Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

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Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



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zu Agronomen – ein exemplarischer Fall von Eigeninitiative. Musterbetriebe kamen auf, die mit neu kultivierten Pflanzen Versuche anstellten – so mit Zuckerrüben –, und es gab unter den Betrieben landwirtschaftliche Leistungsschauen. Es scheint, dass diese von den Behörden zwar gern gesehen wurden, die Politik des «weniger Staat» aber keine öffentliche Subventionierung auf eidgenössischer Ebene erlaubte.

      «Die Schweizer melken ihre Kühe und leben friedlich»: Der bukolische Alexandriner von Victor Hugo, entnommen aus «La Légende des siècles», spiegelt präzise das romantische Bild des Landes wider. Nur beschönigt eine solche Idee immer die Realität, und der schönfärberische Vers von Victor Hugo war nur zur Hälfte wahr. Der Bockenkrieg widerlegte den grossen Dichter, der von seinem damaligen Touristenführer getäuscht wurde.63 Es ist und bleibt zwar richtig, dass der Aufstand, der von der eidgenössischen Armee unerbittlich unterdrückt wurde, seinen Ursprung nicht in der schlechten Ernährungslage hatte, sondern auf politische Unzufriedenheit zurückging. Die Aufständischen vertraten die Meinung, dass die Rückkaufsgebühr des «grossen Zehnten» übertrieben und unerträglich sei; ein ernsthaftes Problem, das sich über ein halbes Jahrhundert Sozialgeschichte erstreckt. Die Helvetische Republik war willens, es zu lösen, und verordnete schon 1798 den obligatorischen Rückkauf dieser Steuer feudalen Ursprungs, die als ein modernen Zeiten unwürdiges obrigkeitliches Überbleibsel angesehen wurde. Das Gesetz wurde wegen seiner Durchsetzungsschwierigkeiten bald ausgesetzt (1800), dann wieder reaktiviert (1801). Der Untergang der Helvetik (1802) blockierte schliesslich alles. Die Mediation war sich des Problems ebenfalls bewusst und öffnete das Dossier wieder, sobald sie an der Macht war. Von 1803 bis 1806 erliessen ein Dutzend Kantone Gesetze für einen fakultativen oder obligatorischen Rückkauf. 1813 war noch nicht alles geregelt, aber man verdankte einen Grossteil der Arbeit in dieser wichtigen Angelegenheit der Mediation. Ihr ist gutzuschreiben, dass die Landwirtschaft einen grossen Modernisierungssprung machte. Die Grosse Mediation hat das Verdienst, das durch die Helvetik begonnene Werk vollendet, nicht aufgegeben zu haben.

      Der Grossen Mediation kommen im Ernährungssektor der Wirtschaft noch andere Verdienste zu. Die Korrektion der Linth und ihre Kanalisierung haben als die grösste je unternommene nationale Gemeinschaftsaufgabe seit der Gründung der Eidgenossenschaft richtigerweise die Aufmerksamkeit der Geschichtsbücher auf sich gezogen. Das Bauwerk, das viel Zeit in Anspruch nahm, wurde 1807 mit dem Ziel begonnen, nicht nur gegen Überschwemmungen und Malaria zu kämpfen, sondern auch die grossen Sümpfe der Linthregion trockenzulegen und zu kultivieren. In einer Schweiz, die in der Phase des demografischen Wachstums stand, war die Gewinnung von Ackerland sehr willkommen. Man muss aber unterstreichen, dass diese riesige Baustelle – ganz auf der Linie des «weniger Staat» – nicht mit öffentlichen Geldern der Eidgenossenschaft finanziert wurde, die für diesen Zweck darüber gar nicht verfügte, sondern auf dem Weg der Subskription und Gründung einer Aktiengesellschaft. Sie war das Werk des Zürchers Johann Konrad Escher, Vater des Projekts und Chef der Bauarbeiten; er gab dem Kanal seinen Namen und wurde von der Eidgenossenschaft zum Dank mit dem Titel «von der Linth»64 geehrt.

      Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an nahm die Industrialisierung in der Schweiz einen einmaligen Aufschwung. Man anerkennt heute den aussergewöhnlichen Fortschritt der Baumwollfabrikation und die ernsthafte Konkurrenz, die Baumwollzeug, weisse Leinwand und besticktes schweizerisches Musselin auf dem ausgedehnten und volksreichen Binnenmarkt des französischen Empires darstellte; ein Herrschaftsgebiet, das sich auf seinem Kulminationspunkt von Hamburg bis zu den illyrischen Provinzen des adriatischen Meeres erstreckte und 120 Millionen Einwohner zählte. Demgegenüber war die Kontinentalblockade weit davon entfernt, die Schweizer Industrie zu bremsen, sondern sie schützte sie im Gegenteil vor der englischen Konkurrenz. Dazu kannte die Konjunktur während der Mediation starke Schwankungen: Zwei Krisen (1803–1806 und 1811–1812) haben die geradezu überhitzte Phase der Jahre 1806 bis 1811 eingerahmt. Dieses halbe Dezennium erlebte die durchschlagende Mechanisierung der Spinnerei. Schlussfolgerung: In einem Europa im Krieg hat die Schweiz im Frieden sich auch wirtschaftlich gut aus der Affäre gezogen.65

      Davon zeugt sogar der Tertiärsektor mit den Dienstleistungen Handel, Tourismus und Kreditwesen. Die Schweiz, die schon frühzeitig industrialisiert war, hatte sehr bald die Notwendigkeit von Konsularvertretungen geprüft. Diese verdankten ihre Einrichtung zwar der Helvetischen Republik (Bordeaux 1798), aber die Mediation, die nicht im Geringsten daran dachte, das untergegangene Regime auf diesem Gebiet zu desavouieren, hat eine unbestreitbar wichtige Institution aufrechterhalten. Ein pikantes Detail: Weil der Titel «Konsul» in Frankreich den drei höchsten Würdenträgern des Staates, unter ihnen dem Mediator, vorbehalten war, wäre es unschicklich gewesen, damit gleichfalls Leute zu dekorieren, deren Aufgabe eine rein wirtschaftliche war, so angesehen sie auch sein mochten. Man nannte sie deshalb «Kommissare der wirtschaftlichen Beziehungen», was ebenfalls Achtung einflösste. Sie verteidigten die Interessen der Eidgenossenschaft im Ausland, während in der Schweiz selber wirtschaftliche Werbung gemacht wurde – man höre und staune – mit Ausstellungen, welche damals einen ungeahnten Aufschwung nahmen. So veranstaltete der Kanton Bern, Pionier auf diesem Gebiet, 1804 und 1810 eine Ausstellung für Handwerk und Industrie.

      Unter den Besuchern, welche diese ganz neue Art von Handelsmessen neugierig verfolgten, fanden sich hauptsächlich Berner, aber auch Schweizer aus anderen Kantonen sowie ausländische Touristen. Der Wahrheit zuliebe muss man sagen: 1804 und 1810 waren Jahre ohne Kriegswirren, was den Besuch von zahlreichen Engländern erlaubte. Für sie gebrauchte man zum ersten Mal das Wort «Tourist», welches seit 1803 bescheinigt ist. Die schroffe Bodengestaltung und die Höhe der Berge, die sommerliche Sonne und der ewige Schnee zogen diese Besucher an, welche aus dem nebligen und ebenen England anreisten. Sie kamen nicht wegen des Komforts der Hotellerie, die noch in den Anfängen steckte, sondern eher, um von zu Hause wegzugehen und das Schauspiel der rohen, aber als natürlich angesehenen Bräuche der Bergler zu besichtigen, etwa die der Hirten am Unspunnenfest im Berner Oberland 1808. Bisweilen gaben sich diese im Allgemeinen begüterten Gäste, «gentlemen’s farmer», reiche Industrielle oder wohlhabende Bankiers amüsiert-distanziert, mit einem herablassenden Blick. Einige der Waghalsigeren schwärmten für den Sport und den Alpinismus, zwei noch unbekannte Ausdrücke. Die Nichtexistenz von Wörtern verhinderte jedoch die Sache nicht: Engländer, Franzosen, Deutsche und Schweizer – diese Letzteren machten den «Alpenstock» zum Gemeingut des Wanderers – rivalisierten um die Besteigung der höchsten Gipfel. 1811 wurde die Jungfrau bezwungen oder geschändet, wenn man es so sehen will.

      Wer würde es glauben, dass die Schweiz, die heute im Bereich der Privatversicherungen eine führende Position belegt, lange Zeit vom Ausland abhängig war, bevor sie ihre Ansprüche und ihr Wissen auf diesem Gebiet durchsetzen konnte? Die frühzeitige Industrialisierung hatte schon lange die grossen englischen, französischen und deutschen Gesellschaften angezogen.66 Sie zu konkurrenzieren war keine leichte Sache, denn sie waren auf europäischer Ebene mit ihrem grossen Kapital und ihrer Erfahrung schon stark verankert. Aber der initiative Unternehmungsgeist der Schweizer der Mediation brachte es fertig, sich auch in diesem Sektor ab dem 19. Jahrhundert und bis heute mit Erfolg durchzusetzen. Überraschenderweise versicherte man die Güter vor den Personen, dies vor der Mediation und noch lange Zeit danach. Die öffentliche Hand ging in dieser Domäne voran, und ein Dutzend Kantone gründeten zwischen 1805 und 1812 ihre eigene Versicherungskasse für Tiere und Feuer. Die Schweiz war noch ein Land mit bäuerlicher Vorherrschaft, und die meisten Häuser waren immer noch aus Holz gebaut, auch in der Stadt.

      Was die Banken betrifft, gelang es den Schweizern, das Vertrauen sehr früh zu gewinnen,67 und ihr Erfolg im monarchischen Frankreich von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. ist hinlänglich bekannt. Anfang des 19. Jahrhunderts finanzierten sich in der Schweiz die industriellen Unternehmungen der Gründerzeit selber. Die grossen Handelsbanken ebenso wie die Kantonalbanken wurden erst relativ spät gegründet. Im Gegensatz dazu förderten die Behörden den Kleinkredit schon während der Mediation. So entwickelten sich die öffentlichen Sparkassen und die Lokalbanken, welche am Ende des 18. Jahrhunderts eher zögerlich aufgetreten waren.68 Eine Tatsache, die man hervorheben muss: Die Kunden der Sparkassen rekrutierten sich hauptsächlich aus den bescheidenen Schichten der Bevölkerung – Angestellte im Handel, Mägde, Knechte und vor allem