Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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(Schmücker 2005, S. 7) „Existenz“: Damit ist die Frage gemeint, in welcher Form Werke der Kunst eigentlich existieren. „Identität“: Diese Frage zielt darauf zu verstehen, wie und warum verschiedene Exemplare eines Werkes zusammengehören können und nicht als verschiedene Werke betrachtet werden müssen. Unter diesen beiden Fragerichtungen sollen nun im Folgenden Überlegungen zum Literaturbegriff angestellt werden. Vorher jedoch gilt es, an einem kanonischen Beispiel der Kunstontologie, das bezeichnenderweise gerade in einem dichterischen Werk „erörtert“ worden ist, die Relevanz und sogar Notwendigkeit einer solchen Fragestellung konkret werden zu lassen.

Das Don Quijote-Problem oder der Streit darum, ob man ein Buch zweimal schreiben kann

      Eine frühe Erzählung des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges, die dessen Erzählband Fiktionen (1944) entstammt, trägt den Titel Pierre Menard, Autor des Quijote. An dieser kurzen Erzählung hat sich innerhalb der analytischen Kunstphilosophie ein Streit entfacht, der kunstontologische Fragen im engeren Sinn betrifft. Borges, einer der „Urväter“ der literarischen Postmoderne, ist ein hervorragender Vertreter eines Schreibens, das literarische und philosophische Kompetenzen auf virtuose und zugleich vergnügliche Weise miteinander verbindet. Gerade der „Menard“ und seine Wirkungsgeschichte legen davon Zeugnis ab.

      Berichtet wird im (ironisch gebrochenen) Stil einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Pierre Menard, einem fiktiven Autor des 20. Jahrhunderts, dessen vollständiges Werkverzeichnis das erzählende Ich geben und erläutern will. Dabei kommt der Erzähler schließlich auf Menards Hauptwerk zu sprechen:

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      Dieses Werk, vielleicht das bedeutendste unserer Zeit, besteht aus dem Neunten und dem Achtunddreißigsten Kapitel des Erstens Teils des Don Quijote sowie aus einem Fragment des Kapitels Zweiundzwanzig. Ich weiß, eine solche Behauptung klingt wie barer Unsinn. Diesen ‚Unsinn‘ zu rechtfertigen ist der Hauptzweck dieser Notiz. (Borges 1981, S. 116)

      Die Pointe der Erzählung – wenn es sich denn überhaupt um ein Exemplar dieser Gattung handelt – besteht nun darin, dass das erzählende Ich nicht nur einsichtig zu machen versucht, dass es sich hierbei wirklich um zwei ganz verschiedene Werke handelt, obwohl beide Texte im Wortlaut bis auf den Punkt übereinstimmen. Darüber hinaus lautet das entscheidende Urteil des Erzählers sogar folgendermaßen:

      Trotz dieser […] Hindernisse ist der fragmentarische Quijote Menards subtiler als der von Cervantes. […] Der Text Menards und der Text Cervantes‘ sind Wort für Wort identisch; doch ist der zweite nahezu unerschöpflich reicher.[…] Auch zwischen den Stilarten besteht ein lebhafter Kontrast. (Borges 1981, S. 120, 121, 122)

      Kann ein Text, der in seinen bestehenden Teilen den Teilen eines anderen Textes – sogar einem überaus bekannten und bedeutenden kanonischen Text der Tradition – völlig und ohne Ausnahme gleicht, ein anderes Werk sein? Oder handelt es sich um ein Exemplar desselben Werkes? Beruht der faktische Unterschied von Werken nur auf der Kategorie der „Existenz“ – wo an diesem Beispiel doch einzig der fortgelassene Teil des Werkes einen Unterschied macht? Was verbürgt die Identität eines Werkes und seine Abgrenzung gegen andere Werke? Und was garantiert die Einheit wie Unterschiedenheit der Exemplare, die zu ihm gehören? Es sind genau diese Fragen, die der Menard von Borges stellt, und eben an ihnen hat sich die Diskussion entzündet, an der zwei der bedeutendsten analytischen Philosophen des 20. Jahrhunderts teil hatten, Arthur C. Danto und Nelson Goodman.

      Arthur C. Danto thematisiert Borges‘ Text in seinem kunstphilosophischen Hauptwerk Die Verklärung des Gewöhnlichen (1981). Er nimmt den Borges‘schen Erzähler beim Wort, wenn er als These festhält: „[E]in Exemplar von Cervantes‘ Werk und ein Exemplar von Menards Werk sind Exemplare von verschiedenen Werken, obwohl sie sich ebensosehr

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      gleichen, wie Paare von Exemplaren desselben Werks.“ (Danto 1999, S. 64) Auch wenn diese Behauptung problematisch ist, weil sie umfangsgleiche Exemplare des Cervantes in eine Identitätsbeziehung zum nicht umfangsgleichen Menard setzt, bleibt daran doch das Hauptargument unangetastet. Das Menard-Problem berührt sich auf engste mit Dantos eigener kunstphilosophischer Fragestellung, nämlich der Definition von Kunst angesichts der Herausforderung der Philosophie durch die moderne Kunst. Denn Definition heißt wörtlich „Abgrenzung“ bzw. „Begrenzung“, und die Frage lautet demnach: Wie lassen sich Kunstwerke von Alltagsdingen abgrenzen, wenn es keine sichtbaren Unterschiede mehr zwischen beiden gibt? Diese „Unterscheidung des Ununterscheidbaren“ richtet sich nun auch auf die von Werken bzw. Werkexemplaren: Wodurch werden verschiedene „Vorkommnisse“ Exemplare eines Werkes – oder eben Verwirklichungen verschiedener Werke?

      Dantos Antwort ist eindeutig und kann an dieser Stelle als „interpretationistischer Kontextualismus“ bezeichnet werden. Um Werkidentität zu bestimmen, reicht es nicht aus, auf das Werk allein zu blicken. Man muss vielmehr die konstitutiven „Kontexteigenschaften“ (Danto 1999, S. 82) einbeziehen, also die Entstehungsbedingungen, den Autor, den ideen- und kulturgeschichtlichen Hintergrund sowie die Traditionsbezüge als integralen Bestandteil des Komplexes „Kunstwerk“ betrachten (vgl. Danto 1999, S. 66; so auch Wollheim 2005; Kap. 13):

      Ein zentrales Moment der Identität von Kunstwerken schien mir ihr historischer Ort zu sein. Daß etwas das Werk ist, das es ist, ja, daß es überhaupt ein Kunstwerk ist, hängt unter anderem davon ab, an welchem Punkt der historischen Ordnung es entstanden ist und mit welchen anderen Werken es dem historischen Komplex zugeordnet werden kann, zu dem es gehört. (Danto 1992, S. 17)

      Ästhetische Unterschiede sind demnach keine „Wahrnehmungsunterschiede“ (Danto 1999, S. 77), „weil Kunstwerke ihrerseits mit den Interpretationen, die sie definieren, im Innersten verbunden sind“ (Danto 1992, S.17). An der physisch beschreibbaren Gestalt des Werkes selbst lässt sich nicht hinreichend seine Identität und Differenz zu anderen Werken festmachen. Der Don Quijote von Menard ist ein anderes Werk als der

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      Don Quijote von Cervantes, weil er die Literaturgeschichte und die kulturelle Welt, von der das Cervantes-Werk ein wichtiger Teil ist, bereits voraussetzt und darauf auf höchst komplexe Weise Bezug nimmt: „die vorgängige Existenz von Cervantes geht in die Erklärung von Menards Werk ein.“ (Danto 1999, S. 66) Menards Werk ist weder eine „Nachahmung“ noch ein „Zitat“ oder eine „Wiederholung“ von Cervantes Werk, sondern eine künstlerische Auseinandersetzung mit einer Tradition, die von Cervantes geprägt ist.

      Um Nelson Goodmans dazu konträre Position richtig zu verstehen, ist es zuerst notwendig, eine Unterscheidung zu rekonstruieren, die er in seinem Hauptwerk Sprachen der Kunst (1976) vornimmt und die die kunstontologische Diskussion nachhaltig geprägt hat. Goodman unterscheidet dort „autographische“ von „allographischen“ Künsten (Goodman 1995, S. 113). Als „autographisch“ sind Künste definiert, die sich dadurch auszeichnen, dass es in ihnen den werkkonstitutiven Unterschied von „Original“ und „Fälschung“ bzw. „Kopie“ gibt und für die deshalb „selbst das exakteste Duplikat […] nicht als echt gilt.“ (Goodman 1995, S. 113) Deshalb ist für diese Künste die Entstehungsgeschichte laut Goodman ein wichtiges Instrument, um Originale zu markieren: „Nur die von Van Gogh gemalten ‚Sonnenblumen‘ gelten als Einzelfall des Werkes; jede noch so ähnliche Kopie ist schlicht eine Fälschung.“ (Spree 2002, S. 47) Darüber hinaus führt Goodman als weitere Grundunterscheidungen noch „einphasig/ zweiphasig“ sowie „singulär/ multipel“ ein (vgl. Goodman 1995, S. 113 – 115; Spree 2002, S. 47f.). So ist bspw. nicht notwendig jede autographische Kunst auch „singulär“, d. h. kennt stets nur ein Original: bei Drucken bspw. gibt es mehrere Originale.

      „Allographisch“ sind dagegen Künste wie die Literatur, für die der Unterschied von Original und Fälschung keinen Unterschied macht. Eine Ausgabe von den Buddenbrooks ist keine Kopie oder gar Fälschung, sondern einfach ein Exemplar dieses Werkes. Die Originalhandschrift kann nicht sinnvoll als „Original“ im Sinne eines Gemäldes gelten, demgegenüber alle anderen Exemplare nur die Funktion einer „Abbildung“ oder „Kopie“