Literarische Ästhetik. Jan Urbich

Читать онлайн.
Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



Скачать книгу

die Weite und Fundamentalität der neuen Disziplin herauszustellen. Denn Rhetorik und Poetik sind zum einen dahingehend ungeeignete Kandidaten für die neue Wissenschaft, als sie Theorieformen mit technisch-praktischer Ausrichtung darstellen. Nicht nur ist ihr Gegenstandsbereich auf Dichtung bzw. Texte begrenzt, sondern auch ihre Methodik fokussiert fast ausschließlich die Frage nach den Regeln, durch welche Werke der Dichtkunst hergestellt werden (Poetik) sowie nach den Regeln, durch welche sie in der Ausbildung des Geschmacksvermögens richtig beurteilt werden können (Kritik). Seit Aristoteles‘ Poetik, die vor allem seit der Frühen Neuzeit als „Regelpoetik“ missverstanden wurde (vgl. umfassend Fuhrmann 1992), ist das Genre der Poetik gleichbedeutend mit Regelpoetik: eine Anleitung zum möglichst wirkungseffektiven Schreiben von Dichtung, welche die Tradition rhetorischer Lehrbücher seit der Antike integriert und auf die besonderen Anweisungen zum Erstellen wirkungsvoller Dichtung eingegrenzt hat. Dieses Genre der Poetik hat in ganz Europa wichtige und bedeutende Werke hervorgebracht: Horaz‘ Ars poetica, die dabei selbst zum Vorbild wurde, inspiriert in der Neuzeit Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Nicolas Boileaus L‘Art poétique (1674) oder Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730). Leitend war dabei stets die Idee, dass Dichtung „nützen und erfreuen“ (prodesse et delectare, Horaz) müsse, ihre ‚Herstellung‘ sich also an diesen rezeptionsästhetischen Normen auszurichten habe (Kap. 12.2).

      [30]

      Baumgarten setzt mit der Ästhetik eine Fundamentalreflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der sinnlichen Wahrnehmungs- wie der sinnlichen Ausdrucksvermögen des Menschen dagegen. Bevor man sich demnach über einzelne Kunstgattungen oder Darstellungsweisen und ihre Zwecke verständigen kann, gilt es erst einmal zu klären, welche Potentiale und Funktionen den sinnlichen Dimensionen des Menschen überhaupt zukommen.

      Damit zielt Baumgarten auch darauf, einen extremen Gegensatz zwischen gewissen idealtypischen Positionen auf vernünftige Weise zu vermitteln, der oftmals (aber nicht ausschließlich) als Widerspruch zwischen der Produktion (Poetik) und der Rezeption (Kritik) von Kunst bzw. Dichtung theoretisch manifest geworden war:

      Man mag einwenden: […] Die Ästhetik ist eine Kunst, keine Wissenschaft. […] Man mag einwenden: […] Ästhetiker werden – ebenso wie die Dichter – geboren; Ästhetiker kann man nicht werden. (Baumgarten 2007, S. 17 [§ 10,11])

      Eine merkwürdige historische Doppeloptik ist hier in das Wort ‚Kunst‘ eingetragen, welche die Übergängigkeit deutlich macht, in welcher sich auch der Kunstbegriff im 18. Jh. befindet. Im aristotelischen Sinne von ‚ars/ techné‘ ist Kunst gerade in rationalistischer Tradition der Oberbegriff für alle handwerklichen Produkte wie auch für deren Verfertigungshandlungen, die man durch die Anleitung von Regeln lernen kann. Allerdings eignen sie sich aufgrund ihrer ‚niedrigen‘ ontologischen Komplexität nicht dazu, durch Wissenschaft erschlossen, d. h. in ein System letzter Grundsätze überführt zu werden. Im platonischen Sinne dagegen – und dieser Gebrauch schwingt in der Idee des ‚Geborenseins‘ zur Dichtung mit – ist Kunst als Begriff für die im engeren Sinn ‚schönen Künste‘ an eine Inspiration gebunden, die in der antiken Enthusiasmus-Lehre als göttliche Eingebung verstanden worden ist. Deshalb liegt sie jenseits aller Regelhaftigkeit oder bewussten Beherrschbarkeit (vgl. Platons frühen Dialog Ion): eine Idee, die im 18. Jh. im Begriff des Genies wiederkehrt, das für die naturhaften, unerlernbaren und nicht-rationalen kunstschaffenden Kräfte im Menschen steht (vgl. die wirkmächtige Definition von Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, Kap. 7.3).

      [31]

      In Baumgartens Einwendungen treten beide Kunstbegriffe scheinbar merkwürdig zusammen und verteilen sich zugleich implizit auf die beiden traditionellen Disziplinen zum dichterischen Kunstwerk. Wo nämlich die Poetik vor allem im Gewand der Regelpoetik die Lehr- und Lernbarkeit von Regeln zur Produktion von Dichtkunst voraussetzte, galt als Grundsatz der „Kritik“ oftmals das bekannte: „Je ne sais quoi“ (zur Geschichte dieses Grundsatzes vgl. Ullrich 2005, S. 9 – 31) – „Ich weiß nicht, was“. Die geheimnisvolle Kraft und Macht, welche die Kunst über den Rezipienten ausübt, so dieser im 18. Jh. enorm populäre Gedanke, sei rational nicht vollständig zu erklären und entziehe sich deshalb auch der regelgeleiteten normativen Erfassung. „De gustibus non est disputandum“ („Über Geschmack lässt sich nicht streiten“) muss in dieser Perspektive daher stets das letzte Wort kunstkritischer Einlassungen bleiben. Baumgartens Ästhetik sucht einen Weg zwischen den Extremen: in der Aufklärung darüber, was genau an sinnlichen Erkenntnisvermögen wie sinnlichen Darstellungsgebilden fassbar und was unfasslich ist – und aus welchen Gründen das so ist.

      Damit ist die völlige Unbestimmbarkeit des Sinnlichen, wie sie die rationalistische Tradition seit Descartes vorausgesetzt hat (vgl. Menke 2008, S. 11 – 25), bereits in Zweifel gezogen. Auch das Unbestimmbare lässt sich, so Baumgarten, als Unbestimmbares begründen und muss nicht doppelt unbestimmbar sein (in seinem Sosein und in den Gründen dieses Soseins). Es hat somit Teil an der Rationalität des Verstandes und der Vernunft, ohne doch diesen gleichgestellt oder vergleichbar zu sein bzw. ohne in diesen aufzugehen. Diese ‚Rationalisierung‘ der Sinnlichkeit und des Schönen als Teil auch der Verwissenschaftlichung und Systematisierung des Menschen im 18. Jh. gesteht dem Ästhetischen ein Fundament von Intersubjektivität zu. Dieses begründet bei anderen Denkern sogar eine spezifische Sozialisationskompetenz: vom „Gemeinsinn“ (common sense), der nach Kant im Geschmacksurteil zum Ausdruck kommt, bis zur Utopie einer ästhetischen Gemeinschaft bei Schiller, der die Kunst als gesellschaftsbildende und menschheitsvollendende Kraft begreift.

      Damit ist zugleich eine Stoßrichtung von Baumgartens Kritik gestreift, die noch weit hinter den Rationalismus neuzeitlicher Prägung zurückgreift: die zuerst platonische und dann christliche Kunstfeindlichkeit des Abendlandes, die immer auch eine Sinnenfeindlichkeit war

      [32]

      (vgl. Hammermeister 2007, Kap. 12.2). „Man mag einwenden: […] Die unteren Vermögen und das Fleisch müssen eher besiegt als aufgeweckt und bestärkt werden.“ (Baumgarten 2007, S. 17) Denn eben mit dieser Verurteilung der Kunst und speziell der Dichtkunst hat Platon im 10. Buch der Politeia eine Tradition der Kunstfeindlichkeit eröffnet. Danach könne Kunst zur Erkenntnis der Wirklichkeit nichts beitragen, weil sie auf den nur sinnlich-emotiven Kräfte der Seele beruhe und nur auf sinnliche, d. h. abbildhafte Weise die Wirklichkeit vergegenwärtige (Kap. 8.1, Kap. 12.4). Die sinnliche Ausstattung des Menschen aber ist für Platon die Gegenkraft alles Wahren, Schönen und Guten. Diese Tradition der Kunstfeindlichkeit reicht über die christlichen Kirchenväter (Tertullian, De spectaculis) bis ins 18. Jh. und schlägt sich bspw. noch in einem Text wie Rousseaus Brief an D‘Alembert über das Theater nieder.

      Wollen wir also feststellen, daß von Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildnern der Tugend seien und der andern Dinge worüber sie dichten, die Wahrheit (

) aber gar nicht berühren. (Platon 1991, Bd. V, S. 731f.)

      Baumgartens Ästhetik zielt deshalb auch darauf: a) die sinnlichen Wahrnehmungs- wie Darstellungsvermögen des Menschen in das System der überhaupt erkenntnisfähigen Kräfte des Menschen aufzunehmen. b) die sinnlich-emotiven Dimensionen des Menschen als in sich selbst wertvolle, epistemisch wie sozial produktive und stabilisierende Vermögen aufzufassen.

      Die ‚Einwände‘ reflektieren darüber hinaus den neuen Modus der Ganzheitlichkeit, in welchem der Baumgartensche Rationalismus gegen die bisherigen Verengungen des Menschseins auf die rationalen Vermögen vorgeht:

      § 6 Man mag gegen unsere Wissenschaft einwenden, […] daß Sinnliches, Einbildungen, Märchen, die Wirrnisse der Leidenschaften den Philosophen unwürdig seien und unter ihrem Horizont lägen. Ich antworte: […] Ein Philosoph ist ein Mensch unter Menschen, und er tut nicht gut daran, wenn er glaubt, ein so großer Teil der menschlichen Erkenntnisse sei ungehörig für ihn (Baumgarten 2007, S. 15).

      [33]

      Freilich begründet dies Baumgarten hier weniger anthropologisch damit, dass die sinnlichen Vermögen genauso das Menschsein in seinen besonderen