Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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Eisenbahnbrücke in die Brennesseln abdrängte, ärgerte ich mich gerade über F.C.‘s alberne Geheimniskrämerei bezüglich ihres Namens. Und wie ließ sich die kryptische Andeutung interpretieren, ihr Tod werde in den Medien Aufsehen erregen? Üblicherweise erregte das Ableben derjenigen Aufsehen, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. Wer war F.C.? Eine schrullige, inkognito lebende Schriftstellerin, die außer mir jeder im Land kannte? Oder eine Milliardärin? Ich nahm mir vor, das Rätsel zu lösen. Als Anhaltspunkt gab es immerhin zwei Buchstaben, einen Butler namens Bruno und eine Adresse.

      Die Eurobahn donnerte auf ihrem Weg nach Bad Pyrmont über die Brücke, und ich zog wie üblich den Kopf ein. Manchmal quälte mich die Vorstellung einer begierig vor sich hinschnaufenden Lokomotive, die nur darauf wartete, dass sich eine gewisse Delia A. Pusch der Unterführung einer Eisenbahnbrücke näherte, um sich von oben auf sie herabzustürzen. Eine Art Pendant zu Stephen Kings menschenmordenden Trucks.

      Ich trug nur Bermudashorts, und meine nackten, von den Brennesseln juckenden Waden brachten mich schier zur Verzweiflung, als ich in Hagenohsen, dem nächsten Dorf, wieder auf die Landstraße traf und einen langgezogenen Berg in Angriff nahm. Aus den Wipfeln des bewaldeten Huckels jenseits der Straße ragten Baukräne. Halbfertige Villen lugten zwischen den Bäumen hervor. Auch wer dort oben baute, besaß einen wohlgefüllten Sparstrumpf.

      Aus den Kleingärten unten an der Weser winkte mir ein Mann in Badehose zu. Er hielt einen Rechen in der Hand, und Heugeruch lag in der Luft. Ich seufzte unwillkürlich und blickte rasch wieder weg. War ich tatsächlich schon so tief gesunken, mich am Anblick eines Siebzigjährigen in Badehose aufzugeilen oder einen ausgestopften Hund zu umarmen? Beides war mit Sicherheit keine Lösung für meine Einsamkeit. Ich wollte meinen Sohn zurück, ich wollte Uwe zurück, und es gab sogar Phantasien, in denen ich mir zusätzlich zu Uwe Angelo in der Vorratskammer hielt.

      Mein Problem bestünde darin, nicht loslassen zu können, hatte mir eine Bekannte vor wenigen Monaten erst erklärt, als wir uns auf ein Glas Bier im Sudhaus trafen. Es war unser letztes gemeinsames Bier gewesen, was sie hoffentlich den Unsinn ihres psychologischen Geschwafels lehrte. Ich betrat die Gaststätte nie wieder, aus Angst, Ilona könne nach meinem Gebrüll noch immer wie angenagelt auf ihrem Stuhl hocken.

      Ich wollte schließlich nur, was mir gehörte!

      Hinter dem letzten Haus ging es wieder zur Weser hinunter. Weg von der Landstraße und rein in die Felder. Vom Rausch der Geschwindigkeit inspiriert, passierte ich in flottem Tempo die Kühltürme des Kernkraftwerkes Grohnde, die jenseits der Weser als rauchspuckende Wächter aus einer Schafherde aufragten. Der Zweck dieser Schafe war mir gleich nach Inbetriebnahme des Reaktors klargeworden. Sie dienten dem Direktorium des AKW als lebende Indikatoren für den drohenden Super-GAU. Als unbestechliche, wollige Instrumente auf vier Beinen, die bei Stromausfall nicht abstürzten und keine roten, hektisch blinkenden Lämpchen brauchten. Sie fielen einfach tot um. Beim ersten toten Schaf packte das Management die Aktenköfferchen, beim zweiten schlich es sich durch die Hintertür davon, und wenn es zum Knall kam, zeugte nur noch ein Kondensstreifen am Himmel von seiner Flucht.

      Als ich in der Ferne die schnurgerade Allee ausmachte, die von der Landstraße abging und sich feldergesäumt zur Fähre hinunterzog, begann es in meinem Magen zu kribbeln. Das Fährhaus mit seinem Campingplatz rückte in greifbare Nähe, und ich schickte ein schnelles Stoßgebet zu den Göttern, sie mögen mich mit Erfolg segnen und mir einmal, nur ein einziges Mal, erlauben, meinen abtrünnigen Sohn in die mütterlichen Finger zu bekommen. Allerdings schien mir eher, dass sie sich auf meine Kosten über die erfolglosen Jagden amüsierten. Eiko auf seiner Route zwischen Holzminden und Minden telefonisch zu orten, war dabei das kleinste Problem. Ein Fünfzehnjähriger mit roten Rastalocken und einem Gesicht voller Sommersprossen, der allein auf einem klapprigen Fahrrad durch die Gegend strampelt und immer wieder auf denselben Campingplätzen nächtigt, ist niemand, der sich leicht übersehen lässt. Das Problem bestand lediglich darin, seiner tatsächlich habhaft zu werden. Bisher war es mir nicht gelungen. Die tragikomische Geschichte der Jägerin Delia A. Pusch und ihres windschlüpfrigen Opfers Eiko war wahrscheinlich längst aus der Weser in die Nordsee geschwappt und verbreitete sich gerade über Atlantik und Pazifik in die letzten ahnungslosen Refugien des Erdenrunds. Zur allgemeinen Belustigung oder zum Zwecke der Abschreckung, je nachdem, aus welcher Sicht man es betrachtete.

      Ob es im Internet einen Chatroom für Versager gab?

      Es war Viertel vor elf. Dass mir Eiko auf dem Radweg noch nicht entgegengekommen war, konnte zweierlei bedeuten. Er sauste, von seinem Instinkt gewarnt, längst in Gegenrichtung davon, oder die Campingplatzbetreiber hatten mit ihrer Behauptung recht, er bräche seit einiger Zeit erst gegen Mittag auf und fände sich bereits am frühen Abend wieder auf dem nächsten Platz ein. Die Monate seines ersten Dahinhetzens von Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung gehörten, Gott sei’s gelobt, offenbar der Vergangenheit an. Je strammer seine Waden wurden, desto mehr Tempo nahm er raus.

      Uwe, der Spender des Samens, aus dem diese Unrast entstanden war, schickte mir vor vierzehn Tagen den Computerausdruck einer Hochrechnung zu. Eine unerwartete Antwort auf meine zahlreichen Telegramme, mit denen ich seit zwölf Monaten vergeblich versuchte, sein väterliches Verantwortungsgefühl zu wecken. Vorausgesetzt, Eikos Pensum betrage täglich nur noch sechs Stunden, werde unser Sohn, selbst wenn er seine Fahrzeit um nur eine Minute pro Tag kürzte, in weniger als einem Jahr (genauer gesagt in dreihundertsechzig Tagen) ganz von selbst zum Stillstand kommen. Zumindest interpretierte ich die Zahlenkolonnen dementsprechend, denn ein schriftliches Fazit hatte sich Uwe gespart. Es war auch so der perfekte Freibrief für meinen Ex, den Hintern im Sessel und die Fernbedienung in der Hand zu lassen. Ich hingegen plante keineswegs, Eiko ein weiteres Jahr dabei zuzusehen, wie er mich für was auch immer bestrafte. Darüberhinaus fehlten in Uwes Hochrechnung die geographischen Koordinaten, an denen Eiko aufhören würde, in die Pedalen zu treten. In Minden? In Bodenwerder? In Rinteln oder Hessisch Oldendorf? Oder einfach irgendwo mitten im Nichts? Und was kam als Nächstes? Was schwebte ihm für den Rest seines Lebens vor? Stieg er in ein Paddelboot um? Entschied er sich dafür, in einem Franziskanerkloster Weißbier zu brauen? Oder rammte er an Ort und Stelle einen dicken Pfahl in den Boden und wurde Säulenheiliger?

      Erst kamen die Ponys auf der Weide in Sicht, dann das Grohnder Fährhaus selbst. Das eigentliche Dorf Grohnde, einschließlich des alten Gemäuers der Domäne, lag am jenseitigen Ufer. Die Wellen eines Ausflugsdampfers schwappten gegen das Holz der Fähre. Der Fährmann, kaum älter als Eiko, hob grüßend die Hand, als ich zu ihm hinüberblickte. Ein alter Bauer hockte in seinem Blaumann auf einer Bank im Schatten, eine Bierflasche zwischen den Knien, und biss in ein Butterbrot. Ich stieg ab, überquerte die schmale Straße zum Fähranleger und schlich mich samt Fahrrad um die Ecke der Gastwirtschaft. Im Biergarten, gleich hinter dem Torbogen, schmetterte eine Schar Radwanderer fröhlich unter den alten Bäumen: Schnaps, das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort ... Es war heiß, das Bier ölte die Kehlen, und niemand schien es eilig zu haben. Ich knabberte verärgert an meiner Unterlippe - ausgerechnet heute schien mir die ganze Welt zeigen zu wollen, wie sehr sie sich amüsierte - und drehte ihnen demonstrativ den Hintern zu.

      Der Campingplatz schloss unmittelbar ans Fährhaus an, durch den Weserradweg in zwei ungleiche Hälften geteilt. Auf dem Hauptplatz links standen die Wohnwagen der Dauercamper, rechterhand gab es heckengesäumte Nischen für das durchziehende Volk. Ich steckte meine Nase um jede Hecke einzeln, ich blickte zwischen und hinter die Wohnwagen und war verzweifelt genug, selbst unter sie zu spähen. Eiko fand ich nicht. Er war weg. Mit hängenden Armen stand ich mitten auf dem Radweg, während Hitze und Enttäuschung meine Knochen verflüssigten. Dank Uwes Fernrohr, dank Eikos siebtem Sinn, dank meiner Sturheit, ihn wieder und wieder jagen zu müssen, wahrscheinlich jedoch dank einer Kombination aus all dem, war mir mein Sohn erneut durch die Finger geflutscht und längst über alle Berge. Vielleicht die Allee hoch nach Frenke, ein Stück die Landstraße hinunter und dann einen der Stichwege zurück zur Weser, um mich elegant zu umschiffen. Vielleicht auch einfach in Gegenrichtung auf und davon. Doch es spielte eigentlich keine Rolle, wie er mich ausgetrickst hatte. Wieder einmal war der Versuch meiner Annäherung mit Flucht bestraft worden, und mittlerweile fühlte ich mich weniger wütend als gedemütigt.

      Ich versuchte mich wie die Bezaubernde Jeannie nach Hause