Literarische Ästhetik. Jan Urbich

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Название Literarische Ästhetik
Автор произведения Jan Urbich
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846335437



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man diese beide Fragen prinzipiell voneinander trennt – was nicht heißt, dass die Antwort auf beide sie nicht doch wieder zusammenführt. Aber Literatur als etwas der theoretischen Begriffsbildung Entgegengesetztes zu betrachten, ist nur eine mögliche Antwort auf die generelle und unabweisbare theoretische Frage, die jedes einzelne literarische Werk selbst (dar)stellt und die direkt mit seiner literarischen Form zusammenhängt: Was bin ich? Die Literaturerfahrung selbst ist bereits unabweisbar theoretisch.

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Literaturtheorie und literarische Ästhetik

      Warum aber heißt das Unternehmen, das hier vorgestellt wird, denn nun „literarische Ästhetik“ und nicht „Literaturtheorie“, da eben gerade soviel von „Theorie“ die Rede war? Mit der Antwort auf diese Frage kommt man zum Problem des „Anfangens“ zurück, dass gleich zu Beginn dieses Kapitels besprochen wurde. Beide Begriffe – „Ästhetik“ und „Literaturtheorie“ – entspringen jeweils einer bestimmten Epoche und tragen auch deshalb eine bestimmte, etwas anders gelagerte historische Bedeutung an sich. Zum Begriff der „Ästhetik“ wird Kapitel 2 informieren. Es ist aber bereits anzumerken, dass „Ästhetik“ hier im Sinn von „Kunstphilosophie“ – also hier „Philosophie der Literatur“ –, nicht aber als Begriff für die Reflexion über das Sinnliche oder die Wahrnehmung gebraucht wird. (Alle drei Bedeutungen verschränken sich im Begriffsgebrauch des späten 18. Jh.)

      Der Begriff der „Literaturtheorie“ bezieht sich historisch auf Theorien, die sich seit den 50er Jahren des 20. Jh. entwickelt haben (Hermeneutik, Psychoanalyse, Strukturalismus, Kritische Theorie, Diskursanalyse, Dekonstruktion, gender studies etc.) und denen mindestens drei Punkte gemeinsam sind: A) Bis auf die sogenannte „Werkimmanente Methode“ (Emil Staiger, Wolfgang Kayser) sind diese Theorien dadurch gekennzeichnet, dass sie dezidiert für andere bzw. weitergefasste kulturwissenschaftliche Gebiete als nur die Literatur entwickelt wurden (Soziologie, Semiotik, Hermeneutik, Ethnologie, Phänomenologie etc.), dann aber für die theoretische Erschließung literarischer Phänomene fruchtbar gemacht worden sind. Daran lässt sich sehen, in welcher Weise die Literaturwissenschaft des 20. Jh. immer schon auf kulturwissenschaftliche Weise mit anderen Disziplinen vernetzt gewesen ist und wie sie aus kulturtheoretischen Ansätzen literaturtheoretisches Potential zu schöpfen vermochte. Beispielsweise hat die Dekonstruktion die Literaturwissenschaft auf ganze neue Weise „das Lesen gelehrt“: indem sie auf die „Ränder“ der Texte, d. h. das in ihnen Verdrängte und scheinbar Unwesentliche aufmerksam gemacht hat. B) Diese Theorien stehen zueinander in einem Verhältnis „zugelassener Pluralität“. Keine kann wirklich und letztgültig beanspruchen, die alleinige Erklärung zu besitzen, was Literatur ist. Vielmehr muss

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      von einem Ergänzungsverhältnis gesprochen werden. Dort, wo die eine Theorie bspw. stärker die negativistischen, auf Bedeutungszersetzung gerichteten Energien literarischer Texte betont (Dekonstruktion), kann die andere die sinnstabilisierenden, zweifellos ebenso realen Potentiale von Literatur dagegen halten (Hermeneutik). Die Widersprüche, aus denen bestimmte Theorieprofile hervorgehen (Strukturalismus – Poststrukturalismus, Hermeneutik – Dekonstruktion), sind so in der historischen Gesamtschau vielmehr als Ergänzungen zu verstehen, die der Komplexität des in sich widerspruchsvollen Phänomens „Literatur“ gerecht zu werden suchen. Die Theorie der Theoriebildung spricht hier von „irreduzibler Paradigmenpluralität“: „Unterschiedliche Paradigmen vertreten abweichende Grundvorstellungen von dem Rationalitätstyp, für den sie stehen. Mangels eines Metakriteriums läßt sich zwischen diesen Optionen aber keine verbindliche Entscheidung mehr treffen, so daß die Pluralität der Paradigmen und Optionen unbeendbar ist.“ (Welsch 1996, S. 606). C) Diesen Literaturtheorien ist es gemein, dass sie sich der Literatur zwar nicht ausschließlich, aber doch in beträchtlichem Maße unter einer methodologischen Fragestellung nähern. Sie zielen letztlich darauf, Anleitungen zu geben, mit welchen Instrumenten und auf welche Weise man sich der Literatur am angemessensten nähern soll. Diese „technische“ Ausrichtung bedingt viele Blickschärfungen auf das Phänomen, aber ebenso zahlreiche Ausschlüsse. Literaturtheoretische Fragen, die nicht unmittelbar methodologisch nutzbar zu machen sind, können dort nur unzureichend aufgenommen und diskutiert werden. Literaturtheorien sind also selektive, durch theoretische Kontexte und Interessen gefilterte und methodisch ausgerichtete Antworten auf die Liste von Fragen, die mit dem Literaturbegriff zusammenhängen.

      Demgegenüber soll der Terminus „literarische Ästhetik“ in diesem Band eine historische wie systematische Vorzeitigkeit gegenüber den „Literaturtheorien“ deutlich machen. Zum einen wird mit diesem Begriff nämlich auf die historische „Vorgeschichte“ der neueren Literaturtheorien im 18./ 19. Jh. rekurriert und so deutlich gemacht, dass diese trotz aller Neueinsätze und Differenzen nur aus den Fragestellungen und Begriffsgeschichten dieses Kontinuums zu begreifen sind. Zum anderen will die „literarische Ästhetik“ ein Unternehmen sein, dass systematisch

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      die Grundlagen für methodische Literaturtheorien bereitstellt: indem sie kategoriale Fragen des Literaturbegriffs aufstellt und in ihren Antwortmöglichkeiten diskutiert. Diese Fragen liegen den methodischen, aus bestimmten Theoriegebäuden abgeleiteten Überlegungen der verschiedenen Literaturtheorien zugrunde. Sie bilden den Gesamthorizont, vor dessen Hintergrund die Literaturtheorien ihre Begriffe von Literatur bilden können, den sie aber deshalb immer nur partiell realisieren. Zudem ist mit der Bezeichnung „literarische Ästhetik“ auch der Gegenstandsbereich dessen, worauf sich die vorgestellten theoretischen Perspektiven beziehen, in seinem Bestand mit eingegrenzt: Objekt und Grundlage sind die Werke der „modernen“ Literatur, wenn man mit „Moderne“ die Großepoche seit der europäischen „Aufklärung“ des 18. Jh. meint. Das bedeutet keinesfalls, dass die im Folgenden erörterten Begriffs- und Problemdimensionen einzig und ausschließlich für literarische Werke seit dem 18. Jh. gelten können; aber man muss beachten, dass zahlreiche Zuspitzungen durchaus damit zu tun haben, dass sich in der Disziplin der „Ästhetik“ als Philosophie der Kunst die kulturelle Moderne Europas wesentlich mit begründet und deshalb das Interesse darauf gerichtet ist, der Modernität des Literarischen theoretisch zu genügen.

      „Kategorie“ ist seit Aristoteles als Aussageschema definiert (Aristoteles 1998, 2a): Das sind Grundbegriffe, die in unserem Sprechen immer schon verwendet werden, damit wir überhaupt „Etwas“ sagen können, die aber selbst nicht mehr auf grundlegendere Begriffe zurückgeführt werden können. Man könnte sie somit als die Grammatik des Seienden bezeichnen. So ist laut Aristoteles bspw. ohne die Kategorie „Substanz“ kein sinnvolles Sprechen möglich. Wenn wir über Wirklichkeit reden, müssen wir diese in der Form fester, sich von Augenblick zu Augenblick nicht völlig verändernder Gegenstände – eben „Substanzen“ – ansprechen. Sonst könnten wir nicht sagen, über was wir da eigentlich reden und wem wir irgendwelche Eigenschaften zusprechen. Dieses innere Netz an Bestimmungen, das dem Gegenstand erst seinen Halt in der Wirklichkeit gibt, ist der „Anfang vor dem Anfang“: das, was nicht weggedacht werden kann, ohne den Gegenstand aufzuheben. Die „literarische Ästhetik“ will diese Grundbegriffe von Literatur in Form von Fragehorizonten auf übersichtliche Weise herausarbeiten.

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      Der Umgang mit derartigen kategorialen Fragen ist im Rahmen des Studiums der Literaturwissenschaft eine Bedingung der „Mündigkeit“ gegenüber dem Gegenstand (Literatur) wie auch gegenüber der Forschung. Das Wissen darüber, was Literatur ist und kann, sowie die Fähigkeit, Theoriezusammenhänge eigenständig zu durchdenken und möglicherweise zu verändern oder gar zu revidieren, sind dabei zwei Seiten wissenschaftlicher Freiheit. Nur mit einem solchen kategorialen Wissen und der Fähigkeit seiner reflektierten Anwendung erarbeitet man sich die nötige Distanz gegenüber dem Gegenstand, die unabdingbare Voraussetzung gerade der größten Nähe des Verstehens zu ihm ist. Im Sinne einer solchen Denkanleitung will das vorliegende Buch für den, welcher sich derartigen Fragen bisher nicht oder nur zögerlich genähert hat, einen Anfang möglich machen. Dabei ist es mit einer Landkarte vergleichbar: Es verzeichnet den Grundriss des Geländes, die begehbaren und unbegehbaren Wege, die Hauptverkehrsstraßen und Abzweigungen. Es ist nur so detailliert wie notwendig, um ein in sich