftiges Zusammenwirken fast ausgeschlossen, selbst unter Freunden und Eheleuten. Gottsuche ist auf den urtümlichen Zustand der privaten Ermittlung zurückgeworfen und unterliegt den Gefahren und Pro-blemen der Idiotie in scharfem Ausmaß.

      Am gruseligsten für den Berichterstatter während der Beweisaufnahme sind die Gedanken von Leuten, die ich die »Endzeitherbei-zwinger« nenne. Sie verdingen sich gern an machtgierige Gottlose, denen sie willkommene und nützliche Deppen sind. Selbst Rabbis können dazu gehören. Ausgehend von dem Gedanken, dass das Unrecht auf der Erde seinem höchsten Ausmaß zustrebt und deshalb ein Eingreifen Gottes kurz bevorstehen muss, schlussfolgern sie, dass sie als Auserwählte Gott zu einem vorgezogenen Eingriff nötigen können, indem sie das Unheil mit allerstärkster Grausamkeit und Gefühllosigkeit auf die Spitze treiben. Je mehr Gewalt sie verursachen, denken sie, desto eher kommt die Erlösung. Es muss alles zerstört werden, damit das Neue kommen kann. Gott hat da gar keine Wahl. Bei der Ausmalung der endzeitlichen Rachebilder sind die Zügel der Phantasie hingegeben. Gott als blutgeiler Baal, als Spiegelbild des eigenen Irrsinns. Nach dem großen Aufräumen soll als Belohnung ein paradiesisches Leben beginnen auf einer neuen Erde, unter einem neuen Himmel, zu dem ausschließlich die Auserwählten Zutritt haben werden.

      Die Gotteserpresser wollen das Ende der Welt herbeizwingen und über das Leben von Myriaden Mitgeschöpfen verfügen, die sie nicht kennen. Mit solcher Lebensverneinung sind sie bereit, die gesamte Schöpfung Gottes verlustig zu geben. Ab in den Orcus mit ihr, als wäre sie das stümperhafte Werk eines unfähigen Demiurgen, dem der Obergott endlich den Befehlsstab aus der Hand nimmt. Dass sie selbst die Stümper sind, wird nicht gesehen. Es ist das der tiefste Abgrund an Schöpfungsverachtung, in den ich blicken musste.

      Jegliche Hoffnung der Erdlinge erweist sich als Selbsttäuschung mit der Aufgabe, den vergeblich Hoffenden leidensfähiger zu machen. Ihre unentwegt gläubigen Erwartungen sind bei den Begüterten zu Mumien der Hoffnung geschrumpft, doch auch deren ausgepichtetste gehört zum Kehricht des Unerfüllten. Das Freiheitsgebot der Schöpfung hat im Ordnungswalten des Kosmos eine Missbildung aus falschem Denken zugelassen, das sich für ein paar Jahrtausende austoben darf. Es wächst zu einem Geflecht heran, das nach eigener Logik alles widersprechende Denken als unlogisch mit sich befiehlt. Der, dem es glückt, der Gewalt und dem falschen Denken zu entrinnen, hat einen so langen Kampf zu bestehen und soviel von sich hergeben müssen, dass er schließlich verbittert und kraftlos daraus hervorgeht.

      Das gottferne Denken führt zu Taten, die in keinem angemessenen Verhältnis zu den Gesetzen Gottes stehen. Dadurch erblüht eine Kultur des Unangemessenen, die in der wahnwitzigen Gewissheit gipfelt, dass die Menschheit das Diadem der Schöpfung sei. Als ob das Nichts ein Kleid bräuchte, wird von jeder Generation an der Fama von der einzigartigen und einmaligen kosmischen Stellung weitergesponnen. Ein Wunderwerk Gottes, geschaffen zur Erkenntnis und Sinnfindung, weiß mit sich nichts Angemessenes anzufangen. Kaum verstehen sie die einfachsten Dinge, und was auf der Hand liegt, finden sie nicht. Sie betrachten nicht, was sie tun, und begreifen daher nicht, was ihnen geschieht und warum. Sie erheben ein imaginäres Schicksal zum Herrn des Verfahrens und schieben ihm die Verantwortung unter den Sessel. Das Maß an Weisheit, welches dauerhaft zur Teilnahme an Gottes Schöpfung befähigt, das Minimum Sophiae, die Mindestvernunft, wird nicht erreicht. Was wird aus einem Agenten der Schöpfung, der sich für die Gottsuche als unfähig erweist? Welche Metamorphose wird kommen?

      Das Nichtigkeitserleben frisst sich durch bis zum Grund der Seele. Dazu kommen die Erfahrungen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und umfassenden Alleinseins. Müdegehetzt, überbürdet und verstört erstarrt die Seele allmählich. Nicht mal das kleinste Gefühl regt sich mehr. Was noch bleibt bis zum Sterben, ist die zu völliger Ruhe gekommene Gleichgültigkeit nach innen und außen. Grundlos treibt alles dahin, entwertet ist jede Bewegung, durch nichts als Zufall gemischt. Und wenn dann das Sein zu Staub zerfällt, als wäre nie etwas gewesen, wird dies als echte Erlösung herbeigesehnt und begrüßt. Der Hauch, der alles verweht, tut der Seele einen Gefallen. Den einzigen, der ihr je erwiesen wurde. Meine Erde ist ein Ort, auf den eine Seele sich anfangs freute und dem sie am Ende entkam.

      Das waren meine Gedanken in jener letzten Nacht von Jotapata. Ich hatte das kleine, unverzichtbare Gepäck geschnürt, das ich am dringendsten Euch, liebe Seelen, vorzulegen hatte, um es in die Reifung des Kosmos einzubringen. Es wird deutlich, warum ich meinen Bericht hier beginne und auf welches Fundament von Erkenntnis mein weiteres Nachleben gegründet ist. Die Begleitung der Sterbenden hat mich gelehrt, mein Denken auf nackten Felsen zu bauen, ohne Siedlungsschichten zwischen mir und dem Stein.

      Eines gab es in Jotapata nicht. An keiner der dunklen, verschmutzten Wände stand mit Kreide geschrieben »niemand weiß von mir«, wie ich es einmal als junger Mann anderswo gesehen hatte.

      *

      Als ich nach der kurzen Rast aus unserer Bleibe hinaustrat, fand ich eine mildnächtige Idylle vor, die dem Verhängnis der Stadt präludierte, und die Tiefe der Ruhe schien mir von der Unausweichlichkeit des Kommenden zu künden.

      Ich weckte Jakob, wir beteten und machten uns auf unseren Schleichweg. Fürs Erste mussten wir jeden Kontakt mit dem Feind vermeiden. Wir hatten uns der Belagerung mit drastischen Mitteln widersetzt, und wenn wir auf jemanden trafen, dessen Kamerad von kochendem Olivenöl überschüttet worden war, stand zu fürchten, dass er vor dem Abstechen nicht zu sprechen war. Egal, ob die Prämie für einen lebenden Feldherrn höher ausfiel als für einen toten. Auch konnten