Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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die subjektive Vorstellung entweder des Produzenten („produktionsästhetischer Mentalismus“) oder des Rezipienten („rezeptionsästhetischer Mentalismus“). Das eigentliche Kunstwerk wäre demnach im ersten Fall

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      das imaginäre Objekt im Geist des Künstlers, und seine Ausformung im Sprachmaterial nur eine akzidentelle Form seiner materiellen Speicherung. Eine solche Theorie ist dann zumeist (aber nicht notwendig!) mit einem Sprachverständnis verbunden, das den Signifikanten nur als äußere und unwesentliche Form des gedachten Inhalts (Signifikat) versteht (Platon, Aristoteles, Hegel). Darüber hinaus impliziert sie ebenfalls eine Auffassung des Künstlers, welche diesem die ‚Führungsrolle‘ im literarischen Prozess zuweist sowie die Rezeption nur als bloßes Nachvollziehen des ursprünglichen kreativen mentalen Aktes des Künstlers versteht. Im zweiten Fall hätte das eigentliche Kunstwerk seinen Ort im Geist des Rezipienten, weil es sich nur und erst durch dessen aktive Konstruktionsleistung zu einem ganzen Objekt vervollständigt (Sartre, Iser). Dann wäre auch hier der materielle Text nicht mehr als ein bloßes Formular, das die Anweisungen enthält, nach welchen Vorgaben der Rezipient das eigentlich literarische Objekt erst zu bilden habe. Sowohl der produktions- als auch der rezeptionsästhetische Mentalismus missachten dabei den Raum des Signifikanten, indem sie ihn als bloß äußeres Aufschreibemedium betrachten, ohne die für das literarische Kunstwerk irreduziblen Dimensionen seiner materiellen Sprachlichkeit zu beachten. Darüber hinaus muss der kunstontologische Mentalismus notwendig zur Annahme einer „epistemischen Privatheit von Kunstwerken“ (Schmücker 2005, S. 49) führen, die sich bereits aus der Praxis unseres Umgangs mit Kunstwerken heraus kaum – zumindest nicht ohne weitere Erklärung und Präzisierung dieses Paradigmas – halten lässt. Schließlich nehmen wir intersubjektiv auf literarische Kunstwerke als gemeinsame Gegenstände gerade auch dort Bezug, wo wir zu verschiedenen Interpretationen ihrer Bedeutung gelangen. Wie aber soll ein Kunstobjekt ‚gemeinsam‘ sein, wenn sein eigentliches Dasein in der subjektiven und nicht-mitteilbaren mentalen Repräsentation des Individuums liegt? Außerdem wird die Frage nach der Werkidentität im Raum des Mentalismus vollends problematisch: Streng genommen müsste jede neue Vorstellung, die der Rezipient durch einen Text (bspw. beim Wiederlesen) konstituiert, auch ein neues Werk sein.

      Wenn auch die mentalistischen Theorien der Kunstontologie nicht besonders plausibel scheinen, so muss man sich doch vergegenwärtigen, dass sie teilweise als Antworten auf Probleme entstanden sind

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      (oder wiederaufgenommen wurden), die der auf den ersten Blick weitaus plausiblere kunstontologische Physikalismus mit sich bringt. Dem Physikalismus zufolge sind Kunstwerke mit den physischen Objekten identisch, in denen sie sich manifestieren; Nelson Goodman als ein wichtiger Vertreter dieser Auffassung ist bereits erwähnt worden. Dieser Ansatz hat den Vorteil der unmittelbaren Evidenz und beruht auf dem Hauptargument, dass materielles Ding und ästhetisches Objekt deshalb zusammenfallen, weil sie alle ihre Eigenschaften miteinander teilen – und also identisch sein müssen (dies ein Identitätskriterium von Leibniz, das Danto zitiert [Danto 1993, S. 64]). Aber genau dies scheint auf Kunstwerke eben nicht vollständig zuzutreffen. Zwar kann man die verschiedenen Beschreibungen, mit denen man sich jeweils auf Ding und ästhetisches Objekt beziehen kann (was dafür spricht, dass beide nicht zusammenfallen), durch die Aspektpluralität erklären, die an jedem Ding auftritt (vgl. Ziff 2005): „Der Roman ist flach“ kann sich wörtlich auch auf die Zweidimensionalität des Papiers und der gedruckten Zeichen beziehen, „der Roman hat Tiefe“ hingegen nur metaphorisch auf die Darstellungsweise des Inhalts, der durch die Zeichen vermittelt wird. Der Widerspruch beider Sätze deutet also noch nicht notwendig darauf hin, dass sich beide nicht trotzdem auf dasselbe und identische Objekt beziehen können. Trotzdem sind Ding und ästhetisches Objekt, Trägergegenstand und Darstellung, Text und Werk durch Merkmale voneinander getrennt, die es sehr schwer machen, beide einfach und vollständig miteinander zu identifizieren.

      1. Wie in der visuellen Wahrnehmung, herrscht zwischen beiden zwar kein reines, aber doch ein weitreichendes Ausschlussverhältnis bezüglich ihres Rezeptionsvollzuges. Wenn ich den Text in seiner Materialität wahrnehme (bspw. die Papierqualität mit dem Finger prüfe oder die Linienführung der Schriftart bewundere), so kann ich nicht zugleich den Inhalt lesen und umgekehrt. Dass gerade Literatur (bspw. in der „Konkreten Poesie“) beide Dimensionen in ihrem Spannungsverhältnis oft übereinander projiziert und durcheinander vermittelt hat, ist kein Gegenargument, sondern baut gerade auf dem grundsätzlichen Gegensatz beider Blickrichtungen auf.

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      2. Textträger und Textwelt gehören (wie auch in der Bildenden Kunst Bildträger und Bildobjekt) grundsätzlich verschiedenen Wirklichkeiten an. Die Textwelt ist in Bezug auf die physikalische Textträgerwelt durch eine kategoriale Physiklosigkeit (vgl. dazu grundlegend Wiesing 2005, S. 160) gekennzeichnet, die zur Physikunterworfenheit des Textträgers in unvermittelbarem Widerspruch steht. Während nämlich der materiale Textträger, zumeist das Buch, altern kann und sich zerstören lässt, trifft dies auf die dargestellten Gegenstände außerhalb ihrer eigenen Zeitlichkeit nicht zu. Odysseus als Figur der Odyssee kann durch keine Aktivität unserer Wirklichkeit, die die Wirklichkeit des Textträgers ist, beeinträchtigt oder verändert werden; oder um ein schönes Beispiel von Danto zu zitieren: „Ich kann zwar den Mann, der den Hamlet spielt, mit einer reifen Tomate treffen, aber nicht Hamlet“ (Danto 1993, S. 63). Wo für visuelle Bilder wie z. B. Gemälde von einem Gegensatz von Zeitlosigkeit und Zeitverfallenheit als Grundbestimmung der verschiedenen physikalischen Signatur von ästhetischem Objekt und Ding auszugehen ist, trifft dies für literarische Textwelten allerdings nicht ohne Weiteres zu: Schließlich existieren literarische Gegenstände (Personen, Handlungen, fiktive Lebenswirklichkeiten etc.) als Zeitfolgen (vgl. Kap. 6.3). Diese eigene inhaltliche Zeitlichkeit literarischer Gegenstände ist aber eine gegenüber unserer Zeitlichkeit absolut autonome: Sie steht zu ihr in einem Darstellungs- und nicht in einem Kausalverhältnis. Das Leben von Hamlet bis zu seinem Tod bezieht sich zwar darstellend auf die Art und Weise, wie in unserer physikalischen Wirklichkeit Lebensverläufe sich ereignen und macht deren Zeitverfallenheit in gewisser Weise deutlich. Es kann aber zugleich in keiner Weise durch zeitlich strukturierte mechanische Einwirkungen eben dieser unserer physikalischen Wirklichkeit beeinflusst werden.

      3. Materielles Ding und ästhetisches Objekt stehen deshalb zu „ihresgleichen“ in kategorial völlig anderen Einflussbeziehungen. Wo physische Objekte als physische nur kausal-mechanisch aufeinander einwirken können, kann es zwischen Kunstwerken keine bloße mechanische Kausalität geben. Kunstwerke stehen nicht in Kausal-, sondern in Traditionszusammenhängen: Sie sind folglich auf ganz andere Weise und in einem anderen Grad von Freiheit aufeinander bezogen (Kap. 13.4).

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      4. Materielles Ding und ästhetisches Objekt stehen zur symbolischen Dimension unseres kulturellen Daseins in kategorial unterschiedlichen Beziehungen. Materielle Dinge sind einfach – ihr „Sein an sich“ ist grundsätzlich von einer semantikfreien Qualität. Weder bedeuten die Dinge in ihrem bloß physikalischen Dasein an sich irgendetwas, noch stellen sie irgendetwas in irgendeiner Weise dar, wenn man sie nicht daraufhin funktionalisiert. Ästhetische Gegenstände sind hingegen nur als darstellende: D. h. sie stehen zur Wirklichkeit in einem semantischen Repräsentations-, Reflexions- bzw. Explorationsverhältnis, indem sie notwendig über irgendetwas sind (bspw. der Hamlet über die „conditio humana“). Dantos Begriff der „aboutness“ als notwendiges Merkmal von Kunstwerken (Über-etwas-Sein; Danto 1999, S. 130, 135) hält dies fest (Kap. 8.4).

      5. Aufgrund dieser unterschiedlichen semantischen Qualität ist der intellektuelle Bezug von Subjekten auf beide Objekte grundlegend verschieden. Materielle Werkträger wie bspw. Bücher werden identifizierend wiedererkannt, identifizierend kennengelernt, identifizierend beschrieben oder identifizierend beurteilt („Das ist das neue Buch von Günter Grass.“ – „Dieses Buch ist drucktechnisch sehr gelungen.“). Literarische Gegenstände hingegen haben ihren angemessenen Bezug darin, dass man sie – egal ob man bewerten oder erklären will – dafür stets zu verstehen suchen muss. Dabei wird man hermeneutisch nicht zu einer Identifikation, sondern vielmehr in ein Eröffnungsgeschehen von Bedeutungsperspektiven hineingeführt (Kap. 5, Kap.