Название | Goldmond |
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Автор произведения | Tamara Glück |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990014714 |
»Wie. Oft. Muss. Ich. Dir. Noch. Sagen. Dass. Ich. Das. Nicht. Zum. Spaß. Mache. Ich. Muss. Diese. Familie. Ernähren.« Sie drehte sich zu mir um, um mit ihrer Strafpredigt fortzufahren. »Und. Ich. Erwarte. Von. Dir …« Sie stockte, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Was ist los?«
»Hat Dad dir von dieser Gruppe erzählt, die die Adeligen stürzen will?«, fragte ich tonlos und stellte den halbvollen Kübel ab.
»Ich habe euch gehört, letztens.« Meine Mutter starrte mich mit blitzenden Augen an. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Ich habe gerade welche von denen getroffen«, fuhr ich rasch fort, in der Hoffnung, sie abzulenken. »Und …« Mir blieben die Worte im Hals stecken. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, so als könnten sie fliegen …
Meine Mutter schlug die Hände zusammen. Zuerst dachte ich schon, sie würde mich schlagen. »Das ist doch gut. Wird Zeit, dass sich mal jemand für uns einsetzt. Die haben nämlich ganz recht, rotes Blut zählt.«
Ich hörte, wie sie weitersprach, doch die Worte erreichten mich nicht mehr. »Wie … Wie kannst du sie verteidigen?«, fragte ich schließlich entsetzt. »Sie wollen sie alle ermorden! Sie … Sie werden mit den Adeligen einen Krieg anzetteln! Einen Krieg, den wir verlieren werden! Überleg doch mal!«, schrie ich mit schriller Stimme. »Denen ist es egal, was mit uns passiert! Die würden sich über jede Ausrede freuen, um uns abzuschlachten!«
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. »Was wir hier haben, ist kein Leben, Elena. Wir werden kämpfen, und wenn wir verlieren, dann verlieren wir eben. Mach dir nichts vor, die Adeligen sind keine Götter, die Blitze auf die Sterblichen schleudern.« Sie schnaubte verächtlich.
»Und jetzt geh raus. Die Frau Schwarzmann von gegenüber hat uns wieder ihre Ration Holz geschenkt. Ich habe ihr schon einen Teller Reis rübergebracht.« Und damit schnappte sie sich meinen Wasserkübel und sagte in einem harten Ton: »Und wenn ich höre, dass du noch einmal private Gespräche zwischen deinem Vater und mir belauschst, dann knallt’s. Aber richtig.« Und damit stellte sie sich wieder an den Ofen.
Ich ging stumm hinaus. Ich wollte weit weg sein, wenn sie sah, dass ich die Hälfte des Wassers verschüttet hatte. Ich würde später nochmal gehen müssen.
Ich holte mir das Holz der gebrechlichen alten Nachbarin, das vor ihrer Tür lag. Sie war zu schwach, um mit ihrem noch etwas anzufangen und heizte nur mit dem elektrischen Ofen. Ich trug die ihr zugeteilten Scheite hinter unser Haus. Frau Schwarzmann tauschte ihr Holz schon seit Jahren gegen Reis oder Brot oder etwas anderes zu essen.
Ich genoss das Holzhacken. Es tat gut, meinen Ärger an den dicken Scheiten auszulassen. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass meine Mutter die Revolution verteidigt hatte. Ich konnte mich noch erinnern, dass mein Vater einmal gesagt hatte, kein Zweck würde die Mittel heiligen.
Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, das Ganze mit meinem Vater zu besprechen. Oder mit Grace oder mit irgendjemand anderem. Mehr als je zuvor sehnte ich mich nach einem Gesprächspartner. Ich wollte in den Arm genommen und gestreichelt werden. Ich wollte, dass man mir sagte, dass alles gut werden würde. Ich wollte ein echtes Kind sein, nicht eine Redblood.
Doch so eine Kindheit hatte ich nie gehabt. Keiner hier hatte je Zeit gehabt, um mich in die Arme zu nehmen. »Wir sind doch hier nicht bei den Adeligen«, würde man sagen und mir ungestüm die Tränen von den Wangen wischen. Und am besten noch fest in den Rücken stoßen: »Geh spielen.« Nicht wie bei den Adeligen, dachte ich bitter und spaltete noch ein Stück Holz.
LEANDER
Merlin, meine Eltern und ich saßen im Auto. Henry flog, damit Merlin sich noch etwas ausruhen konnte. Ich konnte Henrys Hand sehen, sie schwebte seit zehn Minuten unbeweglich über dem Notfall-Knopf. Es war nicht so, dass Merlin das nicht auch gekonnt hätte, aber wir konnten nicht sicher sein, ob der Virus gänzlich gelöscht war. Mein Vater hatte versprochen, mit ihm zu einem Spezialisten zu fahren.
Unter uns zog die verschneite Schweizer Landschaft vorbei. Wälder, Wiesen, Häuser, Dörfer, Baracken. Ich sah nichts davon, obwohl ich hinaussah. Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Ich dachte daran, was jetzt gleich passieren würde. Unsterblichkeit. Das hier waren meine letzten sterblichen Minuten. Es war still im Auto. Man hörte absolut nichts.
Nach einer halben Stunde griff meine Mutter, die vor mir saß, nach meiner Hand. Sie schloss ihre kleinen Finger um meine Faust.
»Es ist so weit«, flüsterte sie.
Ich sagte nichts. Das Auto landete lautlos auf einem Parkplatz vor einem langgestreckten, neumodischen Holzhaus. Im ersten Stock waren nur kleine Fenster, doch es gab eine Glasfront im zweiten Stock. Da wir von Wald umgeben waren, hatte man von dort aus bestimmt einen guten Ausblick. Doch hineinsehen konnte ich nicht, denn feinste Vorhänge verdeckten die Fenster. Das Gebäude hatte ein zum Teil begrüntes Flachdach. Die andere Hälfte war mit Solarzellen ausgestattet.
Meine Mutter nahm mich an der Hand. Sie sah unglaublich schön aus in ihrem hellblauen Kleid. Doch sie schien nicht zu frieren. Verlieh Unsterblichkeit auch Immunität gegen Kälte? Ich hatte merkwürdigerweise noch nie darüber nachgedacht. Mein Vater trug einen schlichten Anzug, der etwas wärmer war.
Vor der Tür blieben wir stehen. Meine Mutter sah mich an.
»Ich hab dich lieb«, flüsterte sie und schloss mich in ihre Arme.
Mein Vater räusperte sich und sie ließ los, nahm jedoch meine schweißnasse Hand in ihre.
»Mom, ich hab dich auch lieb!«, flüsterte ich zurück.
Mein Vater räusperte sich noch einmal und erst, als meine Mutter sich die Tränen von der Wange wischte, wurde mir klar, warum. Er mochte es nicht, wenn sie Gefühle zeigte.
Doch dann ließ meine Mutter meine Hand los, trat einen Schritt zurück und mein Vater nahm mich unvermittelt in seine kräftigen Arme.
»Ich hoffe, wir konnten dir viel beibringen, Leander. Ich bin stolz auf dich und jetzt geh. Geh!«, sagte er eindringlich. Seine Stimme klang laut nach der langen Stille.
Er ließ mich los und nervös trat ich einen Schritt auf das Gebäude zu. Ich sah zurück. Meine Eltern standen Händchen haltend nebeneinander und lächelten mich liebevoll an. Die Wangen meiner Mutter waren nass. Merlin stand etwas abseits. Er würde auf mich warten. Wie lange, wusste ich nicht. Wie lange dauerte es, unsterblich zu werden?
Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. Ich öffnete das schwere Holztor und atmete einmal tief durch, dann flüsterte ich: »Ich hab euch lieb«, ohne mich umzudrehen. Meine Eltern würden es trotzdem hören. Dann machte ich einen Schritt in den dunklen Flur.
In dem Moment, in dem das Holztor mit einem lauten Knall zufiel und der Raum in Finsternis zu versinken drohte, gingen Lichter an. Eine nach der anderen erleuchteten die grellen Neonröhren den Gang vor mir. Es war völlig still. Im Gang gab es mehrere Türen, von denen aber nur eine offen stand.
Meine Schritte hallten auf dem polierten Marmorboden. Als ich schließlich bei der Tür ankam und sie aufdrückte, war es wieder völlig still. Und doch war ich nicht allein.
In dem Zimmer saß, gekleidet in Schwesterntracht, eine hübsche junge Frau, wobei ihr junges Aussehen natürlich nichts über ihr wahres Alter verriet. Sie lächelte, als sie mich sah, sagte aber nichts, sondern gab mir Zeit, mich umzuschauen.
Das Zimmer sah aus wie eine Mischung aus Zahnarztpraxis und Kaffeehaus. In der rechten hinteren Ecke war ein Sofa in L-Form zu einem weißen, polierten Tisch geschoben worden. Die Ärztin saß auf einem Rollhocker, der vermutlich normalerweise dem Sofa gegenüberstand. In der linken hinteren Ecke wand sich eine Wendeltreppe ins Obergeschoss. Auch sie war in Weiß gehalten. An der linken Wand stand ein langer, etwa ein Meter hoher Kasten. An der hinteren Wand war ein kleines, abgedunkeltes Fenster zu sehen.
Den Raum dominierte ein verstellbarer Stuhl, der mich so sehr an eine Zahnarztpraxis erinnert hatte. Es gab jedoch keine Bohrer und auch keine OP-Lampe.