Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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Hameln ereignete sich ein schreckliches Drama. Ein Anwohner, der den ganzen Abend über Licht im Keller des Hauses Gamsstieg 3 sah, versuchte über längere Zeit hinweg vergeblich, seine Nachbarn telefonisch zu erreichen. Als er gegen Mitternacht hinüberging, um nach dem Rechten zu sehen, war die Haustür zwar zu, jedoch nicht abgeschlossen. Aufs Äußerste beunruhigt betrat er das Haus. Im Flur entdeckte er die Leiche eines zweiundachtzigjährigen Mannes, der als Bruno Cassebohm identifiziert wurde und im Wohnzimmer eine tote Fünfundachtzigjährige in einem Rollstuhl. Beiden war aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden. Die Frau werden die älteren Zuhörer unter ihnen vielleicht noch aus den Tagen ihrer Filmkarriere in Erinnerung haben. Es handelt sich bei der Ermordeten um Friederike Kamm, die während der NS-Zeit unter dem Namen Fausta Karmatin ein UFA-Star war und in vielen Spielfilmen die Hauptrolle spielte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verschwand sie vorübergehend in der Versenkung und tauchte erst 1952 in dem MGM-Spielfilm Verlorene Tage in Hollywood wieder auf, wo sie sich Fiona McCullen nannte und eine zweite vielversprechende Karriere begann. Doch auch diese Karriere endete abrupt. Am Abend des 18. Juli 1959 stürmte Fiona McCullen auf eine Party des berühmten Schauspielers Gregory Peck und erschoss unter den Augen von zweihundert hochkarätigen Gästen ihren Gatten, den amerikanischen Produzenten Roger Nelson, durch fünf Schüsse in die Brust. Nach ihrer Tat floh sie, stellte sich jedoch auf Anraten ihrer Anwälte zwei Wochen später freiwillig der Polizei. Vor Gericht gab sie zu, ihren Gatten erschossen zu haben, weil er wenige Stunden zuvor den gemeinsamen Hund durch Rattengift getötet hatte ...“

      Der Rest war mehr oder minder beitragfüllendes Geplänkel, aber viel mehr hätte ich auch nicht verkraften können. Ich starrte das Foto auf dem Bildschirm an, ein PR-Bild aus den Vierzigern, und konnte es kaum fassen. Eine berühmte Filmdiva. Ich erinnerte mich vage, Verlorene Tage gesehen zu haben, eine melodramatische Schnulze aus den Südstaaten, wenn mich nicht alles täuschte, aber der Name Fiona McCullen sagte mir nichts.

      Das Ausmaß der Tragödie wurde mir erst klar, als mein Blick auf den Polski Owczarek Nizinny fiel. Ob sein Frauchen nun Filmdiva oder Toilettenfrau gewesen war, spielte keine Rolle, wohingegen ich mir über die Tatsache, dass man sie aus nächster Nähe geradezu hingerichtet hatte, ein paar Gedanken machen sollte. Wer schoss einer kleinen, alten Frau in einem viel zu großen Rollstuhl und ihrem achtzigjährigen Butler einfach so eine Kugel in den Kopf? Antwort: ein in die Enge getriebener Einbrecher, versehentlich auf frischer Tat ertappt. Doch von Einbrecher und Diebstahl war im Fernsehbericht keine Rede gewesen. Mögliche Alternativen: ein Perverser mit Lust am Töten oder jemand, der gekommen war, etwas zu holen, was es im Haus nicht mehr gab, woraufhin er in Wut geriet. Zum Beispiel einen ausgestopften Hund. Churchill. In diesem Fall würde es einen Sinn ergeben, dass Fiona McCullen ihn auf so merkwürdige Art von mir außer Haus schaffen ließ. Und in diesem Fall liefen ihre kryptischen Anspielungen bezüglich der Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit ihrem Tod schenken würde, auf das Wissen um ihre mögliche Ermordung hinaus. Selbst Brunos letzte Worte ergaben plötzlich einen Sinn. Erzählen Sie niemandem von dem Hund. Trauen Sie keinem.

      Ich starrte Churchill an, und er starrte mit hängender Zunge zurück. Wurde er tatsächlich von einem skrupellosen Mörder gesucht? Und ich vielleicht mit ihm?

      Wie auch immer, Delia A. Pusch, eine vorsichtige Frau, die am Leben hing - trotz allem - würde sich auf der Stelle den Hund unter den Arm klemmen und ihn bei der Polizei abliefern. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, den Scheck zu unterschlagen, schließlich lebten die Einzigen, die von unserem Geschäft wussten, nicht mehr, aber dass ich den ausgestopften Hund einer mir völlig Unbekannten aus reiner Herzensgüte hütete, klang selbst in meinen Ohren unglaubwürdig. Nein, ich würde die tausend Euro wohl wieder herausrücken müssen. Außer Spesen nichts gewesen, ein Spruch, den ich mir gestickt an die Wand hängen sollte. Oder treffender noch: Die Dummen sterben niemals aus.

      Als ich loszog, den Hund in seinem Kopfkissenbezug geschultert, hofften meine Nachbarn bestimmt, der Vermieter habe mich vor die Tür gesetzt, und ich suchte mir nun mit dem Rest meiner Habe ein gemütliches Plätzchen unter einer der Weserbrücken. Frau Reschke unter mir beschwerte sich alle paar Tage. Der Fernseher, die Stereoanlage, vor allem aber mein Herumgerenne Tag und Nacht irritiere sie, und Frau Müller, die ihr gegenüber wohnte, pochte immer dann an meine Tür, wenn ich mir mit meinem Spiegelbild erbitterte Wortgefechte lieferte.

      Ich kam mit dem Hund tatsächlich nur bis unter die Thiewallbrücke. Kaum fünfhundert Meter von meiner Wohnung entfernt, wurde mir bewusst, mit dem Einschalten der Behörden finanziellen Selbstmord zu begehen. Ich würde die ganze Story haarklein erzählen müssen, schon allein deshalb, um nicht als Spinnerin in die Landesklinik eingewiesen zu werden: meine Anzeige in der DEWEZET, Service AG. Aufträge aller Art. Diskretion garantiert, Fiona McCullens Anruf, unser geschäftliches Abkommen, der Scheck, der Hund. Die Polizei würde mich routinemäßig überprüfen, da ich vielleicht sogar die letzte Person im Universum war - außer dem Mörder natürlich - die F.C. und Bruno lebend gesehen hatte.

      Ich befürchtete nicht, auf der Stelle als Doppelmörderin in Ketten gelegt zu werden, o nein, aber die polizeiliche Recherche würde ergeben, dass ich eine aus jener Schar war, die der Staat so großzügig unterstützte, während sie es ihm mit Schwarzarbeit dankte. Eine aus der Schar der betrügerischen Hartz IV-Empfänger, der unverzüglich die Unterstützung zu streichen ist.

      Ich sah Ingeborg Schulzes dämonisches Grinsen förmlich vor mir, den Blick, den sie mit einem gewissen Uwe Brickenrodt tauschte und den großen roten Stempel, der nur ein einziges Wort auf meine geschlossene Akte donnerte: Erledigt! Natürlich konnte ich versuchen, mich mit Unwissenheit, Vergesslichkeit oder einfach damit zu rechtfertigen, dass ich den Scheck noch gar nicht eingelöst hatte, doch meine Glaubwürdigkeit lag nun mal im Ermessen einer gewissen Ingeborg Schulze im Jobcenter, die sich an jede meiner Gemeinheiten aus der Schulzeit erinnerte. Die neuralgischen Stellen auf meiner Kopfhaut fielen dabei bestimmt nicht in die Waagschale. Ingeborg Schulze, soviel stand fest, würde mich durch die behördliche Walze drehen, bis mir mein schwarz verdientes Geld zu den Ohren wieder herausquoll. In den vergangenen Monaten hatte ich eine ganze Latte von Nebenbeiarbeiten verrichtet.

      Egal, von welcher Seite ich es gedanklich durchspielte, und egal, wie sehr ich mir einen großen, starken Beamten mit Totschläger und Pistole an meiner Seite wünschte, blieb mir der Schoß der Polizei doch verwehrt.

      Also trug ich Churchill zähneknirschend in den Storchengrund zurück und schenkte mir ein Glas Beaujolais ein, um die kleinen, grauen Zellen bei Laune zu halten. Es galt, einen Plan zu schmieden, wie ich auch ohne Polizei mit heiler Haut aus der Sache herauskam. In der DEWEZET, die ich Paul, dem schüchternen jungen Mann aus der ersten Etage, von der Türmatte stibitzte, fand ich den gesuchten Artikel bereits auf der Titelseite in einem schwarz umrandeten Kästchen. Dort, wo sonst die Katastrophen der Welt vermeldet wurden.

      Unter der Überschrift Hollywoodstar in Hameln brutal ermordet stand nichts, was ich nicht bereits wusste, mit Ausnahme der Tatsache, dass die Polizei nun doch von einem Einbruchsdelikt ausging, da ein Nachbar zur vermuteten Tatzeit eine verdächtige Person mit einem Sack über der Schulter aus dem Haus kommen und flüchten sah. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Kein Mord wegen des ausgestopften Churchills sondern ein Mord aus reiner Habgier. Die goldenen Kerzenhalter musste ich wohl im Dämmerlicht übersehen haben. Meine Paranoia atmete tief durch und löste sich in Wohlgefallen auf. Bis ich die Zeitungsseite raschelnd umblätterte und das Phantombild entdeckte. Eine dickliche Person mit verkniffenem Gesicht und einem prallen Sack über der Schulter, die auf einem Fahrrad saß. Unter dem Bild stand die Beschreibung:

      „Eine übergewichtige Frau zwischen fünfunddreißig und vierzig, mit schulterlangen fahlblonden Haaren, braunen Augen und einer langen geraden Nase. Bekleidet war die Verdächtige mit einer hellen Sommerhose und einer längs gestreiften Bluse. Sie flüchtete mit der Beute auf einem alten, verrosteten Fahrrad. Bei dem Fahrrad handelt es sich nach Angaben des Augenzeugen um ein Hollandrad der Marke ... (es folgte eine genaue Beschreibung). Hinweise, die zur Ergreifung der Verdächtigen führen, bitte an die folgende Telefonnummer der Soko Fiona ... oder die nächste Polizeistation. Die Stadt Hameln hat für Hinweise, die zur Ergreifung der mutmaßlichen Täterin führen, eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.“

      Ich