Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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noch Heroin noch experimentierte er mit Fliegenpilzen oder Purpurweiden herum. Er las auch nicht Huxley oder Carlos Castaneda. Er holte sich seine psychedelischen Kicks schlicht und ergreifend beim Radfahren.

      Seine einzige Verbindung zur realen Welt bildete eine kleine rechteckige Plastikkarte, mit der er Schlösser knackte und Geld aus dem Automaten holte. Sein Vater überwies ihm Unterhalt auf ein Konto, und ich stockte auf, soweit ich konnte. Von dem Geld auf dem Konto zahlte er seine Übernachtungen, aber für den sonstigen Bedarf zog es Eiko vor einzubrechen, unsere Kühl- und Kleiderschränke zu plündern, Seife vom Wannenrand und die Käsecracker direkt vom Teller zu klauen. Er lebte sparsam.

      Keiner von uns beiden hatte ihn je in flagranti erwischt. Erwischt hatte ich mich lediglich selbst, und zwar bei der Eifersucht, dass er nicht nur mich, seine leibliche Mutter beklaute, sondern auch diesen Kerl, der mich zwei Monate nach Eikos Ausstieg endgültig gegen ein gemütliches Junggesellenleben mit wechselnden Freundinnen eintauschte. Ausgezogen war er schon vorher. Nach siebzehn Jahren friedlichen Zusammenraufens, in denen wir nie auf die Idee gekommen waren zu heiraten. Wir lebten einfach unter einem Dach und zogen unser Kind groß. Bis Hartz IV kam und mir die staatliche Unterstützung zu streichen drohte, weil Uwe nach Meinung des Staates ausreichend verdiente, seine kleine Familie allein durchzufüttern. Da zog er aus und suchte sich Hals über Kopf eine eigene Wohnung, so schnell, dass mir ganz eigenartige Gedanken kamen. Sie bewahrheiteten sich an dem Tag, als er seine DVD-Sammlung abholte und ganz nebenbei unter unsere Beziehung einen Schlussstrich zog. Er habe eine andere.

      Ich schlich durchs Treppenhaus in der Hoffnung, mit meinen verschwiemelten Augen ungesehen entkommen zu können. Dann schlich ich wieder hoch, weil mir die offenen Dachfenster einfielen und die Kaffeemaschine, die noch immer leise vor sich hinröchelte. Ich taperte von Zimmer zu Zimmer, und wieder überkam mich das deprimierende Gefühl, durch eine verlassene Leprastation zu irren. Alle anderen waren als geheilt entlassen worden, nur ich Aussätzige hatte zu bleiben, bis mir Nase, Ohren und Brüste abgefault waren.

      Zugegebenermaßen war es eine Leprastation mit Ausblick. Aus den Giebelfenstern überblickte ich ab dem Süntel nordwärts alle Hügel des Wesergebirges und darüber einen Himmel, der Zweidrittel des Bildes für sich beanspruchte. Trotzdem kam ich mir vor wie Hermann der Cherusker, der an der Porta Westfalica auf immer zu steinerner Untätigkeit verbannt seinem Sieg über Varus hinterhertrauert. Die guten alten Zeiten waren vorbei. Es gab Stunden, da geriet ich in Versuchung, Eiko nachzueifern und aus diesem Jammertal des Lebens einfach auszusteigen. Es musste ja nicht der Radweg sein, ich könnte zum Beispiel den Kamm des Wesergebirges entlangwandern, Hügel für Hügel, bis ich auf dem letzten Hügel, dem Jakobsberg oberhalb von Porta, ankam. Dann könnte ich über die Weser aufs Wiehengebirge spucken, auf den Hacken kehrtmachen und zurückwandern. Tag für Tag und Jahr für Jahr.

      Doch im Gegensatz zu Eiko fehlte mir der Mut.

      Es war ein Fehler, einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen, bevor ich erneut die Tür hinter mir ins Schloss zog. Rotäugig, x-beinig und die Schultern auf Höhe der Brüste, das typische Bild der Delia A. Pusch an einem depressiven Katermorgen wie diesem. Es nützte auch nichts, mir die fahlblonden Haare zu einem Pferdeschwanz hochzubinden oder mich mit meinen haselnussbraunen, von schwarzen Wimpern beschatteten Augen zu trösten, denen es nicht besonders schwer fiel, One-Night-Stands an Land zu ziehen, auch wenn ihnen die Fähigkeit festzuhalten offenbar abging. An diesem Tag allerdings mochten sie nicht einmal einen Blinden becircen, verborgen in all dem aufgedunsenen Fleisch.

      Mein Hollandfahrrad lehnte wie gewöhnlich an der Garage zum Nachbargrundstück. Während alle anderen Fahrräder unter Büschen und Bäumen im tiefen Schatten standen, ließ ich meins in praller Sonne leiden. Warum sollte es ihm besser gehen als mir? Meistens sah es ohnehin so aus, wie ich mich fühlte: alt, verschlissen und schmutzig.

      Wie immer, bevor ich auf Jagd ging, hatte ich vorher herumtelefoniert. Daher wusste ich, dass Eiko die vorletzte Nacht in Polle und die letzte auf dem Campingplatz des Grohnder Fährhauses verbracht hatte, demnach also weserabwärts Richtung Hameln unterwegs war. Ob ich ihn erwischte, hing von seinem Instinkt ab. Es konnte sein, dass er mir ahnungslos entgegengeradelt kam, es konnte allerdings auch sein, dass er mich mehr oder minder erwartete und mit Uwes Fernrohr irgendwo auf der Lauer lag und den Radweg beobachtete. Als ich ihn das erste Mal, kurz nach seinem Verschwinden, jagte - es war ebenfalls Hochsommer gewesen - begegneten wir uns tatsächlich. Auf dem schnurgeraden Weserdamm bei Tündern. Er radelte Richtung Hameln, ich kam von dort. Wir erkannten uns zur selben Zeit und reagierten beide hektisch. Eiko mit einer abrupten Kehrwendung, bevor er - ein Zentaur aus Fleisch, Reifen und Rost - davonraste, und ich mit Gebrüll und verzweifeltem Hinterherstrampeln. Ich stand in den Pedalen und nahm, jenseits aller Vernunft, von ohnmächtiger Wut getrieben, die Verfolgung auf. Vierzig Kilometer lang schnaufte ich wie ein Walross hinter ihm her, obgleich ich ihn die letzten dreißig Kilometer nicht einmal mehr sah. Wahrscheinlich hatte er sich längst seitwärts in die Büsche geschlagen. Am Fähranleger in Polle, der Burg geradewegs gegenüber, fielen das Fahrrad und ich einfach um und wurden mit Hitzekrämpfen ins Krankenhaus nach Holzminden abtransportiert. Ich hätte eine Flasche Wasser einpacken sollen, bevor ich bei über dreißig Grad den Schatten eines Phantoms jagte.

      Die Fahrradsaison war längst in vollem Gange. Ich hatte noch nicht einmal die Stadtgrenze erreicht, als mir auch schon die ersten Radwanderer mit entschlossenen Mienen und dickem Gepäck entgegenstrampelten. Sie mussten vor Tau und Tag aufgebrochen sein und sahen so proper und fit aus, dass ich mich noch elender fühlte. Fröhliche Grüß Gotts, Hallos und Hi‘s schallten mir entgegen - einmal sogar ein Pfiat di von jenseits der Weißwurstgrenze - doch ich fühlte mich nicht in der Stimmung zurückzugrüßen. Mir war danach, mein Kind zu verprügeln, meinem Exmann mit einer Schrotflinte den Kopf wegzublasen und anschließend mit mir selbst die Flusskrebse zu füttern. Sogar die Krähe, die sich mit einem kleinen Aal im Schnabel kopflastig gerade noch ans Ufer rettete, bevor sie wie ein Lehmklumpen auf die Kiesel klatschte, vermochte mich an diesem Tag nicht aufzumuntern. Die Moral dieser Aktion - du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst - widerte mich an.

      Der erste Teil des Weserradwegs führte unmittelbar am Fluss entlang, und beim Anblick der glitzernden Wasseroberfläche überkam mich die katermäßige Gier, ihn restlos auszutrinken. Um ein Haar wäre ich bereits im Biergarten der Tündern’schen Warte vor einer eisgekühlten Apfelschorle gestrandet, doch zu Eikos Pech hatte er noch geschlossen.

      Dann kam Tündern, ein großes Dorf mit jeder Menge Neubauten in Sicht, und ich hatte die ersten sieben oder acht Kilometer geschafft, ohne mich besser zu fühlen. Auf dem Tündern’schen Weserdamm wühlte ich mich durch eine Herde blökender Schafe und hob willig meinen Hintern aus dem Sattel. Wenn die Evolution geplant hätte, dass sich der Mensch eines Tages aufs Fahrrad schwang, hätte sie mit Sicherheit seine verwundbarste Stelle nicht gerade zwischen den Beinen plaziert. Während die Schafe um mich herumblökten, besah ich mir die Villen, die wie Schnüre aufgereiht hinter dem Damm lagen. Ich würde es mir niemals leisten können, ein viergiebeliges Haus in vornehmer Schräge auf einem großen Gartengrundstück mit Teich und quakenden Fröschen zu bauen. Mit Balkonen im Obergeschoss, die in alle vier Himmelsrichtungen wiesen und der Sonne keine Chance zum Entkommen ließen.

      Es gab keinen Zweifel, ich spielte im falschen Film die falsche Rolle. Statist statt Akteur. Wenn man von dem Glückstreffer absah, dass ich mir am Vortag einen Tausend-Euro-Scheck verdient hatte. Ich würde ihn bar bei der Post einlösen, damit der Betrag nicht auf einem meiner Kontoauszüge erschien. Im Internet kursierte die Geschichte eines Göttinger Hilfeempfängers, der bei der Abgabe seines Hartz IV-Folgeantrags sämtliche Kontoauszüge des letzten Vierteljahres hatte vorlegen müssen. Er wurde prompt der Schwarzarbeit überführt.

      Ich versuchte so wenig wie möglich über die Hundeangelegenheit nachzudenken, doch das flaue Gefühl blieb. Tausend Euro im ersten Monat, tausendfünfhundert für jeden weiteren, das ergab summa summarum für - sagen wir mal ein halbes Jahr - achttausendfünfhundert Euro, ein Vermögen für eine arme Arbeitslose. Doch was tat ich als Gegenleistung? Ich hütete einen ausgestopften Hund, der weder fressen noch trinken noch Gassi gehen wollte und im Gegensatz zu mir nicht einmal bellte. Ich hütete einen toten Hund, den ich später an einen Erben weiterreichen sollte, der angesichts des Gegenstandes seiner Erbschaft mit Sicherheit