Hema - Das Herz einer indischen Löwin. Hemalata Naveena Gubler

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Название Hema - Das Herz einer indischen Löwin
Автор произведения Hemalata Naveena Gubler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076667



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in aller Früh gestresst und schlecht gelaunt. Heute war die Vier-Monats-Kontrolle beim Kinderarzt angesagt. Ich hatte bewusst den ehestmöglichen Termin morgens um acht Uhr gewählt, da ich wusste, dass Leon und ich einerseits schon wach und andererseits keine anderen Kinder da sein würden. Die Zeit im Wartezimmer würde also nur kurz sein. Und wenn es etwas gab, was ich nicht ertragen konnte, war es, in einem Wartezimmer beim Arzt zu sitzen. Vor allem mit einem Baby. Leon strahlte mich an, als ich zu ihm ans Bettchen kam, und beim Anblick seines begehrten Schoppens gluckste er fröhlich. Er stürzte die warme Milch in einem Zug hinunter. Ich sah ihm dabei zu und überlegte mir unterdessen, was an diesem heutigen Tag alles erledigt werden musste. Eigentlich wusste ich das, denn ich hatte vor dem Zubettgehen nochmals alles aufgezählt und in meinem Handy kontrolliert, ob ich auch alles eingetragen hatte. Meine To-do-Liste lag im Wohnzimmer auf dem Esstisch und wartete darauf, dass ich endlich mit der ersten Aufgabe beginnen und diese auf der Liste als erledigt markieren oder durchstreichen würde.

      Heute war für Leon die erste Impfung an der Reihe. An dieser Stelle will ich nicht näher auf die Thematik, sein Kind impfen zu lassen, ja oder nein, eingehen. Jede Mutter, jeder Vater sollte das machen, was für das eigene Kind richtig erscheint. Die Untersuchung an sich würde nicht lange dauern. Die Autofahrt zum Kinderarzt war auch nur fünf Minuten lang, für die Wartezeit – obwohl ich mit keiner wirklichen Wartezeit rechnen durfte – plante ich zehn Minuten ein und für die Untersuchung nochmals fünfzehn Minuten. Also war es eigentlich eine schnelle Sache und dann würden wir bereits wieder zu Hause sein und mit meinem Mann und Lilly gemeinsam frühstücken. Bis wir zurück waren, waren sie bestimmt auch schon auf und würden hungrig sein. All diese Gedanken schnellten wie grelle Lichtblitze durch meinen Kopf und so bemerkte ich zuerst gar nicht, dass Leon den Schoppen bereits leer getrunken hatte. Ich hob ihn hoch, damit er sein Bäuerchen machen konnte, und lobte ihn dafür. Nachdem ich den Kleinen frisch gewickelt und angezogen hatte, setze ich ihn in seine Lieblingsschaukel und gab ihm eine Holzrassel in die Hand. Obwohl der Greifreflex bereits ab Geburt bei einem Baby vorhanden ist, konnte er die Rassel natürlich noch nicht so richtig halten. Dennoch war er fasziniert von den bunten Farben und dem Geräusch der Holzperlen, welche gegeneinander schlugen.

      Ich ließ mir einen Kaffee aus der Maschine und verschwand kurz im Badezimmer, um mich anzuziehen, und versuchte, meine langen Haare in irgendeine anständige Position zu bringen. Zurück im Wohnzimmer zog ich die Rollläden hoch und kochte Wasser ab, damit ich es dann für einen allfälligen Schoppen unterwegs mitnehmen konnte. Wenn man mit einem Baby auch nur eine halbe Stunde weg musste, hatte man den halben Haushalt dabei. Das fing an bei frischen Windeln und Feuchttüchern, ging weiter über Schnuller und Schoppenpulver, abgekochtes Wasser, Spucktücher, Impfbuch, Spielzeug, Ersatzkleider und noch vieles mehr. Ich hatte den Wickelrucksack bereits gestern Abend mehrmals kontrolliert und wollte trotzdem nochmals sicher gehen, dass ich auch wirklich nichts vergessen hatte, was ich vielleicht hätte brauchen können.

      Ich fühlte mich mies. Ich wollte nicht los, obwohl es ja wirklich keine große Sache war. Aber als Mama war man wahrscheinlich trotzdem nervös, da man sich unentwegt um die Gesundheit der Kinder sorgte. Wuchs der Kleine gut, wie viel würde er wiegen, hatte er endlich zugenommen – denn anfangs konnte Leon kaum zunehmen, was auch der Grund war, dass ich ihm zusätzlich nach dem Stillen noch den Schoppen geben musste –, wie war der Stand der Entwicklung? Mama zu sein, hieß, die Stärke zu finden, von der man nicht wusste, dass man sie hatte, und die Ängste zu bewältigen, von denen man nicht ahnte, dass es sie gab. Jedes Kind hatte seinen eigenen Rhythmus und dennoch hatte ich eine App, in welcher immer der nächste Entwicklungsschritt erklärt und veranschaulicht wurde. Diesen Prozess zu verfolgen, war natürlich sehr interessant und für mich irgendwie auch beruhigend, weil ich so dachte, dass ich es im Griff hätte. Was genau ich dabei im Griff hatte oder worüber damit auch die Kontrolle, war mir zwar nicht klar. Ich nahm mal an, das Mama sein selbst. Kinder entwickelten sich so, wie es sein musste, und jedes in seinem Tempo. Wie ungesund es war, stets eine solche Kontrolle haben zu wollen und zu brauchen und dabei auch noch zufrieden damit zu sein, wenn alles nach Norm und Plan lief, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, und es sollte mir noch zum Verhängnis werden.

      In den ersten vier Monaten geschah bei diesem winzigen Würmchen bereits schon so unglaublich viel. So ein Menschchen war wahrhaftig ein Wunder. Natürlich, manchmal raubten sie einem wirklich den letzten Nerv, aber um nochmals darauf zurückzukommen, es ging darum, dass ich mich als Mama immer um meine Kinder sorgte. Ob sie gesund und glücklich waren, ob ich ihnen das Richtige beibringen konnte, ob ich sie genügend fördern würde und ob sie dennoch genügend Kind sein durften. Ob ich genug Zeit zum Kuscheln mit dem Kleinen und zum Spielen mit der Großen hätte. Obwohl, ich wollte auch mit ihr kuscheln. Also, mit beiden Kuscheln. Und Spielen. Mich plagten unendlich lange Sorgenketten und die gewaltigen Problemberge, welche sich direkt vor mir auftürmten, schüchterten mich immer wieder ein, und immer öfter erschien es mir hoffnungslos, diese zu bezwingen. Nebenbei gab es aber auch noch die Dinge, die ich sowieso zu erledigen hatte, wie etwa den Haushalt, sich bei meinen Freunden zu melden, die Freunde einzuladen und bei diesen Einladungen für die Gäste auch etwas zu kochen oder zu backen. Ich machte das gerne, vor allem Apéros mit selbst zubereitetem Fingerfood. Doch neben zwei kleinen Kindern, welche einem ununterbrochen brauchten, war es tatsächlich manchmal eine Meisterleistung, gleichzeitig noch Gemüse zu rösten oder schöne Drinks vorzubereiten, und somit auch stressig. Den heutigen Arzttermin mit Leon wollte ich einfach schnell hinter mich bringen und vom Kinderarzt zu hören bekommen, dass es meinem kleinen Sohn gut ging.

      Leon war in seinem Maxi-Cosi und wir fuhren los. Der Kinderarzt war nur wenige Autofahrtminuten weg. Natürlich war ich wie immer einige Minuten zu früh und die Türe war noch verschlossen. Also musste ich mit Leon im Treppenhaus warten. Nachdem ich dann den Impfausweis abgab, durften wir direkt in das Behandlungszimmer gehen. Ich zog Leon bereits bis auf die Windeln aus, damit der Kinderarzt ihn dann direkt untersuchen konnte. Leon jammerte ungeduldig, schließlich war es ja auch etwas frisch, aus dem warmen Auto und dem kuscheligen Maxi-Cosi herauszukommen und nun halbnackt auf diesem Wickeltisch zu liegen. Ich versuchte, ihn mit dem Mobile abzulenken, und zupfte an den mit Nylon befestigten Schmetterlingen. Während ich in Leons wunderschöne hellgrüne Augen sah, merkte ich plötzlich, wie ich unruhig wurde. Mein Kleiner war weiterhin unzufrieden und ließ sich auch vom Mobile nicht ablenken.

      Auf einmal hatte ich Magenschmerzen, die innert wenigen Sekunden immer heftiger wurden. Ich verspürte Übelkeit und während ich Leon mit beiden Händen an seinen Armen hielt, schloss ich die Augen. Unangenehme, flackernde Bilder blitzten vor meinem inneren Auge auf und so öffnete ich sie wieder. Dann drehte sich alles. Der Anblick von Leon war verschwommen, ich hörte sein Weinen, welches mittlerweile zwar lauter war, für mich sich dennoch wie aus weiter Entfernung und gedämpft anhörte. Ich bemerkte, wie meine Beine an Kraft verloren, und lehnte mich deshalb nach vorne, mit dem Bauch direkt an den Wickeltisch, um nicht umzufallen. Ich kannte solche Momente, sie kamen dann, wenn ich kurz davor war, ohnmächtig zu werden. Grund dafür war meistens mein niedriger Blutdruck. Seit der Primarschule passierte mir das ab und zu, wenn ich zu wenig oder nichts gegessen hatte, was ja auch heute Morgen der Fall war, oder wie so oft, wenn ich zu wenig geschlafen hatte und übermüdet war. Bis dahin war das kein Problem, ich wusste, dass, wenn ich mich zwanzig Minuten hinlegte und die Beine hochlagerte, das Blut wieder zurück in den Kopf fließen konnte. Zucker in Form von Sirup, Traubenzucker oder Red Bull half meistens, damit sich der Kreislauf schnell wieder stabilisieren konnte. Danach war alles wieder gut. Heute war es aber anders. Heute hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst davor, schwach zu sein und ohnmächtig zu werden. Ich durfte nicht ohnmächtig werden. Was, wenn meine Beine nachgaben, wenn Leon dann alleine, ohne meine schützenden Arme um ihn, auf diesem Wickeltisch lag und er mich suchte, sich versuchte, zu drehen, und dann vom Wickeltisch hinunter auf den Boden fiele. Er wäre tot. Ich würde mein Baby verlieren, mein Mann seinen Sohn und Lilly ihren kleinen Bruder. Ich musste also stark bleiben. Doch es wurde immer schlimmer, ich kniff die Augen so fest zusammen, dass sie sogar schmerzten, und hielt mich krampfhaft am Gedanken fest, dass ich das hier überstehen musste. Ich musste schließlich für Leon stark sein, welcher jetzt geimpft würde, und dann musste ich mit ihm auch wieder sicher nach Hause kommen.

      Wie jedes Mal kurz vor einer Ohnmacht begann das hohe Pfeifen in meinem Ohr. Und wenn dieses Pfeifen da war, so wusste ich, dass es sich jeweils nur noch um Sekunden