Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

Читать онлайн.
Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



Скачать книгу

Hamelner unruhig auf ihren Stühlen herumzurutschen.

      Pflegeleicht ist unser Sohn nicht einmal im Krabbelalter gewesen.

      Uwes Eltern interessierten sich ebenfalls nicht für das Aufwachsen ihres Enkelkindes. Sie schafften uns einfach aus der Welt, indem sie ihre Hamelner Villa gegen eine mallorquinische Finca eintauschten, mit der Begründung, das Elend nicht mit ansehen zu können. Drei Jahre nach ihrem Umzug kamen sie oberhalb eines Fischerdorfes namens Banyalbufar von der Straße ab und stürzten über eine Felsklippe in die Bucht. Uwe und ich flogen nach Mallorca, standen lange Zeit auf den Felsen und starrten auf den Haufen Blech hinunter, der noch nicht geborgen worden war. Dann flogen wir mit zwei tropfsicheren Transportsärgen zurück nach Deutschland und begruben seine Eltern auf dem Friedhof an der Deisterstraße. Ich persönlich war - nicht nur aus Eigennutz, weil ich kommen sah, was tatsächlich kam - der festen Überzeugung, sie wären auch tot lieber auf Mallorca geblieben, doch Uwe verbiss sich geradezu in Hameln und schritt hoch erhobenen Hauptes den Särgen auf dem Weg zu ihrem Grab hinterher. Seine Eltern bekamen ein derart teures Begräbnis, dass wir uns noch Monate später beinahe ausschließlich von Nudeln mit Tomatensauce ernährten. Da sie kurz vor ihrem Tod ihr Vermögen in einem spektakulären Aktienschwindel verloren hatten, trugen sie selbst nichts dazu bei, sich angemessen unter die Erde bringen zu lassen. Vom Verkaufserlös ihrer mallorquinischen Finca gab Uwe beim Steinmetz zwei Grabsteine in Auftrag. Für jeden einen. Mit persönlicher Widmung. Für Papa Auf immer unvergessen und In ewiger Liebe auf Mamas Stein. Ich schluckte und schwieg. Doch als zusätzlich noch ein überlebensgroßer, weinender Engel auftauchte, die ringenden Hände gen Himmel gereckt, bekamen wir den ersten großen Streit unserer Beziehung, nach dem tagelang Funkstelle herrschte und wir weiter Nudeln mit Tomatensauce aßen.

      Nach dieser wahren Eruption seiner postmortalen, steinernen Elternliebe ging Uwe übergangslos zum Tagesgeschehen über. Die Grabpflege oblag mir, und mit jeder meiner Aufforderungen, mich wenigstens zu begleiten, wuchs die Liste seiner nur mühsam zu widerlegender Ausflüchte. Es kostete mich weniger Energie, mit Eiko allein zum Friedhof zu fahren, als Uwe moralisch niederzuringen. Ab seinem zehnten Lebensjahr blieb mein Sohn den Toten ebenfalls fern. Warum auch sollte er auf einer unbekannten Oma und einem fremden Opa Unkraut jäten?

      Fünf Jahre später kam der Absturz unserer Familie. Uwe holte seine DVD’s ab und teilte mir die endgültige Trennung mit. Ich zerschlug das Tafelservice seiner Eltern, das sie uns gnädigerweise vor ihrem Umzug nach Mallorca überlassen hatten, Teller für Teller und Tasse für Tasse. Uwe beschuldigte mich, an der Entfremdung zu seinen Eltern schuld gewesen zu sein, ebenso an ihrer Auswanderung und damit auch indirekt an ihrem Tod. Ich warf ihm den miesen Sex und seinen schwächlichen Charakter vor. Er rächte sich mit dem Verdacht, ich sei absichtlich und gegen seinen ausdrücklichen Willen schwanger geworden.

      Dann klappte die Tür zu, und auf meiner Seite der Leprastation starrte ich noch immer gegen das Holz.

      Ich vermutete, dass meine Eltern noch lebten. Etwa einmal im Jahr gingen wir wortlos in der Fußgängerzone aneinander vorbei, das letzte Mal im vergangenen Herbst. Falls sie mittlerweile verstorben waren, hatte man versäumt, mich zu benachrichtigen. Nach der unerfreulichen Konfirmationsbegegnung hatten sie aufgehört, Eikos Geburtstage mit einer Karte zu würdigen.

      Jemand stieß mich mit dem Ellenbogen an, und ich schrak aus meinen düsteren Gedanken auf und wusste einen Moment lang nicht mehr, wo ich war.

      „Hey, wer träumt denn hier am hellichten Tag? Wenn das nicht die kleine Pusch ist.“

      Ich erstarrte. Die Stadt verfügte über einen Fundus von mehr als sechzigtausend Einwohnern, die Eingemeindungen mitgezählt, aber das Schicksal schickte mir ausgerechnet Ingeborg Schulze mit ihrem Stockmaß von ein Meter neunzig und den drei Zentnern Lebendgewicht vorbei. Ihre tiefe Stimme dröhnte über den Flur und tötete in Nullkommanichts jede andere Unterhaltung. Alle Köpfe fuhren herum, hier gab’s vielleicht was zu lachen in all der Tristesse.

      Äußerlich hatte sie sich seit der Schulzeit kaum verändert. Die weißblonden Haare fielen ihr noch immer in Locken bis auf die Schultern, und ihre großen, blauen Babyaugen starrten einen noch immer mit diesem trügerisch unschuldigen Blick an. Zwei Zentner weniger, mit oder ohne ihre sadistische Ader, wäre sie nach mitteleuropäischer Norm eine durchaus attraktive Frau gewesen.

      „Was machst du denn hier?“, startete ich den Gegenangriff, in der Hoffnung, aufgerufen zu werden, bevor es an mir war, meine Lebensgeschichte in aller Öffentlichkeit platt zu walzen. Ingeborg Schulze war diejenige meiner Klassenkameradinnen gewesen, die ich am meisten gehasst hatte, was damals ganz offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte, so oft, wie sie mich in den Schwitzkasten nahm. Darüberhinaus gab es noch heute auf meiner Kopfhaut ausgesprochen sensible Stellen, und ich wusste nie, ob sie in Erinnerung der ausgerissenen Haarbüschel schmerzten oder weil Nervenschäden zurückgeblieben waren.

      „Ich? Du meine Güte, ich arbeite hier. Früher war ich bei der Kripo in der Lohstraße, aber der Job hat mich auf die Dauer gelangweilt, und ich dachte, schau doch mal beim Jobcenter vorbei.“ Das Haus erbebte, als sie sich schwer auf den Stuhl neben mir plumpsen ließ. Ihre schwere Hand tätschelte meinen Oberschenkel, und ich wagte nicht, mich zu rühren. Erst jetzt sah ich den Aktenstapel auf ihrem überquellenden Schoß und schauderte unter bösen Ahnungen zusammen. Der Name auf der oberen Akte lautete Delia A. Pusch, Bedarfsgemeinschaft Nr. ... Es folgte eine endlose Aneinanderreihung unsinniger Zahlen und Buchstaben. Panik überkam mich. Was machte die Schulze mit meiner Akte? Konnte es sein, dass sie ...?

      Nein, nie im Leben! Ich wusste zwar, dass die zuständige Schicksalsgöttin gern Schabernack mit mir spielte, aber ums Verrecken würde sie nicht so weit gehen.

      Oder doch?

      „Ist das nicht erstaunlich, wie sich nach all den Jahren unsere Schicksale wieder kreuzen? Weißt du noch, wie du mir die Reißzwecke auf den Stuhl gelegt hast?“ Die anderen Hartz IV-Opfer im Flur hielten den Atem an. Reißzwecke auf Stuhl klang vielversprechend, doch Ingeborg Schulze beabsichtige offenbar nicht, ihren Wissensdurst zu stillen. „Okay, dann wollen wir mal.“ Sie schaukelte sich auf ihrem Stuhl in Position und schlug meine Akte auf. „Mein Name ist Schulze, ich bin deine Fallmanagerin im Jobcenter. Nun erzähl mal brav, welche Anstrengungen du seit deinem letzten Auftritt hier bei uns unternommen hast, in Lohn und Brot zu kommen? Nur zu, keine falsche Bescheidenheit. Ich höre.“

      Ich starrte sie ungläubig an. „Moment mal, meine Jobvermittlerin heißt Rodenberg, und ich weigere mich aufs aller Entschiedenste, sie gegen dich einzutauschen. Ohne persönlich werden zu wollen, Ingeborg, aber du und ich, wir beide mochten uns noch nie. So etwas nennt man Befangenheit, und zwar eine doppelseitige. Ich verlange eine Fallmanagerin, der ich keine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt habe. Die Rodenberg! Wir schwimmen auf der gleichen Wellenlänge, verstehst du? Ich bewerbe mich, und sie behandelt mich fair. Wie ein Mensch, nicht wie ein Hartz IV-Empfänger. Außerdem denke ich nicht einmal im Traum daran, mich von wem auch immer auf dem Flur abfertigen zu lassen. Ich bin durchaus für eine gläserne Bürokratie, aber deine Vorstellung davon geht mir entschieden zu weit.“ Ich geriet zunehmend in Fahrt. „Warum fertigt ihr uns nicht gleich auf der Rathausterrasse ab? Der Rattenfänger flötet die Nationalhymne, und anschließend treten wir Hartz IV’ler mit Hand aufs Herz zum Fahneneid an: Ich schwöre beim Bart des Propheten, dass ich mich bewerbe und nichts als bewerbe, so wahr mir Gott helfe. Vergiss es. Ich will Frau Rodenberg. Ich will in ein Büro.“

      Ein beifälliges Raunen pflanzte sich den Flur hinunter. Auch ich war nicht unstolz auf mich, wenn auch ein wenig außer Atem nach meinem spontanen Plädoyer für die Rechte der Geknechteten. Eine der zahlreichen Lebensphilosophien meines verstorbenen Großvaters lautete: Erfolg ist eine Frage des Auftretens.

      „Du willst nicht in mein Büro, vertrau mir. Sieh es als Akt der Barmherzigkeit an, wenn ich dich hier draußen oder auf der Rathausterrasse abkanzele. Und was Frau Rodenberg betrifft, so hat sie leider die Seiten gewechselt.“ Ingeborgs dröhnendes Lachen ließ alle die Köpfe einziehen. „Dummerweise ist sie zu euch faulem Gesindel übergelaufen. Oh, Entschuldigung, das war politisch wohl inkorrekt. Ich meinte natürlich, zu euch armen, halb verhungerten Sozialfällen, die ihr so fleißig sucht und doch nicht fündig