Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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      für die Identität des Werkes nicht von Belang sind. Ob ein Exemplar zu einem literarischen Werk gehört, findet man nach Goodman nicht dadurch heraus, dass man seine historische Genese betrachtet, sondern einzig dadurch, dass man die materiellen Inskriptionen – also die wahrnehmbaren Buchstabenfolgen – miteinander vergleicht:

      Es zählt allein das, was man die Selbigkeit des Buchstabierens nennen könnte: exakte Entsprechung in den Buchstabenfolgen, Abständen und Satzzeichen. Jede Folge – selbst wenn sie eine Fälschung des Manuskripts des Autors oder einer bestimmten Ausgabe ist –, die einer korrekten Kopie in dieser Weise entspricht, ist selbst korrekt, und ein solch korrektes Exemplar ist genauso Original wie das Original selbst. […] Allein durch die Feststellung, daß das Exemplar, das wir vor uns haben, korrekt buchstabiert ist, können wir entscheiden, daß es alle Anforderungen an das fragliche Werk erfüllt. (Goodman 1995, S. 115f.)

      Es fällt in dieser Beschreibung auf, dass Goodman das hier durchaus wesentliche editorische Problem außer Acht lässt. Wenn es bspw. wie beim Hamlet von William Shakespeare oder dem Gedicht Mnemosyne von Friedrich Hölderlin keinen „originalen“ Wortlaut oder wie beim Ulysses von James Joyce keinen völlig unkorrupten Text gibt, stellt sich die Frage, mit was eigentlich die Exemplare verglichen werden sollen, um herauszufinden, ob sie zum Werk gehören, und wie die dafür notwendigen Kriterien konstituiert werden. Außerdem ist es ein durchaus intrikates Problem, substantielle von akzidentellen Veränderungen zu unterscheiden. Ist bspw. eine Ausgabe von den Buddenbrooks noch ein Exemplar des Werkes, wenn sie einen Druckfehler enthält? Wohl schon, denn dieser Fehler ist zu vernachlässigen. Was aber ist bei drei Druckfehlern? Oder zehn? Oder hundert (bei einem solch umfangreichen Werk nicht ungewöhnlich)? Was ist, wenn Sätze fehlen, oder irrtümlicherweise hinzugekommen sind? Wo liegt hier die Grenze, zwischen tolerierbaren Fehlern bzw. Abweichungen zu unterscheiden, die die Ausgabe noch zu einem Exemplar desselben Werkes machen, und solchen, die ein neues Werk konstituieren?

      In jedem Fall gilt für Goodman ganz notwendigerweise in Bezug auf das Menard-Problem:

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      Wir behaupten jedoch, daß die angeblichen zwei Werke tatsächlich eines sind. […] Was Menard schrieb, ist schlicht eine weitere Inskription des Textes. […] Es ist derselbe Text, und er steht genau denselben Interpretationen offen wie die Einzelfälle, die bewußt von Cervantes, Menard und den verschiedenen anonymen Kopisten, Druckern und Setzern, die Einzelfälle des Werkes herstellen, inskribiert wurden. (Goodman 1993, S. 87f.)

      Goodman führt dies nochmals in Bezug auf die Relation von Werk und Kontext eng:

      Kunstwerke, deren Identität von ihrer Entstehungsgeschichte abhängt, kann man autographisch, Werke, deren Identität syntaktisch oder semantisch bestimmt ist, allographisch nennen. […] Von wem Don Quijote geschrieben wurde oder wann, das spielt schlicht für die Identität des Werkes keine Rolle. (Goodman 1993, S. 91; vgl. auch Goodman 2005)

      Danto bestimmt die Werkidentität in enger Abhängigkeit von genetischen und semantischen Dimensionen: Ein Werk ist, was kulturhistorisch in einem bestimmten, zeitlich bedingten Bedeutungskontext mit einer bestimmten, historisch abhängigen Bedeutungsintention entstanden ist. Für Goodman fallen hingegen Werk und Interpretation kategorial auseinander: Das Kunstwerk ist ein materieller Gegenstand, den man durch physikalische Tests wie das Buchstabenvergleichen identifizieren kann. Bedeutungsfragen und die Entstehungskontexte, aus denen sie erwachsen, haben demnach mit der Identität des Werkes nichts zu tun.

      Die kunstontologische Forschung hat Goodmans Grundunterscheidung von „autographisch“ und „allographisch“ zahlreicher Detailkritik unterzogen (vgl. Schmücker 1998, S. 189ff.; Patzig 2005; Menke 1991, S. 57 – 63). Das Menard-Problem von Borges hat indes sichtbar gemacht, welche Dimensionen das ontologische „Individuationsproblem“ (Tegtmeier 2000, S. 24) bzw. die Frage der „Identität“ oder „Fortdauer“ im Bereich der Theorie des Kunstwerkes annehmen kann. Dass sich diese Fragen natürlich nur bei den wenigsten konkreten Fällen stellen, heißt nicht, dass sie im systematischen Zusammenhang der Theorie von Literatur vernachlässigt werden dürfen. Mit ihnen wird vielmehr das Problembewusstsein möglich, um was für eine Art von Gegenstand es

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      sich bei Literatur handelt, und welche Herangehensweisen seiner besonderen ontologischen Signatur grundsätzlich angemessen oder unangemessen sind.

Die „Existenz“ der Literatur: Was für eine Art von „Gegenstand“ sind literarische Werke?

      Die Existenzbedeutung von „Sein“, die man alltagssprachlich wohl für die vorherrschende oder gar einzige halten könnte, spielte in der antiken Philosophie keine wesentliche Rolle (vgl. Kahn 1976). Dafür nimmt sie spätestens seit dem 19. Jahrhundert und den Anfängen der sogenannten „Existenzphilosophie“ bei F. W. J. Schelling (1775 – 1854) und Sören Kierkegaard (1813 – 1855) einen wichtigen Platz im Spektrum des ontologischen Nachdenkens ein. In Bezug auf die Kunst und die Literatur zielt die Frage nach der Existenz auf die Art von Gegenständlichkeit, in der literarische Werke „wirklich“ sind.

      In einer ersten und sehr grundlegenden Antwort wird diese Frage durch den Begriff des Textes beantwortet. Literarische Werke existieren demnach als Texte, d. h. (a) als geordnete Menge von sprachlichen Elementen, die (b) in einem semantischen Verweisungszusammenhang stehen (vgl. zu den Merkmalen von Textualität umfassend Kammer, Lüdeke 2005, S. 9 – 26). Mit einem solchen Textbegriff wäre die Frage nach Mündlichkeit oder Schriftlichkeit sogar noch unberührt: Denn die materielle Aufzeichnung würde als weitere Ebene von Textualität erst noch hinzukommen und ist weder in (a) noch in (b) notwendig integriert. Auch rein mündlich tradierte und inszenierte Literatur besteht als eine solche „geordnete Menge“ mit einer solcher semantischen Beschaffenheit ihrer Elemente, wenn diese auch durch die mündliche Form noch andere Struktureigenschaften aufweisen kann, die bspw. in dem Homerischen Epen auffällig sind (Wiederholungsfiguren, stereotype sprachliche Formulierungen etc.). Aber: Auch wenn es einer sich historisch verändernden Wahrnehmung unterliegt, welche Texte als literarisch gelten (Kap. 13.4, Kap. 14.2), so ist doch eben so gewiss, dass nicht alle Texte literarische Texte sind. Literaturontologisch stellt sich

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      also die Frage, ob „literarisch sein“ eine substantielle, d. h. wesentliche, oder eine akzidentelle, d. h. zufällige und der Gegenständlichkeit selbst äußerliche Prädikation ist. Kann Literatur als eigene Art von substantieller Gegenständlichkeit begriffen werden, auch wenn sich ihre Erscheinungsformen auf akzidentelle Weise historisch verändern und sie unzweifelhaft in der Form von Texten vorkommt – oder ist „literarisch sein“ nur eine akzidentelle Bestimmung von Textualität, so wie bspw. „streng gegliedert sein“, „in deutscher Sprache verfasst sein“ oder „aufgeschrieben sein“? Ob Literatur ontologisch im Begriff des Textes aufgeht oder nicht, ist demnach eine erste, grundlegende Frage literarischer Ontologie. Auch wenn sich hier eine Antwort beinahe selbstverständlich aufdrängt, so ist doch Vorsicht geboten. Natürlich existiert Literatur nur als Textlichkeit. Aber die Frage ist, ob ihre spezifische Art von Textualität eine eigenständige Klasse von Gegenständen konstituiert, die aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften zugleich nicht mehr bloß auf Textualität rückführbar sind und demnach als andere textuelle Gegenständlichkeit begriffen werden müssen. Anders gesagt: Die besondere Art der Gegenständlichkeit, die literarische Werke auszeichnet, ist wohl noch nicht erfasst, wenn man ihr Sein auf ihr Dasein als Texte zurückführt und beschränkt. Textualität im oben genannten Sinne ist notwendig, aber nicht hinreichend zur Bestimmung literarischer Werke: Und gerade eine Regionalontologie muss bestrebt sein, ihren Gegenstand über den Zusammenhang aller wesentlichen ontischen Merkmale und Eigenarten möglichst vollständig ontologisch zu bestimmen.

      Eines dieser möglichen besonderen Merkmale ergibt sich aus der kunstontologischen Frage, ob dem literarischen Kunstwerk als dem „ästhetischen Objekt“ eine primär physische oder psychische Existenzform zukommt. Die beiden damit verbunden Paradigmen kann man „Physikalismus“ und „Mentalismus“ nennen (vgl. dazu ausführlich Schmücker 1998, S. 169 – 238, den