Hema - Das Herz einer indischen Löwin. Hemalata Naveena Gubler

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Название Hema - Das Herz einer indischen Löwin
Автор произведения Hemalata Naveena Gubler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076667



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mehr, was ich in diesem Augenblick gedacht hatte. Und dann endlich, sieben Minuten später kam sie, sogar mit grellem und drehendem Blaulicht. Vier Rettungssanitäter kamen durch unsere Wohnung in den Garten zu mir hinaus. Alle mit Schutzmasken.

      Ja, in diesem verrückten Jahr hatten wir weltweit das Covid-19-Virus, welches die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzte. Manche glaubten, dass das Virus bewusst in einem chinesischen Labor gezüchtet wurde, andere hielten die Geschichte nur für eine Spekulation und ein Schauermärchen. Aufgrund der Panikmacherei gab es auch noch diejenigen, die sich abschrecken ließen und wirklich Angst davor hatten. Ich selber kannte jemanden, der dieses Virus hatte und dem es sehr schlecht ging, so dass er hospitalisiert werden musste. Ich musste zugeben, auch ich hatte Respekt davor, keine Angst, jedoch hatte auch ich mir Gedanken dazu gemacht und mich an die Vorschriften des Bundes gehalten. Die Schließung unserer Kinderkrippe, in welcher Lilly war und in die Leon eigentlich ab Juli auch hätte hingehen sollen, war eine der vielen Konsequenzen davon. Wir mussten in kürzester Zeit eine neue Krippe finden. Eine Krippe, welche in der Nähe war, unserer Erziehungsphilosophie entsprach, uns sympathisch war und natürlich auch noch bezahlbar war. Im Unternehmen meines Mannes gab es teilweise Kurzarbeit, zum Glück aber blieb seine Abteilung davon verschont. Auf meiner Arbeit wurde auch striktes Homeoffice verordnet und ich wusste noch nicht genau, wo ich im August nach Beendung meines Mutterschaftsurlaubs wieder zu arbeiten beginnen sollte, zu Hause im Homeoffice oder im Büro vor Ort. Ich freute mich wahnsinnig darauf, wieder zur Arbeit zu gehen. Seit acht Jahren war ich schon dort und ich konnte es ehrlich gesagt kaum erwarten, auch wieder Mitarbeiterin und Arbeitskollegin und nicht nur Ehefrau und Mutter zu sein.

      Corona, so heisst das Virus. Ich hoffe, dass heute, wenn ihr, liebe Leserinnen und liebe Leser, diese Zeilen vor euch habt, diese Pandemie endlich aus der Welt geschafft und überstanden ist. Leider, so wusste ich, hätte sich die Wirtschaft bis dahin aber noch nicht erholt. Das Coronavirus hatte vieles zerstört und während ich das niederschrieb, war dieses nach wie vor Bestand unserer Leben und bereitete sich aktuell sogar gleich auf eine weitere Welle vor. Die Fallzahlen stiegen wieder. Arbeitsstellen wurden gestrichen, Personen starben, das soziale Umfeld und Freizeitaktivitäten wurden radikal heruntergefahren, da man aufgrund von Mindestabstand und Hygienevorschriften Einschränkungen vornehmen musste. In den letzten Monaten fühlte ich mich wie in einem Kriegsgebiet. Und das im Jahre 2020 in der Schweiz, einem der sichersten und finanziell besten Orte auf der Welt. Wo waren wir bloß gelandet? Was passierte mit dieser Welt und ihrer Menschheit?

      Obwohl ich immer noch auf den Gartensitzplatten lag, die Wolldecke über mir, und nun diese vier Sanitäter um mich herum standen, kamen mir all diese Gedanken. Und zwar in einer solch rasanten Geschwindigkeit, als würde man einen Film im Fernsehen vorspulen. Dieses Tempo an Gedanken war sehr unangenehm, denn ich konnte mich an keinem einzelnen Gedanken wirklich festhalten und ich hatte keine Taste, um Pause zu drücken, wie auf der Fernbedienung.

      Ich starrte in die Gesichter um mich herum oder wohl eher auf ihre Masken. Die Sanitäterin zu meiner rechten Seite legte ihre Hand auf meinen zitternden Handrücken und stellte mir einige Fragen. Ich hörte sie sprechen, sah in ihre Augen und spürte ihren warmen Händedruck auf meiner Hand, doch ich verstand keines der Worte, die sie von sich gab. Mein Mann kam dazu und konnte einige Antworten für mich übernehmen. Ein weiterer Sanitäter tauschte unsere Wolldecke mit einer Wärmedecke aus seinem Rettungskoffer. Er legte mir eine Infusion an und einen Augenblick später hatte ich auch einen Sauerstoffschlauch unter meiner Nase. Es roch sehr chemisch und unangenehm. Mir wurde darauf sofort wieder übel und endlich fand ich auch meine Stimme wieder und konnte mich nun mitteilen. Ich erzählte vom heutigen Besuch beim Kinderarzt, von den Kreislaufproblemen und vor allem von der Angst, dass ich zu wenig Sauerstoff bekommen könnte und von den Herzschmerzen. Mit einem weiteren Gerät aus einem der roten Koffer kontrollierte die Frau, die meine Hand hielt – sie schien die leitende Sanitäterin in diesem Team zu sein – wie viel Sauerstoff meine Lunge tatsächlich bekam. „Mehr wie hundert Prozent Sauerstoffzufuhr geht nicht. Sie haben definitiv genügend Luft“, meinte sie mit beruhigender Stimme und drückte meine Hand sanft. Wie war das möglich? Seit über zwei Stunden hatte ich Angst, dass ich ersticken könnte. Meinten die etwa, ich erzählte ihnen ein Märchen? Vielleicht hatte ich ja Corona, vielleicht hatte es mich nun auch erwischt, schoss es mir durch den Kopf. Doch sie schüttelte den Kopf und sagte, ich hätte keine Symptome dergleichen und die Schmerzen in meiner Brust, welche ich als Herzschmerzen wahrnahm, waren sehr wahrscheinlich durch die Verspannung einer Hyperventilation in meiner Panik entstanden. Ob ich an Panikattacken leiden würde, war die nächste, sehr unangenehme Frage an mich. Ich schüttele den Kopf. „Natürlich nicht!“, antwortete ich energisch. Jetzt kam doch tatsächlich schon wieder jemand mit dieser Panik. War heute der Welt-Panik-Tag oder was sollte das? Was für eine Frage! Ich war wirklich verärgert. Mein Herz wurde zum Glück dennoch überprüft. Ich erzählte, dass ich bereits im Frühling teilweise, wenn auch unregelmäßig, undefinierbare Stiche in der Herzregion hatte, mich aber nicht traute, meinem Mann oder sonst wem davon zu erzählen. „Sie haben zwei kleine Kinder und vor wenigen Monaten gerade erst entbunden. Das ist natürlich sehr anstrengend“, meinte eine weitere Sanitäterin, die bis dahin nur zugeschaut hatte. Was wusste die denn schon von meinem Leben und überhaupt vom Leben einer Mutter mit zwei kleinen Kindern, dachte ich und ignorierte ihre Aussage etwas genervt. Ich wusste aber im Grunde, dass es mehr eine Feststellung war, und ja, natürlich hatte sie recht, aber ich wollte nicht zugeben, dass es anstrengend ist, schließlich liebe ich meine Kinder und würde alles dafür tun, dass es ihnen gut geht und sie glücklich sind. Ich bin ihre Mama, die schon alles geschafft hat. Ich war eine Powerfrau, was also wollte mir diese Fremde da schon von meinem Leben erzählen? Ich konnte nicht beantworten, ob es in meiner Familie Herzprobleme gab. Ich war adoptiert und so wusste ich nichts über eine womögliche Vererbung oder dergleichen. Die Antwort „Ich weiß es nicht, ich bin adoptiert.“ musste ich schon so viele Male geben. Dabei hatte ich nie etwas Schlimmes empfunden, es war einfach auch nur eine Tatsache. Ich bin adoptiert und ich wusste die Antwort darauf nicht. Auch dieses Mal sagte ich diesen Satz, jedoch wurde ich das erste Mal dabei auch traurig. Oder wütend? Ich wusste nicht, was es war und was sich da in diesem Moment in mir ausbreitete. Ich war froh, dass ich gemäß diesem Gerät anscheinend genügend Sauerstoff bekam und ich keinen zusätzlichen brauchte, und dennoch blieb dieser grässlich stinkende Schlauch in meiner Nase. Und selbstverständlich war ich auch froh, dass es meinem Herz auch gut ging. Es schlug zwar etwas schnell, aber es war in Ordnung. Meine Beine kribbelten und es machte mich unruhig. Am liebsten wäre ich aufgestanden und herumgelaufen, so, wie wenn ein Fuß eingeschlafen wäre. Doch ich wusste, dass ich die Kraft zum Aufstehen gar nicht hatte. Mir wurde die Infusion angelegt, Flüssigkeit zum einen und Schmerzmittel zum anderen, da ich nach wie vor heftige Magenkrämpfe hatte. Auch wenn ich nun wusste, dass es meinem Herz gut ging, wollte ich wissen, warum ich so Schmerzen in meiner Brust hatte. Ich wiederholte mich also erneut und erklärte, dass ich glaubte, zu wenig Sauerstoff zu bekommen, und ich mir sicher war, demnächst in Ohnmacht zu fallen oder an einem Herzinfarkt zu sterben. Die leitende Sanitäterin kam ganz nah zu mir, viel zu nah meiner Meinung nach. Und dann kam heute zum dritten Mal das Wort und vor allem dieser schreckliche Satz: „Das war eine Panikattacke.“ Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz nun tatsächlich stehenblieb. Dieser Satz an diesem Samstagvormittag, draußen auf unserem Sitzplatz, umringt von Rettungssanitätern und meinem Mann, der daneben stand und mich ansah, dieser komplette Satz, mit konjugiertem Verb und Punkt am Ende, veränderte alles. Nicht nur diesen Tag, nein, er veränderte mein ganzes Leben. Dieses Leben, welches ich bis dahin gelebt hatte. Er veränderte mich und meine Umgebung und das Leben, welches mir noch bevorstand. Einfach alles.

      Ich sagte nichts. In meinem Kopf rotierte es. Was erlaubte sich diese Frau? Sie hatte keine Ahnung, wer ich war, wie mein Leben aussah, was ich tat. Und anscheinend hatte sie auch keinerlei Ahnung, was ich wirklich hatte oder was in mir gerade vorging. Ich war wütend, richtig wütend. Auf diese Frau, auf den ganzen Tag und vor allem auf mich selbst. Ich löste jedes Problem selber, egal wie groß es auch schien, ich fand für alles eine Lösung und tat selber immer alles, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Ich wollte die Ambulanz, damit sie mich retten konnte, weil ich dachte, ich würde hier sterben. Weil ich Angst hatte, dass meine Familie mich heute verlieren würde. Und das Schmerzmittel in dieser Infusion hatte auch noch nicht gewirkt. Es hat nichts gebracht, dass die da waren. Das Einzige, was ich davon hatte,