Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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die für sein Dasein konstitutive Bedeutung haben – so zumindest die physikalismuskritische Argumentation, wie sie bspw. von Arthur C. Danto vertreten wird.

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Die „Identität“ der Literatur: Was ist die ontologische Einheit des Werkes?

      Die Identitätsfrage des literarischen Kunstwerkes ist direkt mit seiner Existenzfrage verbunden und erweist sich als ihr begriffliches Epiphänomen. Es hat sich bisher gezeigt, dass sowohl der kunstontologische Mentalismus wie der Physikalismus in Bezug auf die Frage nach der Existenzweise des literarischen Kunstwerkes allein keine befriedigende Antwort zu geben vermögen. Aus mentalistischer Perspektive ist die Frage nach der Identität des Werkes scheinbar gänzlich unbeantwortbar: Warum die verschiedenen Realisationen eines Romans in der Psyche verschiedener Leser Exemplare eines Werkes sein sollen, lässt sich nur schwer begründen, wenn man nicht die unplausible weitgehende Gleichartigkeit unserer geistigen Verfassung und Vermögen sowie die Gleichartigkeit der mentalen Realisationen eines Werkes bei verschiedenen Subjekten annimmt.

      Aber auch physikalistisch ist die Identität eines Werkes schwer begrifflich zu bestimmen. Dass das literarische Werk nicht mit dem Begriff des materiellen Trägerobjekts identisch ist, ist bisher bereits deutlich geworden. Das literarische Werk kann aber auch nicht einfach mit einem physischen Exemplar identifiziert werden: Denn das Einzelexemplar kann zerstört werden, ohne dass dadurch auch das Werk vernichtet wird. Ebenso unplausibel ist es, literarisches Werk und Originalmanuskript zu identifizieren, wie Nelson Goodman durch seine grundsätzlich sinnvolle Unterscheidung von „autographischen“ und „allographischen“ Künsten gezeigt hat. Identifiziert man das literarische Werk mit dem Wortlaut eines bestimmten Exemplars, gerät man in das Problem annehmen zu müssen, dass eine bestimmte Menge von Druckfehlern ein anderes Werk konstituiert. Außerdem können dann Übersetzungen nicht Übersetzungen eines Werkes mehr sein, sondern konstituieren andere Werke. Schließlich ist es auch nur schwer möglich, das einzelne literarische Werk mit der Klasse aller seiner Exemplare zu identifizieren. Denn die gesamte Klasse ist stets vermehr- oder verminderbar, während dies auf das Werk nicht zutrifft. Auch die Frage, ob das literarische Werk zerstört ist, wenn alle Exemplare zerstört sind, ist in der Forschung durchaus kontrovers diskutiert worden. Es zeigt sich also, dass der Physikalismus

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      allein auch keine hinreichende Antwort auf das Problem der Identität des Werkes geben kann.

      Die Theorie der Existenz und Identität von Kunstwerken aller Art muss demnach folgende grundlegende begriffliche Spannung integrieren und erklären (vgl. umfassend Schmücker 1998, 2005). Zum einen fallen Kunstwerke, auch literarische, in ihrem Sein nicht völlig mit ihren physischen Manifestationen zusammen – das ist die Konsequenz aus den physikalistischen Dilemmata. Zum anderen können sie aber auch nicht „platonisch“ als etwas von diesen Manifestationen absolut kategorial getrenntes Geistiges aufgefasst werden – das ist die Konsequenz aus den Problemen des mentalistischen Paradigmas. Reinold Schmücker, ein gegenwärtiger Kunsttheoretiker, der die kunstontologischen Fragestellungen im deutschsprachigen Raum profiliert hat, schlägt deshalb im Anschluss an Günter Patzig (Patzig 2005) vor, das Verhältnis von Kunstwerk und Manifestation (Exemplar) gemäß des „Type-Token“-Schemas zu verstehen. Dieses wurde von dem amerikanische Logiker Charles Sanders Peirce (1839 – 1914) entworfen, greift aber natürlich auf ältere (onto)logische Modelle zurück. Dieses Begriffsschema erlaubt die Vereinbarung der oben bezeichneten gegensätzlichen Bewegungen: Der „Type“ (Typus) fällt zum einen nicht mit den „Token“, d. h. den physischen Exemplaren seiner selbst zusammen, kann sich jedoch zugleich nur in und durch die „Token“ realisieren. So fällt Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (Typus) mit keinem seiner Exemplare oder der Menge seiner Exemplare zusammen. Trotzdem gibt es ihn nur und ist er nur zugänglich, wenn er sich in mindestens einem Exemplar realisiert und durch ein Exemplar (das des Autors) hervorgerufen worden ist.

      Diese Verbindung beider Seiten ist möglich, weil Kunstwerke wie Zahlen „objektiv-nichtwirkliche“ Entitäten sind (vgl. Schmücker 1998, S. 239; Schmücker 2005, S. 150). Anders als physische Dinge (= objektiv-wirkliche Entitäten) und bloß subjektive Vorstellungen (= subjektiv-nichtwirkliche Entitäten) ist ihr Sein zwar kein physisches (deshalb „nicht-wirklich“), doch sie sind zugleich ebenso intersubjektiv wirklich und allgemein strukturiert wie Zahlen oder mathematische Gedanken (= „objektiv“). Zugleich trennen sie von der ontologischen Qualität bspw. der Zahlen jedoch zwei wichtige Einschränkungen: 1. Anders als Zahlen, die auch

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      existieren, wenn keiner an sie denkt oder noch nie jemand an sie gedacht hat, sind Kunstwerke nicht ewig, sondern an ihre Erschaffung und Realisation in der historischen Zeit gebunden. Deshalb sind sie auch nicht wie Zahlen ungeschaffen, sondern Artefakte, also Gemachtes (Kap. 13.3). 2. Ihre Bestimmung als Kunstwerk ist keine rein objektive Qualität, die von kultur- und zeitspezifischen Bedingungen unabhängig ist, sondern unterliegt einem evaluativen, d. h. auf Wertungen basierenden Konsens, der sich ändern kann (Kap. 13.3, Kap. 13.4). Nicht alles nämlich, was zu bestimmten Zeiten als Kunstwerk gilt, kann diesen Status auch zu anderen Zeiten erlangen. Damit wird deutlich, dass das „literarische-Kunstwerk“-Sein, auch wenn es nicht mit seinen physischen Manifestationen zusammenfällt, doch sehr viel stärker an die Bedingungen physischer und symbolischer Realität (Zeitlichkeit, kulturelle Veränderlichkeit, Materialitätsgebundenheit) geknüpft ist, als das gewöhnlich für die Klasse von Seiendem (objektiv-nichtwirkliche Entitäten) gilt, in welche es fällt. Eine Ontologie literarischer Kunstwerke muss diese widerspruchsvollen Bedingungen ausloten und integrieren, ohne sie zum Verschwinden zu bringen und so unerlaubt den Problemhorizont zu begrenzen, in welchem sich das kunstontologische Fragen vollzieht.

      Die vorliegenden Überlegungen weisen also auf eine signifikante Besonderheit der Ontologie des literarischen Werkes hin, die es am Schluss noch einmal hervorzuheben gilt. Denn das „Type-Token“-Schema, welches die begriffliche Grundlage für die Ontologie des Kunstwerkes bereitstellt, kann auch als ein Verhältnis der Darstellung beschrieben werden. Darstellend heißt in diesem grundsätzlichen Sinn nämlich ganz abstrakt jede Beziehung, in der Eines durch ein Anderes erscheint: „Darstellung ist das Sichzeigen von etwas an einem Anderen“. (Figal 1996, S. 123) Hans-Georg Gadamer, der Begründer der modernen Hermeneutik (Kap. 10.2), hat den Begriff der „Darstellung“ zu einem Zentralbegriff seiner Verstehenslehre gemacht und ihn dabei zugleich ontologisch gefasst. Denn Darstellung heißt bei ihm jeder Vorgang, in welchem ein Darstellendes ein Dargestelltes allererst zur Wirklichkeit bringt und sich deshalb das Dargestellte erst in seiner Darstellung als wirklich seiend zeigen kann. Zugleich aber bleibt das Dargestellte kategorial und ontologisch von dem Medium der Darstellung getrennt, durch das es sich seiend macht

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      (vgl. Gadamer 1986, S. 142). Das Sein des Dargestellten kommt zu sich erst in einem Anderen, der Darstellung, und bleibt doch zugleich von diesem zu unterscheiden. Diese Doppelbewegung von Trennung und Vermittlung, Abbildung und Hervorbringung kennzeichnet auch das Verhältnis von Kunstwerk und Exemplar. Das einzelne Exemplar ist die Bedingung wie das Medium der Existenz des Werkes und zugleich in seiner Welthaftigkeit der Grund der Zeitlichkeit und Relativität des Kunstwerkseins – ohne doch dieses Kunstwerksein vollständig selbst zu sein. Das Kunstwerk stellt sich in seinen Exemplaren dar, und das heißt nach dem Gesagten: Es ist nur in diesen wirklich, ohne dass sein Sein in dem materialen Sein der Exemplare aufginge. „Darstellung“ ist das literarische Kunstwerk also nicht nur dadurch, dass es als „Mimesis“ der Wirklichkeit sich in Inhalt und Form auf diese bezieht (Kap. 8). Schon das Sein literarischer Kunstwerke selbst muss begriffslogisch als Darstellungsverhältnis begriffen werden.

      Kontrollfragen:

      1. Was untersucht die Ontologie der Literatur?

      2. Erläutern Sie das „Menard“-Problem anhand der Positionen von Danto und Goodman!

      3. Worin liegen die Probleme, die Identität des literarischen Werkes zu bestimmen?

      Literaturempfehlungen:

      Schmücker,