Goldmond. Tamara Glück

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Название Goldmond
Автор произведения Tamara Glück
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990014714



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gesagt.« Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern machte mich gereizt auf den Weg.

      Ich duckte mich instinktiv, um den Blicken der anderen Menschen auszuweichen. Ich sah einen Mann mit fettigen Haaren und einem fanatischen Glitzern in den Augen, der mit sich selbst redete. Erst, als er seine Finger nach dem langen Zopf eines Nachbarsmädchens ausstreckte, wurde mir klar, was er vorhatte.

      Ich atmete tief ein und rang mit mir selbst. Ich wusste den Namen des Mädchens nicht mehr, aber ich hatte sie hier schon öfter gesehen. Ich konnte doch nicht einfach so zuschauen …

      Der Mann packte den Zopf und zog kurz an. Mit der anderen Hand riss er ihr ein Päckchen Mehl aus den Armen. Ich sah mich um, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der ihr helfen konnte. Ich spürte, wie sich Erleichterung in mir ausbreitete, als ich einen unserer Nachbarn vor einer Hütte entdeckte. Er war in ein Gespräch vertieft, eine Axt gedankenverloren in der Hand.

      »Carter!«, rief ich und winkte ihm zu, damit er mich sah. Er drehte sich um, erblickte mich, als ich meine Hand ausstreckte, um sie auf das zitternde Nachbarsmädchen zu richten. Carters Augen verengten sich und er fing an zu laufen. Ganz kurz dachte ich, er hätte mich falsch verstanden, doch dann sah ich den Dieb mit den fettigen Haaren die Gasse hinuntereilen, seine Schultern gebeugt und seine Arme fest um das Mehl geschlossen. Carter war ihm bereits dicht auf den Fersen. Ich beschleunigte meine Schritte und schloss beide Hände fest um mein Geld.

      Beim Händler stand bereits eine Menschentraube, doch das war nichts Ungewöhnliches. Ich schob mich vorsichtig durch die Menge, während ich die Gesichter der Leute genau im Blick behielt. Jeder wusste, dass man hier auf seine Sachen gut aufpassen musste, aber es war etwas anderes, die Tat des Stehlens mitanzusehen. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

      Eine laute Stimme riss mich aus meinen Gedanken: »He, da! Du! Was willst du?« Ich schaute zu dem Händler hinauf. »Drei Packungen Reis!«, schrie ich zurück. Es waren so viele Menschen hier, die sich laut unterhielten, schrien, oder versuchten, etwas zu essen zu kaufen, dass man meine Stimme kaum hörte. »Da!«, sagte er barsch. Ich drückte ihm das Geld in die Hand und schlang dann die Arme um das Bündel mit dem Reis. Ich wollte kein Risiko eingehen.

      Kaum war ich zuhause angekommen, gab es Frühstück. Es war immer sehr still am Frühstückstisch. Ich nahm mir meine Portion Reis und aß schweigend vor mich hin.

      Nach dem Frühstück verließen mein Vater und ich die Hütte, um zur Arbeit zu gehen. In der Fabrik arbeiteten fast alle aus unserem Viertel. Eigentlich war es ja gar nicht nötig, dass wir hier schufteten. Eigentlich könnten Roboter unsere Arbeit erledigen, doch die Adeligen wollten, dass wir beschäftigt waren und nicht auf dumme Gedanken kamen. Und da wir alle nichts zum Leben hatten, kam jeder, der alt genug war, um nicht mehr zur Schule zu gehen, hierhin. In meiner Familie arbeiteten mein Vater und ich. Früher hatte meine Mutter auch gearbeitet, aber eines Tages wurde uns alles gestohlen, was wir hatten, weil wir das Haus alleine ließen. Daher blieb sie jetzt zuhause. Zumindest hatte mein Vater mir das so erzählt. Manchmal fragte ich mich, ob es noch einen anderen Grund gab.

      ***

      Es war harte Arbeit. Kaum hatte ich die Fabrik verlassen, ließ ich mich zu Boden sinken und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Bei der Arbeit schwitzten wir auch bei -10°C.

      »Hey, komm!«, sagte mein Vater und zog mich hoch. Er schleifte mich ein paar Meter die Gasse hinunter, dann stellte er mich auf die Füße. Ich machte ein paar wackelige Schritte auf meinen müden Beinen, dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg nach Hause.

      Wie jeden Tag. Wie jede Woche. Wie jeden Monat. Wie jedes Jahr. Wie immer. Für immer. Bis der Tod kam.

      LEANDER

      Als ich an diesem Morgen aufwachte, fühlte ich mich unruhig. Heute war eine große Prüfung fällig, auf die ich mich wochenlang vorbereitet hatte. Nervös schlug ich die Augen auf. Die Sonne schien durch die Fenster. Ich hatte Merlin, meinen Roboter, gestern gebeten, sie nicht zu verdunkeln, damit ich heute früher aufwachen würde. Ich blieb noch etwas liegen und versuchte, mich auf den Tag vorzubereiten, dann stieg ich langsam aus dem Bett und machte mich auf den Weg zu meinem begehbaren Kleiderschrank.

      Ich öffnete die Tür, indem ich sanft die Schnalle berührte, und ging hinein. Auf dem Tisch in der Mitte lag bereits, perfekt gebügelt und gefaltet, der Anzug. Ich schlüpfte flink hinein und kehrte dann in mein Zimmer zurück. Ich sah mich im Spiegel an und fuhr mit meiner Bürste durch meine verwuschelten Haare. Es half wenig und ich drehte mich frustriert um und sah nach draußen. Es war ein wunderschöner Morgen. Da mein Zimmer eine große Glasfront hatte, konnte ich den Schnee unter mir und die Sonne hinter den Baumwipfeln aufgehen sehen. Ich beobachtete, wie eine Drohne unser Haus ansteuerte, vermutlich, um Essen zu liefern. Sie flog an meinem Fenster vorbei und verschwand hinter dem Dach der Bibliothek.

      Eine Weile sah ich zu, wie die Sonne immer höher stieg, dann blickte ich auf die Uhr. Sie zeigte bereits neun Uhr an und so verließ ich mein Zimmer, wobei sich die Türe selbstständig hinter mir schloss.

      Im Wohnzimmer warteten bereits Merlin und mein Vater.

      »Guten Morgen!«, sagten sie gleichzeitig. Mein Vater lächelte, auch Merlin wirkte amüsiert. Ich lächelte nervös zurück.

      »Komm her, mein Sohn! Hast du gut geschlafen?«, fragte mein Vater und nahm mich in die Arme. Ich versuchte nicht, mich zu wehren, erstens, weil mein Vater stärker war als ich, und zweitens, weil er mich nur selten umarmte.

      »Guten Morgen, Dad. Ja, ich habe gut geschlafen, danke. Und du?«

      »Danke, vorzüglich«, antwortete er und ließ mich los.

      »Heute ist also der große Tag, nicht wahr? Deine vorletzte Abschlussprüfung! Mein Sohn wird ja richtig erwachsen. Ich kann es nicht glauben. In ein paar Monaten kannst du schon studieren!«, sagte mein Vater und lächelte traurig.

      »Ich werde euch nie ganz verlassen. Ich komme euch bestimmt besuchen!«, versprach ich.

      »Was darf ich zum Frühstück servieren?«, fragte Merlin. Ich drehte mich zu ihm um. Seine unnatürlich hellblauen Augen schimmerten und auf seinem Gesicht lag sein übliches Lächeln. Sonst verriet nichts, dass er kein echter Mensch war.

      »Ich denke, Eier wären gut«, sagte ich.

      »Wie Sie wünschen, Leander«, antwortete er höflich und ging in die Küche. Ich hatte nie ganz verstanden, warum Roboter ihre Herren siezten und doch den Vornamen benutzten, doch mein Vater meinte, erst wenn der Besitzer erwachsen war, wurde er mit seinem Nachnamen angesprochen.

      Ich setzte mich an den Küchentisch und sah zu, wie die Schatten auf dem Boden kürzer wurden, als die Sonne höher stieg. Auch hier hatten wir eine Seite des Raumes komplett verglast. Bereits nach wenigen Minuten unterbrach Merlin meine Gedanken: »Ich habe Ihnen das übliche Omelett gemacht, Leander. Möchten Sie noch etwas anderes? Was kann ich Ihnen denn zu trinken bringen?«

      »Eine Tasse Tee und eine Scheibe Brot, bitte.«

      »Und für Sie, Mr. Merrywith?«, richtete Merlin sich an meinen Vater, der sich neben mich an den Tisch gesetzt hatte.

      »Ich würde auch eine Tasse Schwarztee mit Milch nehmen.«

      »Entschuldigen Sie vielmals, Leander, ich habe nicht mitgedacht, ich hatte einfach angenommen, dass Sie mit Tee Schwarztee meinen. Verzeihen Sie?«

      »Natürlich verzeihe ich, es stimmt ja auch. Ich hätte gerne Schwarztee mit Milch, bitte«, sagte ich leicht amüsiert. Merlin war wie alle Roboter darauf trainiert worden, seinen Herrn zu respektieren, doch offenbar hatte der Programmierer übertrieben. Wir hätten seine Programmierung natürlich auch ändern können, aber ich mochte es so. Merlin konnte mich immer ablenken. Ich musste oft lachen, wenn er zu höflich war.

      »Natürlich.« Merlin nickte dankbar. »Darf ich Ihnen während des Essens die neuesten Nachrichten vorlesen?«

      Mein Vater sah interessiert auf, was Merlins scharfen Augen nicht entging. »Ich habe hier die neuesten Aktienkurse für Sie, das aktuelle Fernsehprogramm