Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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Fahrrad neben dem Pulk der übrigen Fahrräder, die ausnahmslos unter überladenen Gepäckträgern ächzten. Ein Schild mit Pfeil, auf dem Selbstbedienung stand, lotste mich in die Gaststätte und dort an den langen Tresen. Eine ältere Frau blickte mir erwartungsvoll entgegen.

      „Hallo. Ich hätte gern ein Radler. Ein großes Radler.“ Ich deutete mit den Händen die Größe an. Obgleich ich während der Fahrt einen halben Liter Wasser getrunken hatte, war meine Kehle vom Nachdurst wie ausgetrocknet. „Außerdem würde ich Sie gern was fragen. Ich weiß nicht, ob Sie das waren, mit der ich heute Morgen telefoniert habe, aber ich suche den Jungen mit den Rastalocken.“

      Sie lachte. „Eiko? Sie sind seine Mutter, nicht? Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Ihr Sohn sitzt draußen im Garten. Haben Sie ihn denn nicht gesehen?“

      „Er sitzt draußen? Eiko? Wo denn?“

      Sie verrenkte sich den Hals, um aus einem der Fenster zu spähen, und ich tat es ihr gleich. Sie deutete auf einen abgelegenen Tisch am Zaun zur Ponyweide. Ein halb ausgetrunkenes Spezi hielt einsam Wacht. Der Gesichtsausdruck der Wirtin änderte sich. Für das Mitleid in ihrem Blick hätte ich ihr gern gegen das Schienbein getreten, doch sie und mich trennten der Ausschank. „Tja, tut mir leid, eben war er noch da.“

      Ich musterte den Tisch, das Spezi und den leeren Stuhl, auf dem Eiko gesessen haben sollte, ich musterte die dicke Kastanie, hinter der der Stuhl stand. Die Erkenntnis traf mich wie ein Vorschlaghammer, und ein, zwei Züge lang bekam ich nur mit offenem Mund Luft. Über eine Stunde hatte ich stramm in die Pedalen getreten und alles nur, um in meinem Ärger über die fröhlichen Zecher, durch das verächtliche Abwenden vom Trubel, meinen Sohn einfach zu übersehen. Er hingegen hatte mich natürlich auf der Stelle erblickt und Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

      „Sein Spezi ist noch da“, bemerkte die Wirtin, im vergeblichen Bemühen, dieser Versagerin von Mutter etwas Tröstliches zu bieten.

      „Ja, das sehe ich, aber es wird mir wohl kaum antworten, wenn ich es frage, wo sein Besitzer abgeblieben ist. Irgendwelche Vorschläge?“ Eine rein rhetorische Frage, auf die ich nicht ernsthaft eine Antwort erwartete.

      Die Wirtin zuckte die Achseln. „Richtung Hameln auf dem Radweg. Oder hoch ins nächste Dorf. Oder er setzt mit der Fähre über.“

      „Die Fähre!“ Natürlich! Vor meinen Augen mit der Fähre überzusetzen, während die genasführte Mutter am Ufer vor Wut brüllte, würde Eiko gefallen. Es war sein Stil.

      Ohne mich, du Satansbraten, dachte ich erbost, stürmte jedoch im selben Augenblick auch schon los und sprintete zum Anleger hinunter.

      Sollte ich ihn wider Erwarten doch noch erwischen, würde ich einfach das tun, was ich in seiner Kindheit offenbar versäumt hatte. Ihn mir übers Knie legen und nach Strich und Faden vermöbeln.

      Die Fähre jedoch tuckerte bereits das gegenüberliegende Ufer an. Mitten drauf stand eine einsame Gestalt. Sie hielt ein Fahrrad mit schwarzen Packtaschen am Lenker, hatte rote Rastalocken und drehte mir den Rücken zu.

      „Eiko Pusch! Auf der Stelle kommst du ...“ Ich brüllte, wie ich noch nie gebrüllt hatte, und meine Stimme überschlug sich noch vor dem letzten Wort. Es gab kein zurück mehr.

      Es war der Fährmann, der reagierte. Er schoss alarmiert aus seinem Kabäuschen, sagte etwas zu dem Jungen und deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich. Ich sah Eikos verfilzte Rastalocken fliegen, als mein Sohn vehement den Kopf schüttelte, dann gab ich auf. Dem Bauern auf seiner Bank war der Bissen im Hals stecken geblieben. Er starrte mich beunruhigt an. Ich schleppte mich zum Fährhaus zurück, holte mir das Radler vom Tresen, ohne der Wirtin in die Augen zu blicken, und versteckte mich ganz hinten im Biergarten. Weit entfernt von den glücklichen Menschen. Als die Fähre am jenseitigen Ufer anlegte, hob ich das Glas und prostete meinem Sohn zu, der sich in den Sattel schwang und in Richtung AKW davonradelte. In fünf Tagen, am kommenden Sonntag, wurde er sechzehn Jahre alt, und gleichzeitig jährte sich seine Flucht.

      „Du kannst mich mal.“ Dann verschwamm mir die Sicht.

      3.

      Diesmal wachte ich nüchtern auf, allerdings mit dem beklemmenden Gefühl drohenden Unheils. Durch ein umfangreiches Waschprogramm und ein Müsli mit frisch geschnippeltem Fruchtsalat zögerte ich meinen Aufbruch so weit wie möglich raus, doch schließlich, so gegen halb elf, sah ich den Tatsachen ins finstere Auge und stiefelte los. Nach Fahrradfahren war mir heute nicht, ich trödelte lieber und versuchte im Jobcenter nicht anzukommen.

      Es war nur ein weiterer mieser Tag in Folge.

      Die Schlange an der Anmeldung tröpfelte nur widerwillig ab, doch dann stand auch ich auf einmal vor dem Tresen und holte mir durchs Plexiglas die Erlaubnis, eine Etage höher erneut zu warten. Ich ließ mich auf einem am Boden festgeschraubten Plastikstuhl nieder. Hier einfach nur herumzusitzen, in meinem eigenen Elend und dem Elend der anderen ringsumher, deprimierte mich zutiefst. Böse Erinnerungen frischten sich auf, was mich nicht weiter verwunderte. Das Jobcenter und die politischen Hintermänner, die ab und an aufmunternd an den Fäden derjenigen zupften, die hier ihre Machtgelüste austoben durften, trugen schließlich die Schuld an meinem ganzen Schlamassel.

      Schon bevor die Hartz IV-Gesetze in Kraft traten, gingen dank ihrer etliche Ehen, Partnerschaften und Wohngemeinschaften auseinander, und es kam im ganzen Land zu einem hektischen Getrenne und einem Ansturm auf Singlewohnungen, die der gesetzlichen Norm entsprachen. Nicht mehr als zwei Zimmer, nicht größer als maximal fünfzig Quadratmeter. Das Problem war die radikale Streichung staatlicher Unterstützung für arbeitslose Hilfeempfänger, wenn im selben Haushalt ein Verdienender über einer bestimmten Gehaltsgrenze lebte. Das galt für Ehemänner, Partner und alle, die sich aus einem gemeinsamen Kühlschrank ernährten. Also auch für Uwe und mich, die wir nie geheiratet hatten. Natürlich gab es Schlupflöcher und eifrige Advokaten, die sich für uns nur allzu gern vor die Schranken eines Gerichtes gestürzt hätten, aber wir dachten, den Staat auf billigere Weise austricksen zu können.

      Als sich Eiko vor knapp siebzehn Jahren, der Pille zum Trotz, in meinem Uterus einnistete, suchten wir uns eine gemeinsame Wohnung, ganz kuschelig oben unter der Schräge, mit Blick auf die Hügel des Wesergebirges, und zogen gemeinsam ein. Uwe war eigentlich nur auf einen Sprung aus Hamburg heruntergekommen, um gemeinsam mit seinen Eltern sein BWL-Examen zu feiern. Ich wohnte noch auf dem elterlichen Bauernhof in Selxen, einem kleinen Dorf wenige Kilometer von Hameln entfernt, und gammelte nach dem Abitur und einer Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau antriebslos in der Stadt herum. Tagsüber in Eiscafés und abends in den Kneipen. Schon damals haderte ich mit den Widrigkeiten meiner Existenz. Ich wollte in keinem Reisebüro versauern, ich wollte keine Kühe melken, ich wollte gammeln und leiden. In der Alten Post in der Hummenstraße lernte ich während einer Hillbilly-Nacht Uwe kennen. Wir tauschten erst allgemeine Informationen, dann unsere Körperflüssigkeiten aus, und Eiko baute sich gegen alle Regeln der Medizin sein Nest.

      Unsere Eltern verziehen uns nie. Uwes nicht, weil sie mir das Ende seiner noch nicht einmal begonnenen Karriere anlasteten. Meine Eltern hingegen weigerten sich schlicht, eine Ehe anzuerkennen, die kein Standesbeamter besiegelt hatte. Als es ihnen nach dreizehn Jahren zum ersten Mal einfiel, Eiko persönlich kennenzulernen, rannten sie nach dem Konfirmationsgottesdienst gegen eine Mauer aus Eis und zogen bedröppelt wieder ab. Alle waren sich einig, der Junge zahlte mit gleicher Münze heim. Wie ihr mir so ich euch. Doch das stimmte wahrscheinlich nur zum kleineren Teil, wenn überhaupt. Die Weite von Eikos Toleranzgrenzen hatte mich von jeher überrascht, und ich konnte mich an kein böses Wort gegen seine treulosen Großeltern erinnern, die sich bis zu diesem Moment für den Kontakt mit ihm ausschließlich der Post bedient hatten. Doch was ihn ganz offenkundig erboste, und zwar schon, bevor er Oma und Opa die Hand geben sollte, war der schwarze Anzug für kleine Manager, in den Uwe seinen Sohn gesteckt hatte. Die Krawatte unter dem weißen, gestärkten Hemdkragen, die er ihm eigenhändig band. Schließlich sollte sich sein Sohn beizeiten an die Kleiderordnung eines Managements gewöhnen, dessen Höhen er selbst nur einmal kurz hatte erschnuppern dürfen. Eikos Gesichtsausdruck nach - zusammengepresste Lippen, schmale Augen - hasste er diesen Anzug, in den ihn ein ungewöhnlich