Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Название Leben - Erben - Sterben
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623144



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auf dass sie sich läutern und die Arbeit auch wirklich finden. In-cre-di-ble, wie der Engländer zu sagen pflegt!“ Sie betonte jede Silbe einzeln. „Und siehe da, urplötzlich ist sie selbst ein Schaf in meiner großen, glücklichen Herde geworden. Tja, manchmal pisst dir das Schicksal doppelt ans Bein. Aber es wird mir ein Vergnügen sein, ihre verqueren Ansichten von der Welt und ihrer Stellung darin wieder geradezurücken. Apropos wieder Geraderücken: Was hältst du von einem gemeinsamen Mittagessen? Nur du und ich und unsere Erinnerungen. Denkst du noch manchmal an das Kaugummi in meiner Federtasche? Oder daran, wie du mich auf dem Pausenhof angesprungen und mir ein Stück aus der Schulter gebissen hast?“ Es gibt Menschen, deren dämonisches Lächeln ohne Anstrengung überzeugt. Mir war es nie gelungen. Ich hatte es eine Weile an Eiko erprobt, wenn ich ihm ein bedrohliches Tu’s und du wirst schon sehen! übermitteln wollte, mir aber lediglich ein Grinsen eingehandelt.

      Ich spürte die gespannten und hoffnungsvollen Blicke meiner Leidensgenossen rings umher auf mir ruhen. Sie sprachen Bände: Sag ihr, sie kann dich mal. Wehr dich, du feiges Huhn. Tu’s für dich. Tu’s für uns. Beweis uns, dass dieses beschissene Leben noch einen Sinn hat.

      „Über ein gemeinsames Essen können wir sprechen, sobald ...“ Die Hölle zugefroren ist, wollte ich sagen, biss mir jedoch noch rechtzeitig auf die Zunge, da mir mittlerweile eine gewisse Abhängigkeit von ihrem Wohlwollen bewusst geworden war. „... wir uns in deinem Büro befinden. Ich bestehe mit allem Nachdruck auf der Einhaltung des Datenschutzes. Kein Tête-à-Tête im Flur!“

      Ingeborg stemmte sich lächelnd in die Höhe. „Wie du willst, aber es wird dir nicht gefallen.“

      Ich erhob mich ebenfalls, wild entschlossen, meine Würde bis zum bitteren Ende zu verteidigen.

      „Ich ruf dich auf, wenn du an der Reihe bist“, sagte Ingeborg milde, drückte mich auf den Stuhl zurück und tauschte die Akten aus. Meine kam nach unten. „Jemand hier, der Buschhelm heißt?“ Unter ihrem durchdringenden Blick schob sich ein schmächtiger Jüngling Richtung Ausgang. „Hey, wenn Sie der Buschhelm sind, geht’s hier entlang.“ Er erstarrte, die Hand schon auf der Glastür ins Treppenhaus, doch nun zog er sie gehorsam wieder zurück und folgte dem Ruf seines übergewichtigen Schicksals. Entrinnen konnte er ihm nicht, aber vielleicht ließ sich der Schaden begrenzen. Die Blicke, die ihm folgten, schwankten zwischen Mitleid und Angst, diejenigen, die auf mir ruhten zwischen Häme und Verachtung.

      Ich lehnte mich zurück auf meinem angeschraubten Plastikstuhl und versuchte, meine Wut nicht überkochen zu lassen. Die Welt in Vertretung von Ingeborg Schulze war dabei, einen weiteren Nagel in meinen Sarg zu hämmern. Ich konnte nur hoffen, dass er diesmal mein Herz durchbohrte, und die arme Seele endlich Ruhe fand. Hartz IV hatte unsere Familie zerstört, also war es nur recht und billig, dass es mich auch von meinen letalen Qualen erlöste. Als das Gesetz nicht mehr als ein drohender Nebelstreif am Horizont war, rechnete mir Uwe bereits die Unwirtschaftlichkeit seines weiteren Aufenthaltes in unserer gemeinsamen Wohnung vor. Bliebe er, müsste allein er sowohl für die Miete als auch für meinen Unterhalt aufkommen. Zöge er vorübergehend in eine eigene Wohnung, zahle er zwar die Miete für die neue Wohnung, spare sich jedoch den Unterhalt. Schweren Herzens ließ ich ihn ziehen, nahm mir jedoch vor, so schnell wie möglich Arbeit zu finden und zweifelte nicht den Bruchteil einer Sekunde an unserer Partnerschaft. Sobald ich einen Job hatte, würden Uwe und ich offiziell wieder zusammenleben. Natürlich! Was auch sonst? Schließlich wollte ich mit ihm alt werden und nahm wie selbstverständlich an, er mit mir ebenfalls. Doch dann kam alles anders. Uwe nahm die Buchstaben des Gesetzes allzu wörtlich und zog nicht nur auf dem Papier aus. Einige Wochen später verschwand Eiko, und Uwe hob, ohne zu zögern, die Axt, die ihm sein Sohn damit in die Hand gedrückt hatte, und kappte das Band zwischen uns endgültig. Wer seinem Partner siebzehn Jahre lang die eigenen Schwächen frei Haus liefert, fordert im Fall einer Katastrophe die Schuldzuweisungen geradezu heraus.

      Nachdem mich Sohn und Mann auf meiner Leprastation zum Abfaulen zurückließen, fiel ich in ein Loch, so tief wie der Marianengraben. Ich rannte Uwe die Bude ein, ich jagte hinter Eiko her, ich schleppte Zufallsbekanntschaften ins Bett und betrank mich vor dem Fernseher. Arbeit fand ich auf diese Weise keine. Nach wie vor sorgte Vater Staat dafür, dass ich nicht verhungerte, allerdings zum Preis, alle sechs Wochen demütig zu Kreuze kriechen zu müssen. Obgleich ich mit Frau Rodenberg, meiner dritten Fallmanagerin a. D. - ihre Vorgängerinnen hatten das Jobcenter fluchtartig wieder verlassen - tatsächlich einen Glückstreffer gelandet hatte. Allerdings war es auch nicht so, dass ich mich in den vergangenen zwölf Monaten überhaupt nicht um Arbeit bemüht hatte. Ich begann ernsthaft zu suchen, sobald ich anfing, die Wände des Marianengrabens wieder hochzukraxeln. Zurzeit klebte ich irgendwo auf halber Höhe, während unter mir der Weiße Hai sein Maul aufriss, bereit, mich endgültig zu verschlingen, sollte ich erneut abrutschen. Einen Job suchte ich noch immer. Die hohe Arbeitslosigkeit im Landkreis Hameln-Pyrmont hatte auch die Anforderungen an eine Putzfrau oder Küchenhilfe steigen lassen. Ein Stundenlohn von sechs Euro für Fachpersonal mit langjähriger Erfahrung erwies sich als nichts Ungewöhnliches. Natürlich nur auf „geringfügiger Basis“ bis 400 Euro monatlich. Auf diese wenigen Stellen stürzte sich das Heer der Hartz IV-Kandidaten. Diejenigen, die tatsächlich Arbeit suchten und auch diejenigen, denen das Jobcenter ein Feuer unterm Hintern entfacht hatte und mit immer neuen Schikanen am Brennen hielt. Die Arbeitgeber rieben sich die Hände, weil sie keine Sozialabgaben zahlen mussten, und pickten sich aus dem Teig die Rosinen heraus.

      Uwes Leben war auf eine andere, spektakulärere Art den Bach runtergegangen. Er begann seine durchaus hoffnungsvolle Karriere vor siebzehn Jahren als Trainee in der Chemiefabrik Syntho-Lab, bis sie, nur zwei Monate später, ein unglücklicher Trugschluss abrupt beendete. Im Sekretariat der Fabrik erwischte er einen stoppelbärtigen Penner dabei, wie er aus der Portokasse Geld stahl. Eigentlich wollte er ihm lediglich den Arm auf den Rücken drehen und die Polizei rufen, doch sein Griff war so unglücklich, dass er dem Mann die Schulter auskugelte. Noch unglücklicher erwies sich die Tatsache, dass es sich bei dem angeblichen Strauchdieb um seinen obersten Chef handelte, einen Quartalssäufer, der eben nach dreitätigem Saufgelage aus der Versenkung wieder auftauchte, um sich in der Firma das Geld fürs Taxi nach Hause zu holen.

      Zu der Zeit war ich schwanger und jobbte als Aushilfssekretärin in der Müllverbrennungsanlage neben dem E-Werk, und weil Uwe einen Monat nach seinem Rauswurf bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben als Koordinator anfangen konnte, gerieten wir lediglich in einen überschaubaren finanziellen Engpass. Seine Karriere als Betriebswirt hatte er sich jedoch ein für alle Mal vermasselt. Er traute sich nicht einmal mehr zum Managerstammtisch ins Mercure-Hotel, und erst letzte Woche hockte ich im Eiscafé über einem Bananensplit und hörte am Nachbartisch einen Mann im Anzug den Witz über den jungen, ehrgeizigen Trainee erzählen, der diesem Penner von Chef die Schulter auskugelte.

      In den Jahren darauf erwies sich keiner von uns beiden als besonders beständig. Uwe wechselte zur AEG, während ich in einem Reisebüro jobbte, ich arbeitete bei einem Partyservice, während Uwe sich damit abplagte, einem Autoverleih wieder auf die Beine zu helfen. Seit eineinhalb Jahren fand ich nur noch Gelegenheitsjobs, und Uwe war im Straßenverkehrsamt als Sachbearbeiter gelandet. Ich begann mich zu fragen, ob sich mein Ex mit der Überführung seiner Eltern auf den hiesigen Friedhof nicht doch einfach nur an ihnen hatte rächen wollen. Schließlich arbeitete er sich damals schon Stufe für Stufe nach unten, und sie würden tatenlos mit ansehen müssen, wie er schließlich die letzte Stufe der Karriereleiter hinunterstolperte und brutal auf die Nase fiel. Ich wurde das Gefühl nicht los, der Engel an ihrem Grab rang seine steinernen Hände nicht über den Tod der Eltern, sondern flehte zu Gott, ihre Seelen mit Blindheit zu schlagen.

      Als mich Ingeborg Schulze nach einer Stunde Wartezeit in ihr Büro rief, musste ich Uwes Lebenslauf in meinem Kopf einen weiteren Posten hinzufügen. Er arbeitete nicht mehr beim Straßenverkehrsamt. Ich sah seinen breiten Rücken sich an einem der vier Schreibtische versteifen, und die Wände erbebten unter Ingeborgs Hohngelächter. Uwe gab vor, ungerührt weiterzuarbeiten, doch der karmesinrote Nacken verriet seine Bedrängnis.

      „Hab‘ ich nich‘ gesagt, es wird dir nicht gefallen? Ganz und gar nicht gefallen?“, japste Ingeborg und wies auf den einzigen Besucherstuhl. Er stand frei im Raum und ließ sich drehen und wenden, je nachdem, welcher der vier Fallmanager - mit