Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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in die ehemaligen Räume irgendeiner Akademie. Weißt du, was das Schöne daran ist? Ich bekomme mein eigenes Büro mit meinem eigenen Armesünderstühlchen. Und dann, das ist ein Versprechen von der großen Ingeborg an die kleine Pusch, werde ich viel öfter für dich Zeit haben. Wie wär’s mit alle drei bis vier Wochen?“

      Kurz vor der Kernfusion hatte ich das getan, was ich immer tat, wenn ich gegen eine Person nicht ankam. Ich rächte mich an einer anderen. In diesem Fall an Uwe. Und ja, ich schämte mich dafür, ihn für meinen Hass auf Ingeborg missbraucht zu haben. Andererseits waren mir die Worte ziemlich spontan über die Lippen gekommen, und ich hatte zu dringend ein Ventil gebraucht, um auch nur den Versuch zu unternehmen, meiner vorlauten Zunge Einhalt zu gebieten. „Himmel, jetzt weiß ich, was mit dir nicht stimmt. Du hast dir die Segelohren operieren lassen. All die Jahre habe ich gepredigt Tu es, aber nein, du Feigling hast dich ja nie getraut. Darf ich davon ausgehen, dass du wieder eine neue Freundin hast?“

      Sein hasserfüllter Blick würde mich so manche Nacht qualvoll stöhnen lassen, vor allem, weil ich schamlos gelogen hatte. Seine Segelohren waren nie ein Thema zwischen uns gewesen, ich hätte ihn auch ohne Ohren geliebt.

      Ich starrte auf die Zuweisungen in meiner Hand. Im ersten Fall suchte ein Thanatopraktiker eine 400-Euro-Kraft zum täglichen Einsatz, im zweiten der Friedhof Wehl eine ungelernte Hilfskraft, ebenfalls auf geringfügiger Basis, aber nur für zwei Nachmittage die Woche.

      Ich rettete mich nach Hause zu meinem treuen Hund.

      4.

      Ich beeilte mich den Friedhof anzurufen. Ingeborg würde mich in Zukunft mit Zuweisungen überschütten, bis ich darunter erstickte, also bot sich schnelles Handeln an. Zwei Nachmittage die Woche Grabpflege konnte ich aushalten, das Geld würde ich behalten dürfen, und meine neue Fallmanagerin gab hoffentlich Ruhe. Nach dem Willen von Herrn Hartz waren die ersten hundert Euro Zuverdienst frei und von dem Rest noch einmal zwanzig Prozent. Was übrig blieb, wurde mit der Stütze verrechnet, doch bei nur zwei Nachmittagen pro Woche würde ich den Freibetrag nicht einmal vollständig ausschöpfen können.

      Pech gehabt! Der Mensch denkt, doch das Jobcenter lenkt. Der Friedhof wollte mich nicht mehr, die Konkurrenz war fixer gewesen. Zwei Ein-Euro-Kandiaten - jung, kräftig, männlich - von ihrem Fallmanager persönlich bis vor die Tür gebracht, der Verwalter überschlug sich vor Begeisterung. Sie durchliefen gerade die übliche Schnellausbildung zum Minibaggerfahrer, und am Nachmittag dürften sie schon die ersten Gräber ausheben. Und nein, zum Unkrautzupfen bringe ihm nämlicher Fallmanager noch eine weibliche Eineurokraft vorbei. Ich gratulierte, und Churchill in seiner Ecke streckte ihm für mich die Zunge raus. Einer Eingebung folgend fragte ich nach dem Namen des Arbeitsvermittlers. Brickenrodt. Uwe Brickenrodt! Dann hängte der Verwalter ein.

      Ich starrte den tutenden Hörer an und schluckte. Großer Gott! Eikos Vater rächte sich für die Segelohren, und so schnell, wie er handelte, musste seine Wut gewaltig sein. Er wusste genau, wie sehr es mich ärgern würde, einen Job anzunehmen, bei dem der größte Teil meines Einkommens mit meinem Arbeitslosengeld II verrechnet wurde. Daher verbaute er mir die akzeptablere der beiden Stellen. Er wollte, dass ich mich jeden Tag auf meinem Weg zu diesem Thanatopraktiker an ihn erinnerte und meine unbedachten Worte bereute. Er wollte mich quälen, doch war das schon seine ganze Rache? Ich kannte Uwe, in diesem Zustand verhielt er sich nachtragender als es einer Ingeborg Schulze auch nur im Traum einfiele. Eine Weile tigerte ich auf der Suche nach dem Fremdwörterlexikon - was zum Teufel war ein Thanatopraktiker? - durch die Wohnung, dann fiel mir ein, dass Uwe es bei seinem Auszug mitgenommen hatte. Ich spielte mit dem Gedanken, ins Internet zu gehen, doch über einer plötzlichen Eingebung vergaß ich es wieder.

      „Ha!“

      Auf der Zuweisung stand, ich hätte mich umgehend mit den potenziellen Arbeitgebern in Verbindung zu setzen, und Uwe neigte dazu, Worte wörtlich zu nehmen. Wenngleich nicht er, sondern Ingeborg mich und meine Akte verwaltete, traute ich den beiden ohne Weiteres ein Bündnis zur gegenseitigen Befriedigung ihrer Rachsucht zu. Umgehend konnte durchaus als sofort interpretiert werden, und ein nicht ganz so umgehendes Verhalten finanzielle, zumindest aber demütigende Konsequenzen nach sich ziehen. Uwe rechnete damit, dass ich diese zweite, für mich nicht akzeptable Stelle, ein paar Tage in ihrem eigenen Saft garen ließ, in der Hoffnung, der Kelch ginge noch einmal an mir vorüber. Uwes Einschätzung war durchaus berechtigt. Ich wollte einen Job, klar doch, aber einen, der es mir entweder erlaubte, mich mit Stumpf und Stiel vom Jobcenter abzunabeln oder aber einen Job, bei dem ich für ein Minimum an Stunden ein Maximum an Geld bekam, das ich auch behalten durfte. Was ich keineswegs wollte, war eine Arbeit, zu der ich jeden Tag antanzen sollte, die mich durch ihre „Geringfügigkeit“ jedoch am Tropf der staatlichen Infusion hängen ließ, und bei der darüberhinaus ein großer Bestandteil meines Lohns am Hartz’schen Daumen klebenblieb und einkassiert wurde.

      „Durchschaut! Dieser Punkt geht an die Kandidatin mit dem Hund“, murmelte ich, stellte mir das Telefon auf den Schoß und rief die Festnetznummer auf der Zuweisung an. Ich bekam einen Herrn Kuhn an den Apparat, der sich so fröhlich anhörte, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Wir redeten eine Weile um den heißen Brei herum, dann fragte ich ihn nach dem potenziellen Aufgabengebiet, und er deutete ein wenig vage an, es ginge um die Versorgung von Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen könnten. Das war okay. Saubermachen, einkaufen, Essen kochen, dachte ich, nichts, was ich mir nicht zutraute.

      Wir einigten uns auf ein Vorstellungsgespräch am selben Tag. Fünf Uhr.

      Ich verbrachte die Zeit bis zum Aufbruch mit Grübeln, rücklings aufs Sofa gefläzt, und blickte durch das schräge Dachfenster den Wolken hinterher. Nichts Neues an sich, aber diesmal quälte mich der tägliche Zuwachs auf meiner Abschussliste missliebiger Mitbürger. Jetzt auch noch Uwe? Ich liebte ihn doch. Trotz allem. Oder nicht? Warum er mich nicht mehr liebte, war mir klar. Ich war zu dick und zu hässlich und absolut unfähig, meinen vorlauten Schnabel zu halten. Dafür konnte er doch nichts. Oder doch? Ich fragte Churchill, aber er hielt sich da raus, und ich dachte, dass sicherste Zeichen für den Anfang vom Ende war, einen ausgestopften Hund um Rat zu fragen. Am Abend zuvor war ich sogar in Versuchung geraten, ihm das Fell zu bürsten, aber meine Nüchternheit und der Gedanke, unter dem Fell auf Haut zu stoßen, die schon seit einem halben Jahrhundert tot war, hielten mich ab. Außerdem mochte ich keine Hunde.

      Mich für Vorstellungsgespräche in eine frauliche Schale zu werfen, hatte ich schon vor längerer Zeit aufgegeben. Röcke trug ich seit Jahren nicht mehr, Stöckelschuhe schon gar nicht, und von Nylonstrumpfhosen bekam ich juckenden Ausschlag. Also zog ich die weiße Hose an, eine dezent geblümte Bluse, die durch ihre Weite perfekt meinen Bauch kaschierte, und nahm mir vor, meine Haare so bald wie möglich in einer Farbe zu färben, die etwas hermachte. Pink oder grün, dieses fahle Blond passte nicht zu meinem Mundwerk. Die vage Erinnerung an eine Intensivtönung, die ich bei Drospa in der Hand gehalten und meines Wissens auch bezahlt und nach Hause getragen hatte, schwebte wie eine Feder durch mein Gedächtnis. Ein Rotton, wenn mich nicht alles täuschte. Irgendwann, in ein paar Jahren vielleicht, wenn mein Selbstbewusstsein wieder auf eigenen Beinen stand, würde ich bestimmt wagen, ihn auszuprobieren.

      In Sandalen stiefelte ich los. Nicht besonders eilig, aber ich brach zumindest auf. Beim letzten Vorstellungsgespräch - Toilettenfrau beim Schützenfest - waren mir erst ein Glas Wein und dann noch einige danach in die Quere gekommen, und ich hatte am nächsten Morgen meine liebe Mühe gehabt, Frau Rodenbergs aufgewühlte Wogen zu glätten. Ich ging den Fußweg unter der Thiewallbrücke entlang, schlenderte lustlos die Weserpromenade hinunter und starrte von der Münsterbrücke eine Weile aufs schäumende Wehr. Hören konnte ich es nicht, hinter mir donnerten die LKWs der Mautflüchtlinge von einer Weserseite zur anderen und strebten den Bundesstraßen jenseits der Stadtgrenzen zu. Trotzdem war es irgendwie romantisch. Wasser hatte schon immer eine verheerende Wirkung auf mich, und rauschendes Wasser - mit Ausnahme der Toilettenspülung - haute mich jedesmal von Neuem um.

      In der Großehofstraße stand in silbernen Schnörkelbuchstaben auf der schwarz gefärbten Schaufensterscheibe eines Fachwerkhauses und, in kleineren Lettern, auf einer schwarz eingefärbten Glastür gleich nebenan: Kuhns