Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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Literatur setzt man allerdings sinnvollerweise folgende disziplinären Verhaltensweisen voraus: Es ist erstens ratsam, die disziplinären Grenzen, die sich in der Wissens(chafts)kultur der Moderne für den Raum der Literatur herausgebildet haben (Rhetorik – Ästhetik – Hermeneutik – Linguistik – Semiotik etc.), gerade aufgrund der untergründigen thematischen Verengungen,

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      aus denen sie entstehen, zu überschreiten. Denn nur so bekommt man den Begriff des Gegenstandes Literatur möglichst umfassend in den Blick. Dafür ist es zweitens notwendig, gegen die systematischen Beschränkungen der Theoriebildung stets die wirkliche Vielfalt der literarischen Werke im Blick zu behalten: ihre konzeptionelle Individualität wie formensprachliche Abweichung. Diese Vielfalt ist historisch sicher nirgends so abwechslungsreich, komplex und experimentierfreudig gestaltet wie in der sogenannten ‚Goethezeit‘ (ca. 1750 – 1830), in die auch die Entwicklung der Ästhetik als Disziplin im Kanon moderner Wissenschaften vom Menschen fällt. Die literarhistorisch aufschlussreiche Rede vom „skeptischen Milieu“ der modernen Literatur (vgl. Willems 2003) bedeutet auch, dass in den konkreten Werken des Kanons sehr oft die bewusste Überschreitung und Transformation vermeintlich ‚fundamentaler‘ Bestimmungen literarischer Kunst zu finden sind, welche durch Theorie und Gattungstradition vorgegeben werden. Dagegen setzen die Werke die unendliche Vielfalt literarischer Darstellungsmöglichkeiten, die erst am konkreten Gegenstand der Darstellung entstehen kann. Keine Theoriebildung der Literatur umfasst oder ersetzt gar den Formen- und Sinnhorizont der Werke von Goethe, Schiller, Wieland oder Hölderlin. Aber sie soll Perspektiven eröffnen, in deren Korrektur durch das Einzelwerk sich dessen angemessen verstehende Wahrnehmung erst herausbilden kann. Was Kant im Rahmen seiner Erkenntnistheorie über das Verhältnis von Begriff und Anschauung gesagt hat, gilt prinzipiell auch für die Komplementarität von literarischem Werk und theoretisch-begrifflich fundiertem Verstehen, das seine Kategorien aus der Geschichte der literarischen Kunst gewinnt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Kant 2004, Bd. 1, S. 135 [B 75])

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      Kontrollfragen:

      1. In welcher Weise hängt die Entstehung der Disziplin „Ästhetik“ mit dem Epochenhintergrund der „Aufklärung“ zusammen?

      2. Erläutern Sie Baumgartens Konzept der „sinnlichen Prägnanz“ (perceptio praegnans) ästhetischer Vorstellungen!

      3. Welche grundlegenden Themen kennzeichnen die „klassische“ und die „moderne“ Ästhetik?

      Literaturempfehlungen:

      Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Tübingen 1972.

      Scheer, Brigitte: Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt 1997.

      Tatarkiewicz, Wladyslaw: Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis. Frankfurt a. M. 2003.

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Die Ontologie der Literatur

Zum Begriff der Ontologie als ästhetischer Disziplin

      Die Eigentümlichkeit des Begriffs „Ontologie“ ist es, dass in ihm Name und Sache historisch auf merkwürdige Weise auseinandertreten. Denn spricht man in philosophischen Zusammenhängen von „Ontologie“, so meint man gewöhnlich eine bestimmte Weise des Nachdenkens, die auf sogenannte „letzte“ Gegenstände bezogen und zugleich historisch eng mit den Ursprüngen der abendländischen Philosophie, vor allem mit den Namen „Platon“ (428/ 427 v. Chr. – 348/ 347 v. Chr.) und „Aristoteles“ (384 v. Chr. – 322 v. Chr.) verbunden ist. Der Begriff selbst allerdings ist neuzeitlichen Ursprungs. Er kommt wohl zuerst im 17. Jahrhundert auf und wird prominent durch ein Werk von Christian Wolff, dem bedeutendsten deutschen Schulphilosophen des 18. Jh.: Philosophia prima sive ontologia. Erste Philosophie oder Ontologie. Nach wissenschaftlicher Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntnis enthalten sind. (1730) Somit entsteht der Begriff „Ontologie“ zu einer Zeit und im Raum eines Nachdenkens, welches sich von den antiken Ursprüngen, auf die er beständig bezogen worden ist, in vielen Hinsichten so weit wie möglich entfernt hat.

      „Ontologie oder Erste Philosophie ist die Wissenschaft des Seienden im allgemeinen oder insofern es Seiendes ist.“ (Wolff 2005, §1, S. 19) Mit dieser Bestimmung der Ontologie als der „allgemeinen Metaphysik“ folgt Woff im Grunde Aristoteles. Denn der hatte im 4. Buch seiner Metaphysik von einer Wissenschaft gesprochen (ohne dafür einen Namen zu haben), die „das Seiende, insofern es seiend ist“ (Aristoteles 2003, S. 191 [IV 1, 1003a 21]), zu behandeln habe. Als Wissenschaft, welche „die ersten Prinzipien und ersten Begriffe“ (Wolff 2005, § 1, S. 19) untersuche, sei ihr Gegenstandsbereich notwendig darauf beschränkt, das allem Seien-

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      den Gemeinsame, also das Sein selbst in seinen Grundbestimmungen, zu erarbeiten: „Da die Ontologie vom Seienden im allgemeinen handelt (§ 1), muß sie das beweisen, was allen Seienden entweder absolut oder unter einer gewissen Bedingung zukommt.“ (Wolff 2005, § 8, S. 31) Neu ist bei Wolff gegenüber Aristoteles jedoch die scharfe disziplinäre Trennung in eine „allgemeine Metaphysik“ (= Ontologie) und eine „besondere Metaphysik“. Die Ontologie als allgemeine Metaphysik soll sich mit den abstrakten Prinzipien des Seienden überhaupt befassen, die besondere Metaphysik mit den Gründen der verschiedenen Weisen des konkret Existierenden (Gegenstände – Welt – Seele – Gott). Für Aristoteles hingegen war die Fundamentalwissenschaft der „Metaphysik“ (wobei ihm auch dieser Begriff nicht zu Gebote stand), d. h. die Untersuchung der Grundlagen des Seienden, untrennbar mit der Untersuchung der letzten transzendenten göttlichen Ursache alles Seienden verbunden: Wer darüber nachdenkt, was das verschiedene Gemeinsame und Bleibende in allem Einzelnen der Wirklichkeit ist, muss demnach auf das nichtverschiedene Letzte der göttlichen Einheit zurückgehen. Als Wissenschaft von den letzten, nicht weiter rückführbaren Prinzipien der Wirklichkeit und den höchsten, das Sein auf vollkommene Weise verwirklichenden Gegenständen fallen bei Aristoteles Metaphysik und Ontologie zusammen. Die Suche nach der arché, dem Grund und Ursprung allen Seins in einem singulären Stoff oder Prinzip, war bereits ein Zentralimpuls der sogenannten „vorsokratischen Philosophen“ wie Heraklit, Parmenides oder Anaxagoras. Aber erst durch Platon und Aristoteles hat diese Zielrichtung des Denkens dann jene systematische Ausarbeitung erfahren, welche der gesamten Philosophie und Theologie des Abendlandes die entscheidenden Rahmenbedingungen gegeben hat.

      Wenn man sich vor diesem historischen Hintergrund die Frage stellt, welchen brauchbaren Begriff von „Ontologie“ man zur Hand haben sollte, so ließe sich darauf folgendermaßen antworten: Ontologie ist traditionell die Theorie von den allgemeinsten und grundlegendsten Bestimmungen des Seienden – die Theorie davon, was das Seiende (noch bevor es weiter bestimmtes Seiende wie Hund, Kegelbahn, Roman oder „Hans“ ist), zu einem überhaupt Seienden macht. Damit fragt die Ontologie seit Aristoteles nach den „Kategorien“, d. h. den „obersten Gattungen“

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      (megisté gené bei Platon) des Seienden. Kategorien sind nach Aristoteles die allgemeinsten Bestimmungen des Seienden: also Grundbegriffe, durch deren Benutzung man die allgemeinen Formen und Eigenschaften von Seiendem explizieren kann, die aber selbst nicht wieder auf allgemeinere Begriffe rückgeführt werden können. (Zum Test dieser Nicht-Rückführbarkeit: Versuchen Sie einmal, den Begriff der „Qualität“ zu definieren, ohne den Begriff bzw. seinen Inhalt selbst zu Hilfe zu nehmen!) In der Kategorienschrift entwirft Aristoteles ein System von 10 Kategorien, die sowohl Seinstypen als auch Aussageschemata sind und sich nochmals in zwei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe besteht nur aus der ersten Kategorie, der Substanz (nur noch näher unterschieden in „erste“ und „zweite“ Substanzen). Von ihr gilt, dass sie die Zentralkategorie ist, weil die anderen 9 Kategorien, welche die zweite Gruppe bilden (Quantität – Qualität – Relation – Ort – Zeit – Lage – Haben