Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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2) sowie auf die beinahe ausschließliche Gleichsetzung von „Rationalität“ und „Begründbarkeit“ (vgl. Habermas 1981, Bd. 1, S. 27) stellt sich dabei jedoch das begründungstheoretische Problem, wie denn diese letzten Grundbegriffe des Seienden wiederum wissenschaftlich gesichert gefunden, erkannt und dargestellt werden sollen. Denn als Bedeutungsweisen, welche die Grundlage all unseres Sprechens abgeben, können sie nicht innerhalb der Diskurse und Sprechweisen begründet werden, weil man für diese Begründungen sie immer schon voraussetzen muss und so in einen logischen Zirkel gerät. Deshalb sind auch hier vermehrt Kunst und Dichtung als mögliche Weisen begriffen worden, die Bedeutungsräume unserer sprachlichen Weltverhältnisse zu erkunden oder gar zu „stiften“ (Kap. 12.4).

      Ein „klassisches“ Beispiel ontologischer Begriffsanalyse, das ebenfalls auf Aristoteles zurückgeht und sozusagen das „Grundgerüst“ seiner Ontologie abgibt, stellt also die Unterscheidung von „Substanz“ und „Akzidenz“ bzw. von „substantiellen“ und „akzidentellen“ Eigenschaften dar. Die substantiellen Eigenschaften sind diejenigen Eigenschaften, die eine Sache wesentlich ausmachen und deshalb nicht ‚weggedacht‘ werden

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      können, ohne das Sein der Sache selbst aufzuheben. Damit sind es die Eigenschaften, die einer Sache „an sich“ zukommen und als solche stets identisch und unveränderlich sind. Demgegenüber sind die akzidentellen Eigenschaften zufällig und veränderlich, weshalb sie das Wesen der Sache nicht modifizieren, sondern sozusagen nur dessen veränderliche Oberfläche betreffen. Substantielle Eigenschaften existieren nur als „an sich Sein“, d. h. einzig in Bezug auf sich seiend, während akzidentielle Eigenschaften dem Wort nach nur „in Bezug auf anderes Sein“ existieren: nämlich in Bezug auf das, an dem sie angelagert sind. Dieser Unterschied kann auch als Unterschied verschiedener Gebrauchsweisen des prädikativen „Ist“ erläutert werden. „Hans ist ein Mensch“ bestimmt das Menschsein von Hans als substantiell: nämlich so, dass Hans sein Menschsein weder abgeben noch ändern kann, ohne aufzuhören, Hans zu sein. „Hans“ ist hier von der Art der „ersten Substanz“ (Individuum), „Mensch“ von der Art der „zweiten Substanz“ (Gattungsbegriffe). „Hans hat graue Haare“ hingegen weist Hans eine akzidentelle Eigenschaft zu, weil „graue Haare haben“ nicht notwendigerweise zu Hans gehört und wir sogar annehmen können, dass Hans in seiner Jugend möglicherweise schwarze Haare hatte, sowie im hohen Alter überhaupt keine Haare mehr hat, ohne dadurch aufzuhören, Hans zu sein. In der Substanz sammeln sich die wesentlichen, dauerhaften und unabhängigen Bestimmungen einer Sache; sie ist das selbständig und real Seiende. Deshalb macht sie das eigentlich Seiende aus, wohingegen die Akzidenzien, weil sie nur an und durch Substanzen existieren (Graue-Haare-haben existiert nicht irgendwo als Sache unabhängig von Hans) und nicht deren Stabilität teilen, nur im abgeleiteten Sinne als seiend anzusprechen sind. (Diese Grundlage einer Substanzmetaphysik ist allerdings in der Tradition der abendländischen Philosophie in vielerlei Hinsicht kritisiert und auch verändert worden.) So lassen sich schließlich im Anschluss an Aristoteles verschiedene Bedeutungen von „ist“ angeben, welche die Grundlage ontologischer Analyse abgeben: Man unterscheidet 1. eine Existenzbedeutung von „sein“ („Hans ist“), von der das sogenannte „Wahrheits-Ist“, das sich auf das tatsächliche Bestehen von Sachverhalten bezieht, ein besonderer Fall ist („Es ist der Fall, dass Hans existiert“). Daneben gibt es 2. das „ist“ als Kopula, und zwar 2.1 einmal im Sinne prädikativer Verknüpfungen,

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      mit der (aristotelisch gesprochen) Substanzen Bestimmungen zugewiesen werden („Hans ist ein Mensch“), und 2.2 zum anderen im Sinne eines Identitäts-Ist, das deiktischen Charakter hat („Das ist Hans“).

      Im Rahmen des vorliegenden Kapitels ist die „ontologische“ Fragestellung weitaus weniger fundamental gedacht, als es die Grundsätzlichkeit ontologischen Nachdenkens nahelegt. Schließlich geht es hier nicht um Sein an sich bzw. Seiendes im Allgemeinen, sondern um ein ganz bestimmtes „Seiendes“, nämlich die Literatur. Eine Ontologie der Kunst bzw. der Literatur kann also nur eine „Regionalontologie“ sein, weil sie sich mit einer ganz bestimmten Art von Seiendem befasst. Sie fragt nicht wie die „klassische“ philosophische Ontologie danach, was überhaupt „Sein“ ist und welche grundsätzlichen Formen von Seiendem es gibt. Die entsprechende Frage lautet demnach: Was für eine Art von Sein kommt literarischen Werken zu? Was mit dieser Frage nun eigentlich genau gemeint, ob sie überhaupt sinnvoll ist und auf welche wissenschaftliche Tradition sie sich bezieht, sollen die folgenden Abschnitte klären.

      Die „Ontologie der Kunst“ als Untersuchungsfeld innerhalb der „Ästhetik“ bzw. der „Philosophie der Kunst“ entsteht erst im 20. Jahrhundert und ist zuerst weitestgehend auf den angelsächsischen Sprachraum und dort genauer auf den Schulzusammenhang der „analytischen Philosophie“ beschränkt (einen zuverlässigen Überblick gibt der Sammelband von Schmücker 2005). Der relativ junge Entstehungskontext ist durch die Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts bedingt, innerhalb derer bestimmte Fragestellungen überhaupt erst virulent geworden sind. Marcel Duchamps ready-mades (wörtlich: schon gemachtes, bereits fertig Vorhandenes) wie bspw. Flaschentrockner von 1914 nämlich geben der modernen Kunst gleich zu Beginn des 20. Jh. eine neue Richtung. Das Kunstwerk wird nun nicht mehr vom Künstler „hergestellt“ und beruht auch nicht mehr auf seiner besonderen mechanischen Kunstfertigkeit (Kap. 7.3), die im antiken Begriff der „techné“ sogar das hervorragende Merkmal jeder Art von Kunst – ob nun Handwerkskunst oder Plastik – gewesen ist. Es ist kein einzigartiges „Original“, sondern bereits als singuläres Kunstwerk zugleich ein Massenprodukt, das sich nur durch die Signatur des Künstlers von anderen Exemplaren unterscheidet. Und schließlich ist in ihm die Darstellungsfunktion, der

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      Bezug auf das aristotelische Prinzip der „Mimesis“, der Nachahmung von Wirklichkeit (Kap. 8), extrem eingeschränkt: Der Flaschentrockner stellt nichts dar als sich selbst, er präsentiert sich in seiner Gewöhnlichkeit und dinglichen Gleichgültigkeit. Duchamps Provokation besteht darin, mit jahrtausendealten Konventionen der Herstellung und der Rezeption von Kunst zu brechen, indem er das altehrwürdige Konzept des „Werkes“ (Kap. 4.4) unterläuft. Warum soll dieser Flaschentrockner oder sogar das Urinal, durch welches das Konzept des „ready-mades“ 1917 weltweite Berühmtheit erhalten hat, überhaupt noch ein Kunstwerk sein? Wo ist das „Besondere“ an ihm, das, was nicht (scheinbar) jeder kann? Kann ein Gegenstand, der weder über seine Form noch über seinen Inhalt nach den Prinzipien künstlerischer Gestaltung und ästhetischer Wertschätzung rezipiert wird, trotzdem ein Kunstwerk abgeben? Die sogenannte „Krise des Werkbegriffs“ (Bubner 1989) in den Künsten des 20. Jh. nimmt von Duchamps „ready-mades“ ihren Ausgang und ist Symptom des kritischen Abstands, den die moderne Kunst von tradierten, für selbstverständlich gehaltenen Vorstellungen davon, was überhaupt ein Kunstwerk sei, genommen hat. Damit rückt aber die Frage, was für ein „Sein“ dem Kunstwerk überhaupt zukommt, im 20. Jh. ins Licht der Aufmerksamkeit. Wenn es möglich ist, alle bisher für konstitutiv gehaltenen Merkmale des „Kunstwerkseins“ abzuziehen und trotzdem noch ein Kunstwerk zu erhalten, stellt sich die Frage danach, ob Kunstwerke überhaupt eine eigenständige Entität sind, oder nicht vielmehr alles zum Kunstwerk „erklärt“ werden kann.

      In jedem Fall hat die Kunst der „ready-mades“ und die Aktionskunst der Avantgarden dazu geführt, dass sich der Kunstbetrachter in modernen Galerien und Museen nie so ganz sicher sein kann, ob er da ein Kunstwerk vor sich hat bzw. was daran eigentlich das Kunstwerkhafte ist. Die Kunst selbst ist es hier gewesen, die eine bestimmte Weise der Philosophie der Kunst hervorgebracht und zu ihrem eigenen Thema gemacht hat: so sehr, dass bspw. Arthur C. Danto, einer der einflussreichsten amerikanischen Kunstphilosophen, die These vertritt, dass die moderne Kunst zu ihrer eigenen Philosophie geworden sei (Danto 1992, S. 37 – 40). Denn das „ready-made“ hat im Grunde keinen anderen Inhalt, als stets dieselben Fragen zu stellen: Bin ich Kunst? Was ist Kunst?

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      In sehr vereinfachter Form (zu einer genaueren Unterteilung vgl. Tegtmeier 2000) lassen sich indes zwei Hauptzielrichtungen der ontologischen Frage in Bezug auf die Kunst benennen. Man könnte auch