Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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Grundsatz, dass die Natur keinen „Sprung macht“, also als stetiger und lückenloser Zusammenhang aller Elemente begriffen werden kann, meint Baumgarten, dass auch der Intellekt an die Sinnlichkeit als seine ‚Vorstufe‘ gebunden sei und damit eine Aufklärung der sinnlichen Vermögen eben so eine weitere Aufklärung der Verstandesvermögen eröffne (§ 7). Deshalb stehe die Untersuchung von Vernunft und Sinnlichkeit nicht in einem Gegensatz-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis:

      Ein nicht gepflegtes und einigermaßen verderbtes Analogon der Vernunft ist der Vernunft selbst und der strengeren Gründlichkeit nicht weniger hinderlich. (Baumgarten 2007, S. 15f.)

      Im Begriff der „sinnlichen Erkenntnis“ (cognitio sensitivae) als „Analogon der Vernunft“ (analogon rationis) wird das Problem der Baumgartenschen Ästhetik manifest: Maßstab seiner Wissenschaft der Sinnlichkeit und der Wahrnehmung bleiben die rationalen Vermögen. Gerade die nicht revidierte rationalistische Begrifflichkeit von den ‚unteren‘ (sinnlichen) und den ‚oberen‘ (begrifflich-rationalen) Erkenntnisvermögen trägt stets das Denken in Baumgartens Theorie hinein, welches er eigentlich zu überwinden sucht. Die Ästhetik schwankt dann auch beständig zwischen der Idee einer Eigenständigkeit sinnlicher Vermögen und ihrer Unterordnung unter die oberen Erkenntniskräfte: „Die deutliche Erkenntnis ist besser.“ (Baumgarten 2007, S. 15) Erst Kant löst in der Kritik der reinen Vernunft (1781) mit seiner Theorie der zwei Erkenntnisstämme von Sinnlichkeit und Verstand, die sich gleichgewichtig gegenüberstehen, nicht durch die Maßstäbe des jeweils anderen verstehbar und gleich notwendig zur Konstitution von Erkenntnis sind, dieses Problem. So schafft er aber auch neue Schwierigkeiten, welche die Philosophen des ‚Deutschen Idealismus‘ (Fichte, Hegel, Schelling) wiederum auf die Suche nach übergeordneten Zusammenhängen und Gründen beider Erkenntnisstämme schickt.

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      Es ist für das Verständnis der ursprünglichen Problemkonstellation der Disziplin „Ästhetik“ wichtig, die „Vermögenslehre“ der rationalistischen Philosophie, die ausgehend von Descartes (Die Prinzipien der Philosophie, 1. Teil, Abschnitt 45, 1644) und Spinoza (Ethik, Buch 2, 40. Lehrsatz, 2. Anmerkung, 1677), von Leibniz (Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen, 1684) und Wolff weiterentwickelt worden ist, in ihren Grundbegriffen zu kennen. Denn aus ihrer Anlage und ihren offenen Möglichkeiten speist sich bei Baumgarten der Grundimpuls der Ästhetik, die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis- und Darstellungsvermögen des Menschen. Die sinnliche Erkenntnis ist demnach eine „klar-verworrene“ Erkenntnis. Diese für den heutigen Sprachgebrauch ungewöhnliche, beinahe scheinbar widersprüchliche Zusammenstellung zweier Merkmale (klar und verworren) erklärt sich aus dem System von Ober- und Unterbegriffen, mit dem die rationalistische Psychologie die seelischen Vermögen des Menschen ordnet.

      Die „klare Erkenntnis“ bezeichnet im direkten Gegensatz zu bloß „dunklen“ Vorstellungen das Wiedererkennen einer Sache (Gegenstände oder Merkmale). Damit liegt die Grundbedingung jeden Erkennens in der Identifikation von etwas als etwas: Der „klaren Erkenntnis“ ist ihr Gegenstand gegenwärtig, weil sie ihn immer wieder als denselben aufrufen kann, der „dunklen Vorstellung“ hingegen entzogen. „Verworren“ und „deutlich“ sind demgegenüber als Spezifikationen, also einander entgegengesetzte Unterarten der klaren Erkenntnis bestimmt. „Verworren“ ist die klare Erkenntnis, wenn „ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden“ (Leibniz 2000, Bd. 1, S. 33). „Deutlich“ ist sie, wenn sich die klare Vorstellung analytisch in ihre begrifflichen Bestandteile zerlegen lässt und so durch Angabe von Merkmalen hinreichend von anderen Sachen unterschieden, also definiert werden kann.

      In der sinnlichen Erkenntnis, so Baumgarten, nehmen wir folglich eine Sache in der Fülle (ubertas), Lebendigkeit und Ganzheit ihres konkreten Daseins wortwörtlich in den Blick: Sie ist nicht durch begriffliche Abstraktion entsinnlicht und in begriffliche Merkmalen zerlegt. Als „perceptio praegnans“, d. h. „vielsagende“ Vorstellung sinnlicher Prägnanz, enthält die klar-verworrene mehr Merkmale in engerem Zusam-

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      menhang als die deutliche. Zugleich verdichtet sie diese so zur Einheit der Sache, dass die eigentümliche Qualität dieser Erkenntnisart gerade in der „Kraft“ liegt, mit der eine Sache in der Komplexität ihrer lebensweltlichen Vieldimensionalität zur Vorstellung gelangt. Baumgarten gesteht der sinnlich-verworrenen Erkenntnis eine eigene Art der Wahrheit, die „ästhetische Wahrheit“ zu, und kennt darüber hinaus auch noch eine Mischform, die „ästhetikologische Wahrheit“, die in einer komplizierten Relation zur logischen (deshalb: ästhetiko-logisch) Wahrheit steht (vgl. Baumgarten 2007, S. 403 – 423). Damit sind in seiner Ästhetik die Grundelemente nicht nur der epistemologischen Aufwertung des Wahrnehmungsvermögens, sondern aller sinnlich-schönen Darstellungen überhaupt versammelt. Die ästhetischen Überlegungen der Aufklärung und Goethezeit entwickeln sich sämtlich als Anschluss (G. F. Meier), Transformation (Kant) oder deutliche Kritik (Herder) an Baumgartens Grundlegung.

      Die Ästhetik seit Baumgarten ist damit zuletzt ein Projekt der ‚Erfindung‘ des Menschen als Subjekt, d. h. als aktive wirklichkeitserschließende Instanz wie als ganzheitliches Wesen aus Vernunft und Körperlichkeit (vgl. Menke 2008). Dabei rückt die Ästhetik vor allem die sinnlichen weltbildenden Vermögen, welche über die Instanz der „Einbildungskraft“ geistig vermittelt und gesteuert sind, ins Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Frank 1989). Der Mensch ist das wahrnehmende und bilderschaffende Wesen, das sich durch die bewussten wie unbewussten Dimensionen seines Vorstellungskraft als ganzheitliches Individuum zur Anschauung bringt und nicht nur intellektuell begreift, sondern sinnlich-emotiv ergreift. Oder anders formuliert: Er begreift sich nur in dem Maße, wie er in der Weltwahrnehmung zugleich von sich selbst unmittelbar-sinnlich ergriffen wird und sich in der empathischen Interaktion mit anderen Subjekten ‚ganz‘ verwirklicht. Schließlich ist er auch nur dort wirklich bei sich als Mensch, wo er zum umfassenden Selbstausdruck in sinnlichen Medien wie der Kunst gelangt.

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Die Themen der klassischen und der modernen Ästhetik: ein ganz kurzer Abriss

      Die Geschichte der Ästhetik beginnt lange vor ihm Anfang. Was Baumgarten in das System wissenschaftlicher Disziplinen eingliedert, existiert als philosophisches Nachdenken seit der griechischen Antike und machte stets einen wesentlichen Strang metaphysischen Nachdenkens über die letzten Gründe und die Formen des Seienden aus. Die drei großen Themen, welche sich schwerpunktmäßig im Rahmen der Disziplin „Ästhetik“ im 18. Jh. in eine gewisse Abfolge bringen lassen, sind so seit jeher klassische Themen der Metaphysik gewesen: die Wahrnehmung (Baumgarten) – das Schöne (Kant) – die Kunst (Hegel). Gegenüber der spekulativen Breite und der Vielfalt der Kontexte, mit denen diese Themen klassisch-philosophisch behandelt wurden, konzentriert die Disziplin Ästhetik das Nachdenken über sie auf wiederum drei Kontexte: Anthropologie – Erkenntnistheorie – Kunsttheorie.

      Damit fällt bspw. die wichtige ontologische Dimension, welche in Platons Theorie des Schönen noch eine wesentliche Hinsicht bildete, beinahe gänzlich weg. Schön (kalós) ist bei Platon das, was sich seiner Idee gemäß entfaltet und mithin ein „Optimum an Sein“ (Fuhrmann 1992, S. 84) besitzt, d. h. was seinen Begriff als seine ideale Verwirklichungsweise in sich ausbildet. Für Platon ist klar, dass die Verwirklichung der idealen Form einer Sache sich in ihrer höchsten Ordnung und höchsten Einheit zeigt. Schön ist deshalb nicht bloß eine Erscheinungs- und Wahrnehmungsqualität, sondern meint als solche die Strukturverfassung einer sichtbaren Seinsvollendung, die zugleich ethisch relevant ist: Schönheit wird zum Ausdruck des Wahren und Guten. Die Konsequenz dieser Schönheitsmetaphysik ist freilich im Horizont der stark phänomenal, also nur auf das sinnliche Erscheinen ausgerichteten Schönheitstheorien der Moderne paradox: Wirklich schön können bei Platon nur Ideen, also rein geistige, nichtsinnliche Gebilde sein, weil sich nur in ihnen ein ideales Sein vollkommen ausbildet. Alles sinnlich-weltliche Dasein dagegen lässt die reine Schönheit der Ideen nur in verdunkelter, unvollkommen materialer Weise erscheinen. Was an materiellen sinnlichen Dingen schön ist, weist gerade über jede raumzeitliche Materialität hinaus ins rein Geistige

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