Название | Goldmond |
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Автор произведения | Tamara Glück |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990014714 |
Ich begann mich zu fragen, ob meine Mutter recht hatte. Vielleicht war meine Angst ja umsonst und diese neue Gruppierung würde uns am Ende befreien. Vielleicht würde ich eines Tages zur Tür hinausgehen und alle würden auf der Straße tanzen und die Freiheit feiern. Ich versuchte die Bilder, die stattdessen in meinem Kopf herumgeisterten, zu vertreiben und mich auf diese Hoffnung zu konzentrieren, die meine Mutter offenbar hatte.
Als ich gedankenverloren durch unsere schäbige Haustür trat, war ich nicht darauf vorbereitet, ein freudiges »Hallo, Elena!« zu hören.
Eine Sekunde später fiel mir Grace um den Hals und ich hatte Schwierigkeiten, mein Gleichgewicht wiederzufinden. »Grace!«, krächzte ich. »Ich krieg keine Luft.«
»Oh!« Lachend ließ sie mich los. »Wie geht’s dir? Ich und Luke sind gerade erst angekommen.« Sie nahm mir den Reis ab und platzierte ihn auf dem Ofen, während ich Luke begrüßte.
»Mehr oder weniger gut. Danke der Nachfrage. Aber erzähl! Wieso seid ihr jetzt schon da? Ich dachte, ihr kommt nicht vor Freitag?«
»Das dachten wir auch«, meinte Luke.
»Bis wir erfahren haben, dass der Arzt endlich ein billigeres Röntgengerät besorgt hat. Es hat zwar schlechte Qualität …«
»Echt schlecht. Da sieht man gar nichts, wenn man keine drei Doktortitel hat«, warf Luke ein.
Grace warf ihm neckisch einen wütenden Blick zu und fuhr dann fort: »Also, schlechte Qualität. Jedenfalls hat er ein Röntgen gemacht und er hat gesagt, dass keine Gefahr besteht, wenn er sich nicht überanstrengt.«
»Das ist ja super, Schatz!«, meinte meine Mutter.
Sie klang so fröhlich wie seit Monaten nicht mehr und auch meine schlechte Laune war verflogen. Ich liebte Grace und Luke dafür, dass sie früher gekommen waren. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich hier noch durchgehalten hätte, ohne durchzudrehen.
»Gibt’s bei euch irgendetwas Neues?«, fragte Grace.
»Nicht wirklich. Ich habe immer noch keinen Freund, obwohl ich ja jetzt in dem Alter bin«, antwortete ich sarkastisch. Grace und Luke lachten. Die Augen meiner Mutter blitzten.
»Nein, eigentlich nicht. Ihr seid die größte Neuigkeit. Die Fließbänder in der Fabrik laufen noch in die gleiche Richtung. Der Brunnen hat noch Wasser. Der Reishändler Reis.« Mein Vater zuckte mit den Schultern.
Grace und Luke grinsten.
»Gibt es bei euch sonst noch was Neues?«, fragte meine Mutter wieder.
»Nichts Weltbewegendes«, antwortete Luke.
»Wir haben einen neuen Arbeitgeber.« Grace zuckte mit den Schultern. »Er hat unsere Fabrik übernommen, scheint aber nichts ändern zu wollen. Es läuft also alles gleich. Man darf nur nicht vergessen, ihn mit dem richtigen Nachnamen anzusprechen.«
Luke lachte. »Das ist mir wirklich letztens passiert. Das ‚Herr Zync‘ war schon fast draußen, als ich mich gefangen hab und doch noch umgeschwungen bin auf … Warte, wie heißt er jetzt nochmal?«
Wir lachten. Grace verdrehte die Augen. »Herr Walters.«
Luke nickte gewichtig. Grace verdrehte noch einmal die Augen. Dann nahm sie seine Hand.
»Sollen wir irgendwo helfen?«, fragte sie und lächelte. Sie war immer so verdammt hilfsbereit.
»Genau, ich kann Holz hacken oder so«, fügte Luke hinzu. Sie ergänzten sich natürlich wie immer perfekt.
»Das wäre toll. Und Grace, du kannst mir im Haushalt helfen. Dann kann El ja mal waschen.«
Brrr. Das Wasser würde eiskalt sein. Und wenn man nur ein T-Shirt und nur eine Hose hat, dann muss man sie logischerweise ausziehen, um sie zu waschen. Und nachher nass wieder anziehen. Ich seufzte. Außerdem durften wir nur eine bestimmte Menge an Wasser benutzen, daher wuschen wir alle Kleider in demselben Bottich.
»Ist okay.« Ich wollte mir Grace zum Vorbild nehmen. Vielleicht würde das ja etwas nützen. Mein Vater und meine Mutter gaben mir ihre Sachen und wickelten sich in Decken. Ich setzte mich mit einem Wasserkübel hinters Haus.
Ich hatte zwar wieder einmal viel Zeit zum Nachdenken, aber da ich nicht an irgendetwas Negatives denken wollte, war mir diese Pause weit weniger recht als das Holzhacken. Außerdem fror ich. War es kälter geworden? Vermutlich nicht, aber es kam mir so vor.
LEANDER
Ich erwachte mit dem Gefühl, dass irgendetwas ganz fürchterlich schief gegangen war. Ich fühlte mich so … anders. Sollte das so sein?
Dann erinnerte ich mich wieder. Unsterblichkeit. Ich versuchte, mich an die letzten paar Stunden zu erinnern, aber das Letzte, das ich noch wusste, war, wie Maria sich über mich gebeugt und gesagt hatte: »Mach einfach die Augen zu. Vertrau mir.« Ich hatte zwar die große Spritze in ihrer Hand kritisch beäugt, aber dann hatte ich an meinen disziplinierten Vater gedacht und die Zähne zusammengebissen. Meine Lider schlossen sich und dann … nichts. Ich wusste es nicht mehr. Hoffentlich war alles gut gegangen.
Ich atmete tief durch, wobei ich bemerkte, wie anders das klang. Ich konnte hören und spüren, wie die Luft meinen Hals hinauf und hinunter strömte. Dann öffnete ich meine Augen.
Ich lag in einem anderen Zimmer. Vermutlich hatte Maria mich die Wendeltreppe hinaufgetragen, denn links von mir erstreckte sich eine Glasfront. Ich lag in einem bequemen Bett und Maria saß am anderen Ende des Raumes. Wieder sagte sie nichts. Sie sah mir einfach nur zu. Ich blinzelte noch einmal. Alles war so … detailreich. Es war kein großer Unterschied, aber ich konnte sehen, wie sich die Lichtstrahlen an den Glasscheiben brachen. Wie sich Marias Brust beim Atmen hob und senkte. Ich konnte im Holzboden ganz neue Muster entdecken.
Die Lampe, die genauso aussah wie die im Zimmer darunter, schien einzelne Lichtstrahlen zu werfen und nicht nur einen Lichtkegel. Maria blinzelte. Ich konnte aus fünf Metern Entfernung hören, wie sie Luft holte.
»Guten Nachmittag«, sagte sie leise. Ich konnte sie ganz klar hören. Intuitiv merkte ich mir, an welchen Stellen ihre Stimme nach oben ging und an welchen nach unten. Maria lächelte und legte den Kopf schräg.
Ohne darüber nachzudenken, analysierte ich den Winkel zwischen ihrem Kopf, ihren Schultern und ihren Mundwinkeln.
Dann stand sie auf und zog die hauchdünnen Vorhänge auf. Meine Augen beobachteten jeden ihrer Schritte. Ich analysierte, wie sie ihre Füße abrollte. Wie sie ihr Gewicht verteilte. Doch dann sah ich hinaus und alles war vergessen.
Ich konnte jedes Blatt auf dem Baum vor dem Fenster sehen. Ich konnte auf die nächsten 500 Meter jede Baumart bestimmen. Ich konnte abschätzen, auf wie viel Meter Seehöhe die Hügel lagen. Ich konnte trotz der unterschiedlichen Entfernungen ganz klar sagen, welcher Baum der höchste im ganzen Wald war. Es war eine Kiefer, vielleicht siebzig Jahre alt. Ich wusste, welcher Berg der höchste war. Ich konnte sehen, wie die Sonnenstrahlen, die von der Hauswand reflektiert wurden, in den Wald zurückfielen. Es war nur eine Andeutung. Eine hellere Stelle, aber das genügte meinen scharfen Augen.
Ich sah zu Maria. Sie hatte sich wieder in den Couchsessel gesetzt. Ich hatte das nicht aktiv bemerkt, aber es überraschte mich auch nicht. Vermutlich hatte mein Unterbewusstsein registriert, dass sie sich hingesetzt hatte.
»Es ist viel zu verarbeiten. Ich weiß. Lass dir ruhig Zeit.«
Ich nickte und passte mich dabei automatisch ihrem für mich jetzt zu langsamen Tempo an. »Ist … Ist alles gut gegangen?«
Sie sah kurz zu Boden. Ich hörte, wie mir die Luft im Hals steckenblieb.
»Es gab eine kleine Komplikation. Aber es scheint alles zu stimmen. Deine Vitalwerte sind normal. Aber ich werde dich nachher noch einmal untersuchen müssen.« Sie