Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

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Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



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Paris an den Kanton Waadt3 geschrieben, um ihn als Freund in der neuen Eidgenossenschaft, die von nun an 19 Mitglieder umfasst, zu empfangen. Der im «Journal Helvétique», einem wichtigen Organ der Westschweizer Presse,4 publizierte Text ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam.

      Erstens bezeugt er den Enthusiasmus der Urner – direkte Nachfolger der im Mittelalter in der Urschweiz gegründeten Eidgenossenschaft – für die in der französischen Hauptstadt zwischen dem Ersten Konsul Napoleon Bonaparte und der stattlichen Schweizer Delegation geschlossene Übereinkunft. Es handelte sich um einen Vertrag von beträchtlicher Tragweite, da er den jahrhundertealten Föderalismus wiederherstellte, der durch die Revolution 1798 brutal abgeschafft und durch das zentralistische Regime der Helvetischen Republik mit der Devise «ein und unteilbar» ersetzt worden war. Dank dieser ebenso radikalen wie spektakulären Gegenbewegung bekamen die Kantone ihre traditionelle Freiheit, sich selber regieren zu können, wieder zurück. Das konkrete Symbol der direkten Demokratie: Wie in der Vergangenheit konnte die Landsgemeinde von Uri ihre Bürger wieder versammeln.5

      Zweitens: Der urnerische Text spricht die in der Zentralschweiz empfundene Bewunderung für den von der Vorsehung bestimmten Mann aus – ist Napoleon nicht der Gesandte des «Allerhöchsten»! –, dank dem die Mediationsakte dem Bürgerkrieg, dem berüchtigten «Stecklikrieg», der die Schweiz 1802 entzweite,6 ein Ende setzte. Nach dem Schock von 1798, den politischen Wirren ohne Ende in der Helvetik, der Besetzung der Schweiz durch fremde Armeen – französische, russische, österreichische – und nach dem darauf folgenden wirtschaftlichen Zusammenbruch hatten sich zwei Schweizer Armeen, die eine zur Verteidigung des an der Macht stehenden helvetischen Regimes, die andere, es zu stürzen, im Mittelland aufgestellt, um die Entscheidung zu suchen. Als die Seite, welche für die Wiederherstellung des Föderalismus kämpfte, dabei war, den Sieg zu erringen, mischte sich Frankreich in extremis militärisch ein, um einen Waffenstillstand durchzusetzen, die geflohene helvetische Regierung wieder einzusetzen und seine Vermittlung anzubieten. Die beiden Konfliktparteien nahmen die Offerte des Ersten Konsuls an und entsandten ihre Delegationen nach Paris. Von Dezember 1802 bis Februar 1803 arbeitete die Consulta ununterbrochen, um das Fundament für ein neues staatliches Gebäude zu setzen, das den wiedergefundenen Frieden garantieren sollte.7

      Drittens: Die Haltung der Urner, die sich in ihrer veröffentlichten Botschaft widerspiegelt, widerspricht den schweizerischen Geschichtsbüchern, denen zufolge die verzagten Eidgenossen gegen ihren Willen die Mediationsakte ertragen hätten, in der ungeduldigen Erwartung des günstigen Augenblicks, sie wieder aufzukündigen.8 In Wirklichkeit hatten die Schweizer und mit ihnen die Urner – diese hatten sich gegen den französischen Besetzer 1798 sogar militärisch gewehrt – das Werk des «Grand Consul» mit Eile, wenn nicht gar mit Freude angenommen trotz der Tatsache, dass es ausserhalb der vaterländischen Grenzen entworfen, redigiert und bekannt gemacht worden war.9

      «Grand Consul»! Man kann sich kaum vorstellen, welches Prestige Napoleon Bonaparte im Europa des Frühlings 1803 genoss, ein Jahr vor der offiziellen Ankündigung seiner Thronbesteigung als Kaiser.10 Um dieses Prestige deutlich zu machen, versuchen wir, ein Bild des damals mächtigsten und widersprüchlichsten Mannes zu zeichnen. Bald wird die englische Karikatur, die beste Europas, ihn mit der scheusslichen Fratze eines kinderfressenden Korsen darstellen. Er träumt davon, Grossbritannien in die Knie zu zwingen, eine ebenso stolze wie mächtige Nation, Beherrscherin der Meere11 und Vorreiterin des wirtschaftlich-industriellen Fortschritts. Noch präsentiert er sich aber, mit 34 Jahren, als friedenbringender Krieger der modernen Zeiten, in einer Hand den Degen, in der anderen den Olivenzweig, mit schmaler Silhouette und langen Haaren. Als militärischer Held und politisches Genie repräsentiert er den unbesiegbaren Kriegshelden12 und den nicht zu umgehenden Friedensstifter.13 Gefürchtet und gleichzeitig bewundert, vereint er in sich nicht nur die Kraft zum Dienst am Frieden, sondern auch die Autorität im Dienste von Recht, Justiz, Ruhe und Ordnung14 in einem von der Revolution erschütterten Europa. Die fehlgeschlagenen Attentate15 gegen seine Person erweisen seinen Feinden einen schlechten Dienst und verleihen ihm den Ruf der Unverwundbarkeit. Der Sohn der Revolution hört nicht auf, jedem immer und immer wieder zu sagen: «Die Revolution ist beendet!» Staats- und Armeechef eines Frankreich, das noch kürzlich in Auflösung war, erscheint er wie ein Wundertäter, um das Land in kürzester Zeit wieder aufzurichten. Er ist der Übermensch, der Europa, dem Zentrum der Welt, geschenkt wurde, um dessen Schicksal in die Hand zu nehmen. Es ist noch nicht so weit, aber eines Tages wird man von ihm ohne Übertreibung sagen, dass er «der Kopf von Cäsar auf den Achseln von Alexander dem Grossen» ist: Alles scheint so abzulaufen, wie wenn er es schon wäre. Mythos oder Realität, das ist jedenfalls das Bild, das die schweizerische, deutsche, italienische und selbstverständlich die französische Presse dieser Zeit von ihm zeichnet. Die französische wird von den Lesern bevorzugt, weil sie aus Paris, wo sich alles entscheidet, immer das Neueste berichtet. Ein Bild, das durch die Propaganda noch aufgebauscht wird – Bonaparte ist darin schon Meister16 –, das aber in Bezug auf seine universell anerkannten, gewaltigen Talente, die eine glänzende Zukunft ankündigen, nicht falsch ist.

      Schon damals kennt man die überragende Rolle, welche der französische Staatschef bei der Gestaltung und Ausarbeitung der Mediationsakte persönlich gespielt hat – daran lassen die von der Presse publizierten offiziellen Texte keinen Zweifel aufkommen.17 Es war eine derart massgebliche Rolle, dass man sie eher mit derjenigen eines Schiedsrichters als eines Vermittlers vergleichen muss. Ein Vermittler schlägt vor, ein Schiedsrichter verfügt.18 Bonaparte, unter dem schon Napoleon hervorbricht – um Victor Hugo zu zitieren –, verkörpert in vollendeter Form den Entscheidungsträger in Politik und Militär. Als er 1799 Erster Konsul wird, zirkuliert in Paris ein Bonmot: «Was beinhaltet die Verfassung?» – «Bonaparte!» Gleichfalls hätte einem Neugierigen am Tag nach dem 18. Februar 1803 auf die Frage: «Was beinhaltet die Mediationsakte?» ein gewitzter Mann antworten können: «Den Mediator!»

      Bonaparte war im helvetischen Streit zwischen «den Parteien, welche die Schweiz teilen»19 also eher Schiedsrichter als Vermittler. Aber auch in dieser Rolle war er gewissen Zwängen unterworfen. Die Historiker stimmen darin überein, dass er als anerkannt grosser Stratege die zwingende Notwendigkeit begriffen hatte, an der Ostgrenze von Frankreich den Verteidigungswall wiederherzustellen, den die Eidgenossenschaft seit der Einverleibung der bisher spanischen Freigrafschaft (Franche-Comté) durch Ludwig XIV. 1678 gebildet hatte. Der Einmarsch der Armeen des Direktoriums 1798 in die Schweiz war ein Fehler gewesen. Die Invasion hatte aus der Eidgenossenschaft, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts vom Krieg verschont geblieben war, das Schlachtfeld Europas gemacht. General Bonaparte musste den helvetischen Schild wiederherstellen, und wäre es nur, um auf dem so schwierigen Gelände nicht einen gewichtigen Teil seiner Kräfte binden zu müssen. Ausserdem schätzte er als guter Kenner der Verhältnisse den Kampfwert der Schweizer Soldaten so hoch ein, dass er auf sie nicht verzichten oder, noch schlimmer, sie sich zum Feind machen wollte. Die Schweiz sollte auf dem Markt der Reisläuferei bleiben, was sie schon immer gewesen war: ein zwar teures, aber privilegiertes und volkreiches Reservoir. Nicht vergebens zirkulierte in Frankreich der Ausspruch: «Kein Geld, keine Schweizer!» Darüber hinaus konnte die Neutralität, der die Schweizer sehr zugetan waren, die aber – ein anderer Fehler – 1798 um den Vorteil einer offensiven Allianz willen geopfert worden war, Frankreich in einem europäischen Krieg nützlich sein.20

      Unter diesem Blickwinkel ist es erlaubt, in der Mediationsakte von 1803 wie auch in der sie ergänzenden Defensivallianz und im Militärvertrag, genannt Capitulation, eher den Ausdruck einer Übereinstimmung der französisch-schweizerischen Interessen als das einseitige Zeichen des Willens des Stärkeren zu sehen. Als sich die Schweizer im Winter 1802 zur Pariser Consulta begaben, taten sie dies nicht auf den Knien bittend. Seinerseits ging Napoleon nicht das Risiko ein, seine Gäste zu demütigen, indem er ihnen etwas aufzwingen wollte. Die beträchtliche Zeit, welche ein so beschäftigter Staatsmann wie Bonaparte den Angelegenheiten der Schweiz ganz persönlich gewidmet hat, zeigt zur Genüge, worum es ihm ging. Seine Gesprächspartner haben seine umfassende Kenntnis des helvetischen Dossiers ebenso wie sein Rednertalent und vielleicht auch sein Schauspieltalent bewundert. Die Schweizer haben