Radikal gelebte Meisterschaft. Arjuna Ardagh

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Название Radikal gelebte Meisterschaft
Автор произведения Arjuna Ardagh
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783931560904



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einem Garagenverkauf erstanden worden sein konnten. Wir schlürften Tee und unterhielten uns stundenlang über alles Mögliche. Schließlich kamen wir auf Ten New Songs zu sprechen. Ich erklärte ihm, warum ich die Absicht gehabt hatte, das Album zum zentralen Thema in einem Kapitel meines Buches zu machen.

      „Leonard, das Album ist wunderbar“, sagte ich zu ihm.

      „Ja, ja“, erwiderte er abwehrend.

      „Nein, wirklich, Leonard“, protestierte ich, „du musst zugeben, es ist wie der Gipfel des Gipfels des Gipfels.“

      „Nee.“ Er tat es mit einer Handbewegung ab. Wieder sein spezielles Grinsen.

      So ging es eine halbe Stunde zwischen uns hin und her. Ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen, ich wollte nur, dass er zugab, dass das Album brillant wäre. Er lauschte geduldig, wischte mein Lob aber jedes Mal weg. Seiner Meinung nach war es nur ein Haufen Songs, die er zusammengeworfen hatte. Ich ließ nicht locker. Mit Eifer bestand ich darauf, dass Ten New Songs beinahe biblisch wäre. Ich verglich es mit den Upanishaden, einen jener seltenen Momente, wenn etwas von der „anderen Seite“ herüberkommt und unsere Welt erhellt. Jeder einzelne Song perfekt.

      Leonard und ich gerieten fast in Streit. Je mehr er mein Lob abwehrte, desto mehr beharrte ich darauf, recht zu haben. Nach ungefähr einer halben Stunde gab Leonard schließlich den Kampf auf. Er sah mich an, wieder mit breitem Grinsen, und stimmte mir zu. „Ich glaube, du hast recht“, sagte er. „Es ist wirklich etwas herübergekommen auf dem Album.“

      Seine Wortwahl ist bedeutsam. Etwas ist herübergekommen. Es war kein bewusstes Handeln oder Bemühen. Er hatte so gezögert, es für sich in Anspruch zu nehmen, weil er wusste, dass er eigentlich nicht der Urheber des Albums war. Es war durch ihn gekommen, nicht aus ihm.

      Genau das geschieht in der Phase zwischen 12:00 Uhr und 3:00 Uhr. Es ist, als würde eines Tages das Telefon klingeln und eine unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung fragen: „Könnten Sie eine Nachricht entgegennehmen?“

      „Okay“, sagst du und suchst nach einem Stift, „bleiben Sie dran, wie lautet die Nachricht?“

      Dann diktiert die Stimme die Nachricht und du schreibst sie Wort für Wort auf. Es ist das schönste Gedicht, das je geschrieben wurde. Perfekt. Später findet dein Mitbewohner den Zettel.

      „Wow! Du bist ein außergewöhnlicher Dichter! Genial!“, bekommst du zu hören.

      „Nein, nein!“, protestierst du. „Ich habe nur eine Nachricht entgegengenommen.“

      So geht es. Das ist der Flow-Zustand. Flow kommt ganz natürlich, aus dem unendlichen Raum, wo es niemanden gibt, der sich etwas als Verdienst anrechnet.

      Leonard beschrieb anschaulich in allen Einzelheiten, wie das Album entstanden war. Er lebte als Mönch im Mount Baldy Zen Zentrum, stand morgens um 4:30 Uhr auf, um mit den anderen Mönchen Zazen zu praktizieren. Er bewohnte ein winziges Zimmer und verfügte außer einem kleinen Notizbuch und einem Stift über keine Besitztümer. Viel Zeit um 12:00 Uhr.

      Er erzählte mir, dass die Texte und Melodien für das Album im Laufe von zwei Jahren, in denen er täglich viele Stunden am Tag meditiert hätte, in kleinen Schwingungen und Bildern gekommen wären. Er schrieb sie einfach auf, wenn sie erschienen, wie ein pflichtbewusster Schreiber. 3:00 Uhr.

      Später, erzählte er mir, wäre ihm klar geworden, dass er nicht für ein Mönchsdasein geboren wäre. Er sprach mit seinem Lehrer Kyozan Joshu Sasaki (zu der Zeit schon über 100 Jahre alt) und traf die notwendigen Vorbereitungen, um das Kloster zu verlassen und in sein Haus in Los Angeles zurückzukehren. Nichts als das kleine Notizbuch in der Hand begann er dort, die feinen Impulse, die er in der Meditation empfangen hatte, in das zu verwandeln, was für mich das größte lyrische und musikalische Werk ist, das ich kenne. Er brauchte noch zwei weitere Jahre in dem kleinen Studio an der Rückseite seines Hauses, um diesen Impulsen einen eindeutigen Sound, Rhythmus und Form zu geben. Mit unnachgiebiger Genauigkeit nahm er die Songs immer wieder auf. Backgroundsänger, Technik, Software und Hardware beschaffen und damit umzugehen lernen, einen Vertrag mit Sony abschließen. 6:00 Uhr.

      Leonard kennt Depressionen, Selbstzweifel und Verzweiflung und hat sowohl vor als auch nach dem Album mehr als genug davon erlebt, genauso wie auf der anderen Seite süße Hingabe, Vertrauen und Demut. Alle seine Alben sind von diesen Gefühlen durchdrungen.

       I make my plans

       Like I always do

       But when I look back

       I was there for you.

       I walk the streets

       Like I used to do

       And I freeze with fear

       But I’m there for you.

      Die Geschichte hat ein entzückendes Ende. Nachdem wir unser nachmittägliches Gespräch beendet hatten (einer der wichtigsten Tage meines Lebens), zeigte er mir sein kleines Apartment. Es dauerte nicht lange. Er öffnete die Tür seines Büros, wo eine Plastikarbeitsplatte mit zusammenklappbaren Beinen stand, auf der sich Pappkartons stapelten. „Das ist also das Büro“, sagte ich. „Wo arbeitet Kateri?“

      „Kateri …“, sagte Leonard. Wieder ein schelmisches Grinsen. „Ich stell dir Kateri vor.“ Ich dachte an den leicht flirtenden Ton meiner zum Teil nächtlichen Mails an Katari und wurde für einen Moment rot vor Verlegenheit. Leonard führte mich in die Küche. Er öffnete einen Hängeschrank über dem Waschbecken. Im obersten Fach war die Figur einer jungen Indianerin. „Das ist Kateri.“ Ich sah Leonard kurz an und blickte dann auf den Boden. Langsam begriff ich. Ich hatte nachts mit niemand anderem als Leonard selbst geflirtet. Er schmunzelte über mein Unbehagen und erklärte mir dann, dass seine frühere Managerin ihn um sein gesamtes Vermögen betrogen habe, während er im Kloster war, mehr als zwölf Millionen Dollar. Er hätte kein Geld mehr, um eine Assistentin zu bezahlen. Deshalb habe er als Fassade Kateri erfunden und mir in ihrem Namen Mails geschickt.

       KAPITEL 5

      Stecken bleiben

      Seit ich das Modell des Kreislaufs vor mir habe – der Kreislauf sozusagen herübergekommen ist –, kann ich ihn immer mehr bei mir selbst beobachten. Ich merke, dass es sehr selten vorkommt, dass der Kreis ungehindert und reibungslos läuft. Wenn du Kenntnisse über chinesische Medizin hast, weißt du, dass alle Energie in Meridianen fließt. Es kommt fast nie vor, dass ein chinesischer Arzt deinen Puls fühlt und feststellt, dass alle Energie frei in allen Meridianen strömt. Das wäre ein Zustand vollkommener Gesundheit. In der Regel ist es um den Körper so bestellt, dass irgendwo im System entweder eine Art Überfluss oder ein Mangel an Energie herrscht. Ungleichgewicht gehört zur Natur allen Lebens.

      So auch beim Brillanz-Kreislauf: Weil ich mir ein Bild davon gemacht habe, verstehe ich, dass ich noch niemanden getroffen habe, der perfekt alle vier Phasen durchläuft, sich frei von einer zur anderen bewegt. Der Unterschied zwischen uns Menschen ist nicht, ob wir blockiert sind oder im Fluss, sondern wo im Kreislauf wir blockiert sind.

      Das kann ganz unterschiedlicher Art sein: Die erste Möglichkeit ist, eine Neigung zu einer der Phasen zu haben. Die zweite, die (Be-)Wertung des Gegenteils. Eine dritte, die nächste Phase anzustreben und sich gleichzeitig dagegen zu sträuben. Aus allen drei Möglichkeiten ergibt sich eine vierte, die verbreitete Angewohnheit des „Hin und Her“ (Looping).

      Wir wollen jetzt die Arten, Brillanz zu blockieren, näher beleuchten und uns dann ansehen, wie man sie an jedem Punkt im Kreislauf erkennt. Sobald wir voll und ganz verstehen, wie und warum wir im Kreislauf blockiert sind und welchen Preis wir dafür zahlen, haben wir die nötige Einsicht für eine fast unendliche Vielfalt von Übungen und Regeln und sehen, wie sie ins Konzept passen.

      Neigung, Vorliebe

      Ein Grund, warum man an jeder Stelle des Kreislaufs stecken bleiben kann, ist, dass man dort immer noch tiefer eintauchen könnte. Da ist dieses Gefühl, dass man etwas noch nicht vollkommen