Literarische Ästhetik. Jan Urbich

Читать онлайн.
Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



Скачать книгу

      Bei Baumgarten wird das Schöne zum Thema im Rahmen der Theorie ‚schöner‘ Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung bzw. schöner Ausdrucksformen, die als besonders stimmig, vielsagend, konkret und anregend verstanden werden. Kant rückt als ‚schön‘ vor allem Naturphänomene in den Blick, die vom Subjekt in einer spezifischen Einstellung („interesseloses Wohlgefallen“) wahrgenommen werden müssen, um im Anblick ihrer formalen Gestaltung das Schöne erlebbar zu machen. Hegel erst stellt (im Anschluss an die Objektivierung des Schönen in Schillers Kallias-Briefen, 1793) das Kunstschöne als Objekteigenschaft von Kunstwerken vollends und allein ins Zentrum der Disziplin Ästhetik. Erst mit ihm wird die Ästhetik zu einer Wissenschaft von den letzten Gründen und historischen Zusammenhängen der Kunst: „Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist »Philosophie der Kunst« und bestimmter »Philosophie der schönen Kunst«.“ (Hegel 1997, Bd. 1, S. 13)

      Mit Hegel tritt die Idee des Kunstwerks als organisch geschlossene, harmonisch geordnete Ganzheit in den Vordergrund, in der sich die Gegensätze von Subjektivität und Objektivität, Geistigkeit und Sinnlichkeit, Einzelnem und Ganzem versöhnen. Damit soll im Schönen des Kunstwerks als Ausdruck dieser Versöhnung das ‚Absolute‘ selbst zur Anschauung kommen; eine Idee, die bei Schiller (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795) und Schelling (System des transzendentalen Idealismus, 1800) bereits angedacht und in zahlreichen weiteren ästhetischen Entwürfen der Goethezeit (bspw. Karl Philipp Moritz) leitend geworden ist. Das konstitutive Bezogensein der verschiedenen thematischen Dimensionen der neuen Disziplin Ästhetik auf das Schöne, dem allerdings nicht erst mit der Rezeption von Edmund Burkes Schrift Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757) das Erhabene an die Seite tritt, bestimmt den Raum der klassischen Ästhetik der Goethezeit.

      Der Verlust des gemeinsamen Horizonts des Schönen bezeichnet hingegen im 19. Jh. den Eintritt in die ‚moderne‘ Ästhetik. Der Aus-

      [38]

      druck ist allerdings mit Vorsicht zu gebrauchen. Es ist nämlich gerade das Kennzeichen der ästhetischen Entwürfe der nachgoetheschen Ära, anstelle der thematischen Einheitlichkeit und begrifflichen Übersichtlichkeit der klassischen Ästhetiken des späten 18. und frühen 19. Jh. eine unübersichtliche Vielzahl kleinteiliger Kategorien zu setzen. Diese sind oft höchst einzelwerkbezogen sowie zueinander inkommensurabel und überschreiten noch dazu die Wissenschaftsdiskurse, indem sie oft die Grenzen zu den modernen Natur- und Sozialwissenschaften ignorieren.

      Im Schönen erscheint die Wirklichkeit in sinnlicher Weise als geordnet, harmonisch, ganz und als Ausdruck eines höheren Sinns. Mit dem Verlust dieser quasi-religiösen Erfahrung in den modernen Lebenswelten des 19. Jh., die bereits durch Industrialisierung, urbane Vermassung, Verarmung, Beschleunigung der Veränderungen und Unübersichtlichkeit der Verhältnisse sowie durch individuelle bzw. kollektive Entfremdung gekennzeichnet sind, geht auch die Möglichkeit verloren, die Wirklichkeit in der Weise schöner Darstellung zu repräsentieren. Diese Diagnose findet sich in Bezug auf ästhetische Fragen bereits in Hegels Beschreibung der Bedeutung der Kunst bzw. Poesie für die Gegenwart seiner Zeit: zum einen darin, dass Hegel der Kunst nicht mehr zuspricht, die höchste Form der Verwirklichung der Kultur zu sein. Einer Kultur wie der modernen ist es nicht mehr möglich, ihre komplizierten Verhältnisse und Strukturen durch Kunstwerke zu repräsentieren und damit zu begreifen:

      Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. (Hegel 1997, Bd. 1, S. 142)

      Dieser vielbesprochenen These vom ‚Ende der Kunst‘, die aber nur ein Ende ihrer höchsten Funktion als einziger und vollkommenster Ausdruck des Ganzen der Wirklichkeit ist, steht aber noch eine andere Hinsicht zur Seite. Hegel diagnostiziert auch eine Entwertung der Lebenswelt selbst, einen Verlust an unmittelbarer Einheit von Dasein und Sinn, ein Auseinandertreten von Wirklichkeit und ihr einwohnender, unmittelbarer Vermittlung mit Vernunft und kollektiver Bedeutung. Diese „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel 1997, Bd. 3, S. 393) einer durch umfassende Modernisierung vom Sinnverlust bedrohten Wirklichkeit, der das Individuum

      [39]

      mit seinem Sinnverlangen entgegensteht, wird für Hegel im Roman zur Anschauung gebracht und reflektiert.

      Damit bereitet er eine These vor, die von Ästhetikern und Literaturtheoretikern des 20. Jh. wie Georg Lukács oder Walter Benjamin aufgenommen und ausgeführt wird. Im modernen Roman, der mit den realistischen französischen Romanen des 19. Jh. (Balzac, Zola, Flaubert etc.) seinen ersten Höhepunkt erreicht, werde die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des Menschen (Lukács), seine fundamentale soziale Einsamkeit und damit seine Entfremdung von allen Arten kollektiven Ausdrucks wie Erzählen (Benjamin) zum Thema gemacht (Kap. 9.1). Dementsprechend sind die Kategorien der ‚modernen‘ Ästhetik, wenn man diese überhaupt derart charakterisieren kann, durch Dissonanz, Verfremdung, Negativität, Reflexivität und Verdunkelung des Sinns bestimmt.

      Statt der objektiven Harmonie großer Kunst steht schon beim Frühromantiker Friedrich Schlegel (1772 – 1829) das am einzelnen Subjekt orientierte ‚Interessante‘ der Darstellung im Mittelpunkt; statt des Schönen rückt das Hässliche theoretisch bei Karl Rosenkranz (Ästhetik des Häßlichen, 1853) und poetisch in den Gedichten Baudelaires und den Romanen Flauberts ins Zentrum der Aufmerksamkeit; das Böse bzw. das Amoralische der Kunst betont der europäische Ästhetizismus des 19. Jh. gegen die klassische Einheit des Wahren, Guten und Schönen; semantische Verdunkelung und Hermetisierung der poetischen Darstellung entziehen seit dem französischen Symbolismus der Dichtung die Selbstverständlichkeit eines immer schon gelungenen Verständlichseins von Welt. Verfremdung, Fragmentierung, Plötzlichkeit, Schock und das Ins-Zentrum-Rücken der Materialität der Sprache werden in den Avantgarden des 20. Jh. wie dem Expressionismus zu poetischen Kategorien des Gegenentwurfs zur klassischen Werkeinheit und der überhöhten Harmonie von Welt und Darstellung (vgl. Bürger 1974). Zugleich wirken jedoch die wirkmächtigen Vorstellungen klassischer Ästhetik bei vielen Autoren und Theoretikern, wenn auch oft gebrochen, weiter. So entsteht ein kompliziertes Nebeneinander theoretisch-begrifflicher Muster, das keine verbindliche Orientierung mehr bieten kann, dafür jedoch die künstlerische Freiheit gegenüber dem Formen- und Begriffsvorrat der ästhetischen Tradition weiter geöffnet hat.

      [40]

Literarische Ästhetik als Philosophie der Literatur

      Diese Vorlesungen sind der Ästhetik gewidmet; ihr Gegenstand ist das weite Reich des Schönen, und näher ist die Kunst, und zwar die schöne Kunst ihr Gebiet. Für diesen Gegenstand ist der Name Ästhetik eigentlich nicht ganz passend, denn „Ästhetik“ bezeichnet genauer die Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens […]. Wir wollen es deshalb bei dem Namen Ästhetik bewenden lassen, weil er als bloßer Name für uns gleichgültig und außerdem einstweilen so in die gemeine Sprache übergegangen ist, daß er als Name kann beibehalten werden. Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist „Philosophie der Kunst“ und bestimmter „Philosophie der schönen Kunst.“ (Hegel 1997, Bd. 1, S. 13)

      Als Hegel in den 20er Jahren des 19. Jh. diese einleitenden Bemerkungen zu seinen Vorlesungen über die Ästhetik verfasst, liegt die bewegte Zeit, in der sich der Begriff „Ästhetik“ konstituiert (ca. 1750 – 1800), bereits hinter ihm. Von einem Terminus, der eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und des besonderen sinnlichen Ausdrucks bezeichnet (Baumgarten), zu einer Bezeichnung für die besondere Raum- und Zeitanalyse des transzendentalen Subjekts (Kant) bis zum Namen für eine Philosophie des Schönen (Kant, Schiller) und eben noch enger gefasst für eine Philosophie der schönen Künste (Schelling, Hegel): Alles sollte irgendwie in diesem neuen Begriff einmal untergebracht werden. Benutzt man den Begriff heute, ist es also angezeigt, genau zu markieren, welche Art von Gegenstandsbereich man damit meint. In diesem Buch soll in der Tradition Hegels „Ästhetik“ als Begriff für eine Disziplin gebraucht werden, die sich um die begrifflichen Grundlagen der Kunst kümmert – mit der Einschränkung, dass hier nicht von der Kunst, sondern nur von Literatur