Название | Hema - Das Herz einer indischen Löwin |
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Автор произведения | Hemalata Naveena Gubler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076667 |
Das war einer der Gründe, weshalb ich immer auf alles sparen konnte, ohne dabei Kredite auf mich zu nehmen und in Schulden zu geraten. Ich hatte auch noch nie eine Mahnung, geschweige denn eine Betreibung, und meine allererste Geldbuße aufgrund von Geschwindigkeitsübertretung hatte ich diesen Mai. Ein paar Wochen später wusste ich es dann doch etwas besser. Es war die Mrs. Perfektionismus in mir, welche mich zu diesem korrekten Verhalten gezwungen hatte und welche mir auch noch einen gewaltigen Stein in den Weg legen sollte.
Ich antwortete der Krankenschwester, dass ich heute zwar noch nichts gegessen habe, aber eigentlich sehr gerne esse, ich habe jedoch eine sehr gute Verbrennung. Eine Gewichtszunahme, welche mir bewusst war und die man mir auch ansah, verzeichnete ich nur, als ich mehrere Monate in Australien war und mich mehrheitlich von Bier und Fastfood ernährte, und selbstverständlich in den beiden Schwangerschaften. Dennoch, das musste ich wohl zugeben, hatte ich nach dieser zweiten Schwangerschaft etwas Mühe mit meinem Körper.
Ich wusste durchaus, dass eine Schwangerschaft dem Körper vieles zumutet, schließlich erschafft er dabei auch ein wundervolles Wesen. Und nach einer zweiten Schwangerschaft war es auch klar, dass der Körper etwas mehr Zeit brauchte, um sich wieder zu erholen. Diese Zeit wollte ich mir und meinem Körper aus irgendwelchen Gründen aber nicht geben. Ich wollte so schnell wie möglich wieder so schlank sein wie vorher. Aus diesem Grund hatte ich im Frühling, kurz nach der Geburt von Leon, bereits wieder mit intensivem Sporttraining zu Hause begonnen. In den letzten Wochen war ich jedoch sehr müde und hatte es deshalb wieder vernachlässigt. Ich fühlte mich nicht dick, so meine ich das nicht. Und das war ich ja auch nicht. Ich fühlte mich in meinem Körper einfach nicht mehr wohl und fand mich selber somit auch nicht mehr schön.
Die Krankenschwester informierte mich, dass der Oberarzt jetzt vorbeikäme und sie sich verabschieden würde. Und, dass sie mir vergewissern könne, dass ich auf keinen Fall dick sei. Müde lächelte ich sie an. Sie wollte höflich sein. Und ja, ich wusste ja, dass ich nicht dick war und ich seit der Geburt bereits sehr viel abgenommen hatte, sogar überdurchschnittlich viel in einer solch kurzen Zeit, was wiederum eher ungesund war. Von Zufriedenheit war ich jedoch noch weit entfernt. Sie zog den Vorgang hinter sich wieder zu und ich war wieder alleine. Ich starrte auf die gegenüberliegende kalte weiße Wand.
Ich fühlte mich erschöpft, müde vom ganzen Tag, obwohl ich noch nicht annähernd das getan oder erreicht hatte, was ich mir mit meiner heutigen To-do-Liste vorgenommen hatte. Ich bemerkte auch, dass diese Nervosität nicht mehr vorhanden war. Und auch das Gefühl der Enge beim Schlucken war weg. Nur noch die muskuläre Verspannung im Brustbereich, wie die leitende Sanitäterin das so schön bezeichnen wollte, war noch da. Die schmerzte sogar noch sehr. Die Magenschmerzen waren auch besser, das Schmerzmittel schien endlich seine Wirkung zu zeigen. Ich war ruhig. Ich fixierte einen etwas dunkleren Flecken an der Wand, vielleicht war es auch nur ein Schatten. Wovon, habe ich aber nicht nachvollziehen können.
Und in dieser Ruhe und Stille offenbarte sich mir ein mir unbekanntes und neues Gefühl. Die vielen Gedanken, welche sonst in meinem Kopf herumrasten, waren ausnahmsweise nicht da. Ich wusste gar nicht, worüber ich mir in diesem Moment gerade Gedanken oder Sorgen hätte machen sollen. Tatsächlich war ich damit gerade ein bisschen überfordert. Üblicherweise hatte ich immer etwas zu studieren, planen, überlegen oder abwägen. „Es ist okay“, sagte ich leise vor mich hin und im nächsten Augenblick fragte ich mich dennoch, was ich damit genau meinte. Was war okay? Und ich fühlte, dass es der Gedanke war, zu akzeptieren, dass dies nun mein Ende war. Meine Zeit war abgelaufen. Lilly und Leon würden ohne mich groß werden, ohne mich ihre ersten Erfahrungen mit dem Leben machen, ohne mich das erste Mal am Meer sein und ohne mich Fußball spielen. Ich war traurig und Tränen überkamen mich unaufhaltsam. Aber es war okay. Es musste wohl so sein, weil ich die Kraft nicht mehr hatte. Die Kraft, um ein Leben zu führen und dabei nicht zu wissen, ob ich glücklich war und was mir fehlte oder was ich brauchte. Ich hatte die notwendige Kraft einfach nicht mehr. Und somit war es in Ordnung. Heute, an diesem 4. Juli, war es also soweit. Und ich wusste, dass alles gut werden würde. Es waren sehr traurige und schlimme Gedanken und noch heftiger war das fremde Gefühl, dass ich etwas hinnahm, ohne mich zu fragen, was ich tun musste, damit es anders würde. Diese Ruhe hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gespürt. Ein Moment, in dem ich nichts tun musste, niemand hatte etwas von mir erwartet, ich wurde nichts gefragt und um nichts gebeten, ich hatte nichts zu tun und da war kein Gedanke, welcher mich hätte unter Druck setzen können. War es das Gefühl, das Menschen kurz vor dem Sterben begleitet? Wenn man sein Ende ohne Wenn und Aber hinnimmt und akzeptiert?
In diesem Moment kam ein Mann in langem, weißem Kittel und setzte sich auf den Stuhl an meinem Bettrand. Er war sehr jung und ich überlegte mir, in welchem Alter er bereits sein Medizinstudium abgeschlossen haben musste, um jetzt schon den Titel des Oberarztes zu erlangen. Er kontrollierte nochmals mein Herz, es war nach wie vor alles in Ordnung. Er reichte mir eine kleine weiße Schmelztablette. Sie würde mir helfen, etwas zur Ruhe zu kommen, und wenn ich mich müde fühlen würde, dürfte ich mich dann zu Hause etwas hinlegen. Er legte mir noch ein durchsichtiges Tütchen auf den Tisch und fügte hinzu, dass dies Temesta sei und er dieses in einer solchen Situation immer mitgebe. Ich konnte erkennen, dass darin nochmals zwei weitere Tabletten enthalten waren. Ich würde heute also doch nicht sterben und durfte wieder nach Hause. Das war’s. Er ging und ich durfte noch einen Moment bleiben. Ich betrachtete die kleine weiße Tablette in meiner Hand. Ich war ein absoluter Gegner von Medikamenten. Ich nahm nur während der Schwangerschaft die notwendigen Medikamente wie Folsäure, Eisen und Vitamine für meine Kinder in meinem Bauch. Auch wenn ich Bauch- oder Kopfschmerzen hatte, griff ich nur im Alleräußersten zum Schmerzmittel. Außerdem nahm oder tat ich selten etwas, vorauf ich nicht vorbereitet war. Ich wollte stets wissen, weshalb etwas so war oder helfen sollte, was mögliche Konsequenzen oder in diesem Falle eventuelle Nebenwirkungen sein konnten.
Ich war auch absolut kritisch gegenüber Drogen. Nicht, dass ich nicht die eine oder andere Erfahrung damit gemacht hätte. So war es nicht mal in meinem kleinen, perfekten Leben. Ich hatte eine ziemlich rebellische Jugend. Wieso das so war, wurde mir erst zu einem viel späteren Zeitpunkt bewusst. In diesem Moment wollte ich einfach nur diese Ruhe und Gelassenheit genießen, welche ich so intensiv verspürte. Ja, das war genau das, was auch Drogen oder bestimmte Medikamente mit einem machen konnten: Gefühle und Stimmungen verändern. Der Vorhang ging wieder auf. Eine neue Krankenschwester kam herein und entfernte mir wortlos die Infusion und klebte mir ein weißes Pflaster auf die Einstichstelle der Nadel. Dann ging sie wieder. Ich richtete mich auf und erhob mich. Das Tütchen mit den beiden weiteren Tabletten steckte ich mir ein. Ich konnte sie ja noch immer wegwerfen. Falls ich sie jedoch brauchte, würde ich froh sein, sie bei mir zu haben. Vorsichtig löste ich die kleine Schmelztablette in meiner Hand aus ihrer Verpackung und das Temesta zerging auf meiner Zunge.
Mein Mann holte mich ab. Zu Hause war alles wieder gut. Ich war ruhig, gelassen und konnte mir nicht mehr vorstellen, was an diesem Tag alles passiert war und weshalb ich alles so intensiv erlebt hatte.