Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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Internet und las alles über die fachgerechte Einbalsamierung von Leichnamen. Nicht ohne Stolz stellte ich fest, dass ich dank Herrn Kuhns knapper Einführung bereits Expertin war und bei Papst Johannes Paul II am dritten Tag seiner Aufbahrung mangels Embalming Flower die ersten Totenflecke aufgetreten seien. Kuhn wäre diese Schlamperei nicht unterlaufen.

      Thanatologie stellte sich als das Studium aller todbezogenen Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Erscheinungen heraus, Modern Embalming als die mir schon bekannte Leichenkonservierung im Dialyseverfahren - Einbalsamierungstinktur rein, Blut raus - und ein Thanatopraktiker war der Experte auf diesem Gebiet. Er sorgte dafür, dass bei der Aufbahrung alle Gliedmaßen an den ihnen zugedachten Stellen saßen. Wenn nicht, tauschte er sie aus und nähte sie da wieder an, wo sie hingehörten. Da auch Pathologen Flüchtigkeitsfehler unterliefen, drehte er Schädeldecken um und wechselte vertauschte Zehen aus. Darüberhinaus trug er dafür Sorge, dass eine Leiche weder zum Himmel stank noch in der Erde versickerte, bevor ihre Angehörigen einen letzten Blick auf sie geworfen hatten. Im Idealfall war ein Thanatopraktiker oder praktischer Thanatologe ein Bestatter mit einem breit gefächerten Expertenwissen. Er war Anatom, Pathologe, Bakteriologe, Chemiker und Biologe in einer Person, ein Menschenkenner und Psychologe par excellence und beherrschte alle Kniffe der restaurativen Wiederherstellung aus dem Effeff.

      Was dieser Kuhn unter Creative Restoration verstand, konnte ich auf keiner Internetseite finden, und ich schloss das Thema Leichen mit einem Achselzucken ab.

      Später, als der Mond über meine Dachfenster zu wandern begann, kramte ich das Hausbuch deutscher Balladen aus dem Bücherregal und stürzte mich auf die traurigsten. Mir den Tag von der Seele heulen konnte ich jedoch erst bei Conrad Ferdinand Meyers Die Füße im Feuer. Just an der Stelle Gemordet hast du teuflisch mir mein Weib! rollte ich mich auf dem Sofa zu einem Fötus zusammen und schluchzte die Lehne an. Einmal war mir, als bellte es tröstend in meinem Rücken, doch da ausgestopfte Hunde selten bellen, musste das Geräusch wohl vom Storchengrund hoch durchs offene Fenster gekommen sein.

      Als die Sonne den Mond im Wandern ablöste, schlug ich die Augen wieder auf, faltete meine Gliedmaßen auseinander und wankte für zwei weitere Stunden ins Bett. Gegen zwölf trottete ich über die Weserbrücke zur Stadtbücherei, doch nach Straßen und Hausnummern geordnete Adressbücher gab es nur im Archiv nebenan, und an der Tür des Archivs nebenan hing ein Zettel: Wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossen. F.C. zeigte mir huldvoll eine lange Nase, aber eine meiner bestechendsten Tugenden heißt Neugier. Ob es galt, das Geheimnis der Thanatopraxis zu lüften, unter die Bettlaken toter Greise zu spähen oder F.C.‘s ausfindig zu machen, Delia A. Pusch spitzte Augen und Ohren und kippte ab und an um. Ich freute mich schon darauf, Uwe in allen Einzelheiten zu berichten, was der Bestatter mit seinem kleinen Lümmel anstellte, sobald ich ihm - meinem Ex - den Hals umgedreht hatte.

      Ich erwischte einen Bus Richtung Aerzen, stieg an der B1 in Wangelist aus und schlug mich mit dem Pusch’schen Ortungssystem, Marke Zickzack, zum Gamsstieg durch. Eigentlich nur bis zum Habichtswinkel nebenan, einer kleinen bogenförmigen Straße, die an beiden Enden wieder auf den Murmeltierpfad traf. Ich wanderte geduldig im Kreis, bis ich ein Opfer fand. Einen mittelalten Mann mit einer geschulterten Tasche voller Golfschläger. Um nicht gleich mit der Tür ins fragliche Haus zu fallen, bat ich ihn erst um die Uhrzeit, und erst dann, zehn Sekunden später, um Auskunft über F.C. und ihre Villa im Gamsstieg.

      Er musterte mich stumm von den Sandalen bis zum fahlblonden Haar, und ich beeilte mich weiterzureden. „Sehen Sie, ich kenne die derzeitigen Bewohner. Nicht näher natürlich, einfach so, wie man sich vom Sehen und Grüßen eben kennt. Die alte Dame im Rollstuhl meine ich und ihren Butler Bruno. Jedenfalls habe ich mich gefragt, ob sie das Haus wohl verkaufen würde. Ich hätte sie natürlich anschreiben können, aber am Tor stehen nur ihre Initialen, F.C., und ich fürchte, es hört sich ein wenig unglücklich an, den Brief an eine Sehr geehrte F.C. zu richten. Einfach ins Haus platzen möchte ich auch nur ungern, und da dachte ich, ich erkundige mich vorher bei einem ihrer Nachbarn.“

      Unbotmäßig langes Schweigen macht mich immer kribbelig, aber sein Schweigen, in Kombination mit diesem Blick, ließ mich ein Stoßgebet zum Himmel senden, er möge sich am ersten Wort seiner Antwort verschlucken und tot umfallen. Ich jedenfalls wollte nicht hören, was zu sagen er im Begriff stand. Auf das, was kam, war ich allerdings am wenigsten vorbereitet.

      „Guten Tag.“ Er nickte mir kühl zu und stapfte mit den Golfschlägern auf der Schulter seines Armanihemdes an mir vorbei. Sie landeten auf dem Rücksitz eines silbernen Cabriolets, ein satter Motor brummte auf, und während ich noch verblüfft und mit offenem Mund dastand, kam er auf mich zugebraust und bremste abrupt. „Auf diese plumpe Masche fällt bei uns hier oben niemand rein. Ich dachte, ich hätte das heute Morgen schon dem ganzen Rudel dieser Hyänen klargemacht, die mir mit ihren Kameras und Mikrofonen vorm Gesicht rumfuchtelten. Kein Tratsch, keine Interviews, keine Stellungnahmen. Von mir und meinen Nachbarn erfährt niemand auch nur ein einziges Wort und sollte mein Name in irgendeinem Zusammenhang mit dieser Geschichte in irgendeinem Schmierenblatt erscheinen, verklage ich Sie. Ist das klar?“ Er wandte sich erst ab und mir dann doch noch einmal zu, während er den Motor wie ein Pubertierender mehrmals aufheulen ließ. „Ach ja, falls Sie vom Hamelner Kurier sind, wovon ich beinahe ausgehe, weil Sie das Drama ganz offenbar verschlafen haben, richten Sie Ihrem Chefredakteur netterweise aus, er kann sich unser Golfspiel am Samstag in dieselbe Örtlichkeit schieben wie meine Einladung zum Barbecue nächste Woche.“ Dann brauste er endgültig davon, und ich hätte dringend eines Thanatopraktikers mit Nadel und Faden bedurft, meinen Mund wieder zuzukriegen. Während ich mich umblickte, unsicher, ob ich einen neuen Versuch wagen sollte, floh eine kleine, drahtige Frau, die mit einer Heckenschere bewaffnet die Rosen in ihrem Vorgarten anvisierte, eiligst ins Haus zurück. Also ließ ich es. Irgendjemand, so schien mir, verwechselte mich mit einer aufdringlichen Reporterin. Nur warum?

      Das warum eröffnete sich mir an der Ecke zum Gamsstieg. Der Übertragungswagen eines Fernsehsenders brauste an mir vorbei, und die Straße war mit Zigarettenkippen und zerdrückten Coladosen übersät, offenbar die Hinterlassenschaften einer dieser schnellebigen Medienmeetings, die immer dort abgehalten werden, wo Dramen den Alltag sprengen. Ein vergessenes Kabel schlängelte sich den Rinnstein entlang. Gelbe Bänder mit der Aufschrift Achtung - Polizeiliche Ermittlungen sperrten Grundstück und Haus von F.C. ab. Ich blieb mit wackligen Knien am Tor stehen und starrte über das Unkraut, das nun an mehreren Stellen plattgetrampelt war, zum Haus hinüber. Es wirkte plötzlich, als wäre es nach hundert Jahren aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Die Jalousien waren hochgezogen, und die Fenster blinzelten freundlich in die Sonne. Friedlich und einladend sah die Villa aus, und doch musste hinter ihren Mauern Entsetzliches geschehen sein.

      F.C.‘s Prophezeiung ihres baldigen Endes fiel mir ein. Hatte sie Selbstmord begangen? Vielleicht war sie krebskrank gewesen, mit so unerträglichen Schmerzen, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Tabletten zu schlucken oder ein Rasiermesser an den Handgelenken anzusetzen. Doch warum dann das Medienaufgebot? Während mir die Sonne auf den Scheitel knallte, fühlte ich Trauer und Wut in mir aufsteigen. Ich sah sie klein und verloren in ihrem viel zu großen Rollstuhl und wütete gegen mich selbst, dass ich nicht mehr als einen halbherzigen Versuch unternommen hatte, Anteil an ihrem Schicksal zu zeigen. Andererseits hatte ich es immerhin versucht, und war auf Granit gestoßen. Trotzdem war mein ganzes Trachten nur auf eins ausgerichtet gewesen: her mit Scheck und Hund und dann nichts wie weg. Arme F.C.! Armer Bruno!

      Arme Delia! Den Hund war ich schneller wieder los als gedacht. Aus der Traum vom bequemen Reichtum. Tausend Euro, und das war’s dann auch schon. In den nächsten Tagen würde sich der Erbe bei mir melden und den Hund abholen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube und von Zweifeln und Selbstvorwürfen geplagt, trabte ich zur Wangelister Straße zurück und wartete auf einen Bus.

      Zuhause schob ich mir eine tiefgefrorene Lasagne in den Backofen und schaltete den Fernseher ein. N3, das Programm für Niedersachsen, und es dauerte nicht einmal eine Dreiviertelstunde, da flatterte auf dem Bildschirm vor F.C.‘s Villa das Absperrband im gestrigen Abendwind. Das Haus war hellerleuchtet, und Spurensicherer in weißen Schutzanzügen wuselten im Garten herum. In einer Einblendung wurden zwei Särge in einen Leichenwagen ohne Aufschrift geschoben.