Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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mit schwacher Stimme. „Großer Gott, dein armer Sohn wird lügen müssen, wenn man ihn fragt, wo Papa zurzeit arbeitet.“

      Er wandte mir das Gesicht zu, und ich musste tief durchatmen, um mich nicht augenblicklich auf ihn zu stürzen. Man hört nicht auf, jemanden zu lieben, bloß weil er ein gewissenloser Halunke ist, und es sah an ihm alles so vertraut aus, dass ich hätte losheulen können. Die mittlerweile schwarz-grau melierten Haare, der Leberfleck auf der Wange, die schiefe Brille. Aber irgendetwas passte nicht ins gewohnte Bild. Nur was? Ich grübelte noch darüber nach, als er mit belegter Stimme loslegte. „Solltest du ihn vor mir sehen, sag ihm, er soll schneller in die Pedalen treten, wenn ihm sein Leben lieb ist. Er hat mir vor ein paar Tagen den Laptop geklaut. Sag ihm, ich zeig ihn an, wenn er sowas noch mal durchzieht. Ich habe endgültig die Faxen dicke!“

      „Sag’s ihm doch selbst. Ich habe nämlich auch die Faxen dicke, und zwar davon, die Einzige zu sein, die sich um Eiko sorgt und ihm hinterherjagt. Du strengst lediglich deine Zunge an, um mir die Ohren vollzujammern, aber hast du auch nur einen Versuch unternommen, deinen Sohn zur Vernunft zu bringen? Mann, Uwe, wenn wir ihn nicht bald stoppen, versaut er sich seine Zukunft. Willst du das? Kann es sein, dass du dich eher damit abfindest, dass Eiko deine Wohnung als Supermarkt betrachtet, als ihm auch nur ein einziges Mal persönlich auf die Finger zu klopfen? Schwing deinen Hintern aus dem Sessel. Hol dir den Laptop zurück.“ Ich starrte ihm demonstrativ auf den Bauch, und er zog ihn prompt ein. Uwe ließ sich so leicht manipulieren, dass ich nie widerstehen konnte, seine Grenzen auszutesten. Er rächte sich mit gelegentlichen Überraschungsangriffen wie seiner Trennung von mir. „Und kauf dir ein Rennrad mit Zehnganggetriebe, sonst hast du gegen Eikos Waden keine Chance.“

      Die Sachbearbeiter hatten aufgehört, die Monitore anzustarren, ihre Blicke flogen nun zwischen Uwe und mir hin und her. Offenbar kannte doch noch nicht jeder unsere verzwickte Familiengeschichte. Es war mir egal. „Übrigens finde ich seinen unerwarteten Wiederzugriff auf die Errungenschaften der Neuzeit ziemlich hoffnungsvoll. Vielleicht zwingt ihn der Laptop in die Realität zurück. Vielleicht spielt Eiko sogar mit dem Gedanken, vorzeitig sesshaft zu werden. Er braucht Strom, ein regensicheres Dach über den Kopf, einen Drucker, einen Tisch zum Draufstellen, einen Stuhl zum Sitzen. Internetanschluss! Hey, je länger ich darüber nachdenke, desto begeisterter bin ich. Zu deinen Gunsten hoffe ich, du hast den Laptop nicht mit Pornos vollgemüllt. Dein Sohn ist noch keine sechzehn!“

      „Ha, ha, ausgesprochen witzig. Ich pinkel mir vor Lachen gleich ins Hemd. Und was das andere betrifft. Einen Laptop kann man sich auf die Knie stellen. Strom zum Aufladen des Akkus gibt’s auf jedem Campingplatz. Dein Sohn hat ein regensicheres Zelt - nämlich meins - und fürs Internet braucht man schon lange keine Telefonbuchse mehr. Aber du verstehst nicht, worum es eigentlich geht, verdammt noch mal. Dein Sohn hat meinen Laptop geklaut. Ein wahnsinnig schnelles Multimediagerät mit soviel Speicher, dass du ihn mit Nichts vollmüllen kannst. Das Ding war so teuer wie ...“

      „Die Urlaubsreise mit deiner letzten Tussie auf die Malediven?“, unterbrach ich zuckersüß.

      Ingeborgs Augen funkelten vor boshaftem Vergnügen. Und dabei war heute erst Mittwoch. Was für Pikanterien würde die Woche sonst noch zutage fördern? „Und ich verstehe dich gut, du sprichst wie immer laut genug. Nur deine Logik macht mir Sorgen. Wenn dein Sohn deinen Computer klaut, was ich sehr wohl begriffen habe, warum jammerst du mir die Ohren voll und holst dir das Scheißding nicht einfach wieder zurück? Wieso werde ich das Gefühl nicht los, du schiebst die ganze Verantwortung, einschließlich der Schuld für alles in der Vergangenheit Schiefgelaufene und alle zukünftigen Schlappen, mal wieder mir in die Schuhe?“

      „Das müssen wir hier wohl nicht vor allen Leuten ausdiskutieren.“

      Ingeborg, die mit einer Pobacke auf ihrer Schreibtischecke hockte, starrte stirnrunzelnd auf seinen melierten Schopf hinunter, und auch die anderen wirkten nicht erfreut über dieses Ausbremsen eines vielversprechenden Streits.

      „Wo sonst? Wenn dein Telefon klingelt, guckst du zuerst aufs Display. Erscheint meine Nummer, gehst du nicht ran. Deine Mailbox ist ausgeschaltet, und sobald ich an der Haustür klingele, behauptet deine Nachbarin, dich schon seit Jahren nicht mehr gesehen zu haben. Als Reaktion auf meine Telegramme, wir müssten uns endlich wegen Eiko zusammensetzen, schickst du eine blödsinnige Hochrechnung mit dem Fazit, der Fall regele sich in einem Jahr ohnehin von selbst. Weißt du überhaupt, wie leicht ein weiteres Jahr Herumstromern das Leben deines Sohnes vollständig verpfuschen kann? Ich finde das Jobcenter geradezu ideal, um unsere Probleme auszudiskutieren. Gibt es nicht ohnehin eine neue Direktive von oben, bei uns Hilfeempfängern das häusliche Umfeld und den Freundeskreis abzuchecken. Also Leute, da vor euch sitzt der eine Teil meines häuslichen Problems. Teil zwei kann ich euch leider nicht vorführen, er ist ein wenig rastlos zurzeit. Ich hoffe, du notierst dir das, Ingeborg.“ Es war die Sache mit dem Glashaus und den Steinen, das wurde mir klar, sobald ich die letzte Silbe ausgesprochen hatte.

      Ingeborg Schulze wurde dienstlich. Die nächste halbe Stunde, während die anderen drei die Köpfe einzogen, um nicht versehentlich von der Schärfe ihrer Stimme enthauptet zu werden, unterzog sie mich einem Verhör der dritten Art.

      „Wo hast du dich in den letzten sechs Wochen beworben?“ Ich ratterte guten Gewissens die Liste meiner Bewerbungen herunter. „Ist das alles? Warum nicht als Spendensammlerin fürs Rote Kreuz?“ „... als Putzfrau?“ „... als Müllsortiererin?“ „... Erntehelferin?“ „... Klinkenputzen?“

      Uwes Kopf verschmolz beinahe mit seinem Bildschirm, während Ingeborgs Fragen wie Maschinengewehrfeuer gegen meine Trommelfelle ratterten. Zeit zum Antworten gab sie mir nur bis zum ersten halben Satz, dann schoss sie, ganz die in Verhören versierte Kripobeamtin, die nächste Frage mitten in die Erklärungen. Mit ihren Kripokollegen hatte sie verstockten Straftätern gegenüber bestimmt gern guter Bulle/böser Bulle gespielt, und es bedurfte wenig Menschenkenntnis, ihre Lieblingsrolle zu bestimmen. Meine Fassung begann zu bröckeln, und ab irgendeiner Frage aktivierte ich meinen schalldichten Schutzschirm und starrte auf ihre Kinnlade, die, wie das Kinn einer Bauchrednerpuppe, hoch und runter klappte, hoch und runter und immer wieder hoch und runter. Ich fragte mich, wie viele Zähne ich ihr ausschlagen musste, damit sie endlich Ruhe gab und mich zu den anderen Leichen in ihren Aktenschrank kehrte.

      Die Angestellte am Fenster, eine junge Hübsche, begann Uwe böse Blicke zuzuwerfen. Sie schien ihm seine vornehme Zurückhaltung übel zu nehmen. Immerhin wurde da gerade die Mutter seines Sohnes weggeputzt. Der männliche Sachbearbeiter zählte wie Uwe die Pixel auf seinem Monitor und bewegte nur stumm die Lippen, als betete er für meine oder seine Erlösung. Ich konzentrierte mich darauf, Uwes Hinterkopf zu fixieren. Irgendetwas passte nicht ins vertraute Bild. Etwas war anders an ihm.

      Schließlich drang Ingeborgs Stimme noch einmal zu mir durch.

      „Hast du eigentlich schon die Eingliederungsvereinbarung unterschrieben? Nein? Na sowas. Aber guck mal, rein zufällig habe ich schon eine vorbereitet. Hier, siehst du, da steht dein Name drauf, und dass du dich verpflichtest, bis zum nächsten Termin den Nachweis über dreißig Bewerbungen zu erbringen. Ich will zehn Bewerbungen auf Stellen, die die Arbeitsagentur im Internet veröffentlicht hat und den Rest als bunte Mischung aus Zeitarbeitsstellen, Minijobs und natürlich sozialversicherungspflichtigen Arbeitsangeboten. Unterschreib! Da! In deinen nächsten Bewerbungen möchte ich lesen, dass du den potenziellen Chefs anbietest, zwei Wochen unentgeltlich für sie zu arbeiten. Damit sie dich ausprobieren können, ohne die Katze im Sack zu kaufen. - Und solltest du in den kommenden vier Wochen nicht fündig werden, fährst du ganz einfach nach München. Dort gibt es einen Professor an der Uni, der 99,9 Prozent der Arbeitslosen, die wir ihm schicken, vermittelt. Für arme Hartz IV-Würstchen wie dich macht er das sogar umsonst, was keinesfalls üblich ist. Dafür sitzen du und der Prof ganz gemütlich hinter einer Glasscheibe, und vor der Glasscheibe sitzen all die kleinen Studenten und Studentinnen, die noch viel, viel lernen wollen, bevor sie sich in ein paar Jahren ebenfalls ins Heer der Arbeitslosen einreihen dürfen. Aber keine Bange, auf deiner Seite der Scheibe hörst du ihr Gegnicker gar nicht, großes Ehrenwort. - War noch was? Ach ja, ein paar Zuweisungen habe ich auch noch für dich.“

      Dann ratterte ein Drucker, und ich stand wieder vor der Tür, mit