Goldmond. Tamara Glück

Читать онлайн.
Название Goldmond
Автор произведения Tamara Glück
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990014714



Скачать книгу

Bein gebrochen. Nichts Schlimmes, aber bis sie das Geld wieder reinholen …«, sagte meine Mutter niedergeschlagen. Wir hatten uns alle schon auf den Besuch meiner Schwester gefreut. Seit ihrer Heirat mit Luke hatte Grace mehr Geld. Nicht genug, um uns oft besuchen zu kommen, aber mehr als wir. Denn sie arbeiteten beide. Ich fragte mich, wie sie es machten, dass dann niemand ihr Haus ausräumte, aber ich hatte mich nie getraut, jemanden danach zu fragen. Obwohl ich langsam den Verdacht hatte, dass meine Mutter aus einem anderen Grund zuhause blieb. Vielleicht war sie einfach schon zu alt, um zu arbeiten – oder zu krank – aber daran wollte ich gar nicht erst denken.

      Jedenfalls würde sie ein Besuch natürlich viel Geld kosten, aber wir hatten uns alle schon nach etwas Abwechslung gesehnt. Grace war in die alte Hütte von Lukes Eltern eingezogen und die war mehrere Siedlungen entfernt, im Grauwald. Sie kamen nur einmal im Jahr vorbei.

      Ich hatte meinen Eltern immer noch weder von dem Einbruch noch von dem Diebstahl erzählt, und da seitdem auch nichts mehr passiert war, hatte ich beide Vorfälle schon fast vergessen.

      Doch am Heimweg sagte mein Vater mir, ich solle vorsichtig sein und niemanden auf der Straße ansprechen. »Es sind komische Leute unterwegs«, sagte er und sah mich eindringlich an. Dann wurde seine Miene freundlicher und er sagte: »Komm, deine Mutter bringt uns um, wenn wir zu spät nach Hause kommen.«

      Meine Mutter hasste es, wenn wir zu spät nach Hause kamen. Als Grace Luke kennengelernt hatte, war sie stets zu spät nach Hause gekommen, um sich noch mit ihm zu treffen. Jeden Tag nach dem Wasserholen, nach dem Einkaufen, nach der Arbeit … Irgendwann hatte meine Mutter sie erwischt und Grace hatte ihr von Luke erzählt. Nur ein halbes Jahr später waren die beiden ausgezogen.

      Das hatte meine Mutter schlecht verkraftet und seitdem war Heirat in ihren Augen so ziemlich das schlimmste Verbrechen, das man begehen konnte, abgesehen von Beziehungen mit Adeligen, natürlich.

      Trotzdem, auch, wenn ich fand, dass Grace ein Recht dazu hatte, ihr Leben so zu verbringen, wie sie wollte, musste ich einsehen, dass meine Mutter es auch nicht leicht hatte. Ich war die Einzige im Dorf, die eine Schwester hatte. Ich hatte mich nie getraut, sie zu fragen, warum, aber es war sicher nicht einfach gewesen, uns beide großzuziehen. Mal ganz abgesehen davon, dass wir kaum genug Geld zum Essen hatten und meine Mutter, warum auch immer, nicht arbeitete. Mich ließ der Gedanke nicht los, dass es einen Grund geben musste, doch mir fiel nichts ein. Ich wollte nicht glauben, dass meine Mutter mir absichtlich etwas verheimlichte.

      Sie würde sich natürlich freuen, wenn auch ich jemanden kennenlernte, aber dann wären sie und mein Vater allein und ich wusste, dass das Geld dann nicht mal mehr fürs Essen reichen würde.

      ***

      Als ich abends im Bett lag, schon halb eingeschlafen, kreisten meine Gedanken immer noch um die seltsame Bitte meines Vaters. Er hatte das Thema so abrupt gewechselt, dass ich nicht einmal hatte nachfragen können … Plötzlich hörte ich meine Mutter in der Küche aufschreien.

      »Was?!«, fragte sie entsetzt. Zuerst war ich verwirrt und dachte, sie brauchte vielleicht Hilfe, dann ging mir auf, dass ich einfach nur einen Teil der Konversation verpasst hatte.

      »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich glaube nicht, dass er das ernst gemeint hat«, sagte mein Vater in einem Tonfall, der beruhigend wirken sollte. Ich hörte jedoch, wie angespannt er war. »Pablo hatte schon immer einen merkwürdigen Sinn für Humor. Außerdem hat er etwas von Revolutionen und so geplappert. ‚Rotes Blut zählt!‘ So ein Unsinn!«

      Meine Mutter schwieg kurz und sagte dann mit leiser Stimme: »Sie woll‘n eine Revolution anzetteln? Die Adeligen stürzen?« Es klang, als wäre sie der Idee nicht abgeneigt.

      Mein Vater schnaubte. »Ich weiß es nicht. Pablo hat einen Namen genannt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig gehört habe. Er hat behauptet, der Anführer dieser Organisation ist ein Adeliger namens ,Der Fuchs‘. Völliger Blödsinn, wenn du mich fragst. Wer immer es war, muss verrückt sein. Zu der Zeit, als Informationen noch mit den Redbloods geteilt wurden und zumindest ein paar von uns in den Städten gearbeitet haben, da sind bereits die wildesten Gerüchte umgegangen von den Superwaffen, die sie angeblich haben.«

      Mein Vater machte eine kurze Pause und murmelte dann: »Fliegende Autos, trainierte Vögel, Häuser, höher als die Wolken …«

      Ich versuchte, mir das vorzustellen, doch ich konnte es nicht. Ich spitzte die Ohren, um nichts zu verpassen, doch eine Minute lang war es still.

      »Einmal haben sie gesagt, sie wollen auf den Mond fliegen, kannst du dich noch erinnern? Mit fliegenden Autos auf den Mond fliegen …«

      »Unsinn,« sagte meine Mutter, ihr scharfer Ton wirkte merkwürdig laut in der Stille. »Aber Zeit wird’s, dass da mal was passiert. Bleibt nur zu hoffen, dass dieser Fuchs ein Schlauer ist.«

      Ich hörte, wie die Stühle knarzten, als meine Eltern sie über den Boden zogen. Beide murmelten gute Nacht und wenig später hörte ich ihre Schritte näherkommen. Ich tat so, als würde ich schlafen, doch in Wirklichkeit dachte ich an ihr Gespräch.

      Ich schlief spät ein und träumte, dass ich zu spät nach Hause kam. Meine Mutter schrie mich an und drohte, sie werde mich den Füchsen zum Fraß vorwerfen.

EINEN MONAT SPÄTER

      LEANDER

      Ich saß gerade am Frühstückstisch, mein Lesestein lag, gemeinsam mit meiner leider noch nötigen Stirnelektrodenspange, neben meinem Teller. Ein Omelett, ein Toast und eine Tasse Schwarztee mit Milch standen vor mir.

      Ich legte meine Hand auf den Lesestein, um ein Buch auszuwählen, und fing an zu lesen. Ich liebte es, wie die Welt vor meinen Augen verschwand und durch Buchseiten ersetzt wurde. Ich streckte meine Finger aus und plötzlich wurde meine Teetasse mitten in der Seite sichtbar, kaum, dass ich daran gedacht hatte, etwas zu trinken. Ich nahm einen Schluck und stellte die Tasse wieder ab. Als meine Finger den Henkel losgelassen hatten, überdeckten die Buchseiten wieder die Tasse. Mein Vater saß mir gegenüber und räusperte sich. Sein Gesicht ersetzte die Buchseiten und ich setzte widerwillig die Elektrodenspange ab. Er hatte soeben sein Besteck ordentlich auf den Teller gelegt. Nun musterte er mich mit seinen grauen Augen.

      »Leander, ich würde gerne nach dem Frühstück mit dir sprechen, wenn es nicht gerade sehr ungelegen kommt.«

      Ich sah sehnsüchtig auf meinen Lesestein. Ich las gerade alte Klassiker – aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Na ja, mein Vater nannte sie Klassiker, aber eigentlich waren es Fantasy-Bücher. Und ich war gerade mitten im dritten Harry-Potter-Band.

      »Klar, Dad. Das sollte kein Problem sein«, sagte ich und lächelte. Er nickte zufrieden, dann lehnte er sich zurück und wartete darauf, dass Henry seinen Teller abdeckte.

      Ich aß unter den strengen Augen meines Vaters auf und schickte Merlin, um die Küche aufzuräumen. Dann schnappte ich mir meinen Lesestein und folgte meinem Vater in sein Arbeitszimmer.

      Sein Büro war ganz anders eingerichtet als das meiner Mutter. Sie hatte es hauptsächlich in Gelb gehalten, damit es heller wirkte. Ihr Sofa war orange und ihr Schreibtisch rotbraun. Es sah sehr sonnig, warm und freundlich aus. Es spiegelte ihren Charakter wider. Das war auch bei dem Büro meines Vaters so, doch es war weiß und wirkte stets klinisch sauber. Der große Lehnstuhl war mit grauem Kunstfaserstoff bezogen und sein geräumiger Schreibtisch war ebenfalls weiß und makellos. Meine Mutter hatte eine kleine Taschentuchbox für mich, ein paar Stifte, die sorgfältig in einem Becher steckten, und eine rote Lampe. Bei meinem Vater war alles farblos und fast schon pedantisch geordnet.

      »Setz dich«, sagte mein Vater und ging hinüber zu seinem grauen Schreibtischstuhl. Ich setzte mich in seinen Lehnstuhl und wartete. Er würde schon mit dem herausrücken, was er von mir wollte. Was immer es war.

      »Leander, ich wollte noch mit dir über die Planung der nächsten paar Wochen reden. Nächste Woche ist der große Tag, wie du weißt, aber ich wollte dich fragen, wann du den Zug ins Felix Austria nimmst. Es fährt einer drei Tage danach, eine Woche danach oder zehn Tage danach.« Er pausierte kurz und legte dann die Spitzen seiner blassen, eleganten Hände aneinander,