Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

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Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



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unter der Devise «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!» noch der Initiative des Einzelnen überlassen war.

      Der beste Teil des reichen Erbes, welches die Mediation der heutigen Schweiz vermacht hat, ist nicht politischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern kulturell im weiten Sinn des Wortes, welches kollektive Mentalitäten und öffentliches Empfinden einschliesst. Die nachfolgende notgedrungen zu kurze Aufzählung beschränkt sich nur auf die bedeutendsten Errungenschaften.

      Nach dem Erdbeben der Revolution von 1798 und nach dem Bürgerkrieg von 1802 erfolgte der Wiederaufbau des Landes nicht nur durch die Einführung eines neuen Föderalismus und durch die Wiederankurbelung der Wirtschaft, sondern es war nötig, sich wieder zusammenzufinden, denn die ganze Gesellschaft war traumatisiert und auf der Suche nach neuen Bezugspunkten und neuen Werten. Sie empfand das diffuse Bedürfnis, zu einem neuen Lebensstil zu finden. Die entscheidende Frage lautete: Wie kann man die Gesellschaft der Bürger (société civile) an der politischen und wirtschaftlichen Macht beteiligen? Die Antwort schien im Wesentlichen in vier Punkten zu liegen: Man wollte die nationale Identität fördern, die sozialen Ungleichheiten berücksichtigen, die Minderheiten anerkennen und den Zugang zum Wissen revolutionieren.

      Hatte das Schweizer Volk unter dem Ancien Régime ein eidgenössisches Selbstbewusstsein? Offenbar nicht. Seine Verschiedenartigkeit verbarg seine Einheit. Nur die politische und intellektuelle Elite pflegte das, was man heute «Idée suisse» nennt, Ausdruck einer spezifischen Identität, die als national in dem Mass qualifiziert werden kann, wie die «Schweizer Nation» ein Bestandteil des politischen und literarischen Vokabulars war. Die neue sozial abgestützte Umgangsform des Aufklärungszeitalters hatte die «Helvetische Gesellschaft»69 hervorgebracht, die dazu bestimmt war, die kultivierten Schweizer einander näherzubringen, um das Vaterland miteinander zu feiern, seine Geschichte und seine Helden; allen voran Wilhelm Tell, an dessen Existenz damals niemand zweifelte. Seine Popularität als Held, der sein Land liebt und seine Familie verteidigt, seine Geschichte, die absolut glaubwürdig klingt und die mit dem Begriff von Freiheit und Unabhängigkeit verbunden ist, halfen den damals noch hauptsächlich ländlichen Massen, den abstrakten Begriffen von schweizerischem Vaterland und patriotischen Bürgern einen Inhalt zu geben. Unter der Helvetik, und das war ihr Drama, wurde der vaterlandsliebende Tell von Anhängern und Gegnern der Revolution, die sich um ihn stritten, vereinnahmt. In der Mediation, und das war ihre Chance, versöhnte Tell das Land: «Keine Ketten den Kindern Tells!», erklärte der Mediator Napoleon, der einen politisch-medialen Volltreffer landete, indem er sich gewandt die Popularität des nicht weniger gewandten Schützen zunutze machte. Es ist kaum zu glauben, dass Uri, das Vaterland des Armbrustschützen, 1803 in Bonaparte den Wilhelm Tell der modernen Zeiten feierte! Fast zur gleichen Zeit bemächtigte sich Schiller 1804 in Deutschland des bekanntesten Schweizers, um aus ihm einen universalen Helden zu machen. 1805 gab es in Sarnen ein «Fest der nationalen Einheit», welches die Gelegenheit nutzte, ein grosses historisches und patriotisches Schauspiel in vier Akten aufzuführen, worin das ganze mittelalterliche Pantheon mit Tell und Winkelried als Stars70 vorkam. Um 1807 erwachte die Helvetische Gesellschaft, die seit 1798 dahindämmerte, wieder zum Leben.

      Die helvetische Identität war offensichtlich ein Wert, nutzbar und ausgebeutet für die verschiedensten Ziele. 1808 wurde in Luzern die «Helvetische Gesellschaft für Musik» gegründet.71 Dieser Akt hatte eine hohe symbolische Bedeutung für das Band zwischen der Classe politique und den Bürgern. Gerade in diesem Jahr empfing Luzern als Vorort die eidgenössische Tagsatzung. Als Hauptstadt der Schweiz für ein Jahr wandte sich die Stadt an den damals bekanntesten Schweizer Musiker, den Zürcher Hans Georg Nägeli, ein avantgardistischer Herausgeber, der seit 1803 Beethoven publizierte (Sonate für Klavier, Opus 31, «Der Sturm») und der später mit Schubert und Weber in Verbindung stand.72 Nägeli, modern und phantasievoll, war nicht nur der Gründer der Helvetischen Gesellschaft der Musik, sondern auch während der Tagsatzung Organisator von helvetischen Konzerten, den symphonischen und choralen Feiern der nationalen Brüderlichkeit! Ein phänomenaler und dauerhafter Erfolg. Solche Konzerte und die Helvetische Gesellschaft trugen dazu bei, während des ganzen 19. Jahrhunderts in der Bevölkerung die Liebe zur Musik und die Freude am Musizieren zu verbreiten, gleichsam natürlich verbunden mit der Schweizer Identität.

      Der nationale Zusammenhalt kann ohne Solidarität nicht aufrechterhalten werden. Die wirtschaftliche Erholung der Schweiz während der Mediation und vor allem die Phase der Hochkonjunktur der Jahre 1806 bis 1811 verschaffte nicht allen Wohlstand. Es gab die «laissés-pour-compte», die Vergessenen des wirtschaftlichen und demografischen Wachstums. Die gute Gesellschaft nahm davon Kenntnis, und 1810 trafen sich etwa 60 Personen aus 13 Kantonen in Zürich, um darüber zu sprechen. Die Initiative dazu kam von einem angesehenen Mitglied der Helvetischen Gesellschaft, Hans Caspar Hirzel, Mitglied der Loge «Modestia cum Libertate».73 Er war Zürcher, wie Nägeli, Arzt und Philanthrop, vom freimaurerischen Altruismus der Aufklärung durchdrungen, und setzte sich für das Soziale ein. Wie im napoleonischen Europa war die Freimaurerei auch in der Schweiz in voller Entfaltung.74 Logen florierten an den Ufern der Limmat und in den wichtigsten protestantischen Städten des Landes, und die Prinzipien von Brüderlichkeit und Toleranz, die ihr freimaurerisches Denken und Handeln inspirierten, standen einer Zusammenarbeit mit den Katholiken nicht entgegen. Daher nahmen auch gewisse Katholiken an der Versammlung in Zürich teil. Diese rief die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft75 ins Leben, die ganz die Ansichten ihres Präsidenten Hirzel teilte.

      Bevor man die Probleme der offenbar wachsenden sozialen Ungleichheit lösen konnte, musste der kantonale Horizont überwunden werden, dem der Föderalismus zu viel schmeichelte, als dass eine globale und wirklich nationale Betrachtungsweise gewagt worden wäre. Nur so konnte aber eine gemeinsame Lösung gefunden werden. Man musste auf ein unkoordiniertes Handeln und die Verschwendung von Energie reagieren, die 19 kantonale Politiken der öffentlichen Fürsorge verursachten. Konkret diente die neue Gesellschaft als Modell und rief in den Kantonen vergleichbare Organisationen ins Leben, wie etwa die 1813 gegründete «Ökonomische Gesellschaft Freiburg».76 Es handelte sich nicht um karitative Gesellschaften, die sich auf dem Boden der sozialen Realität und Hilfe engagierten, sondern um Studiengesellschaften der sozialen Probleme im weitesten Sinn. Sie berieten Vorschläge zum eventuellen Einsatz der Behörden (Beratungsrolle) wie auch Publikationen, die dazu bestimmt waren, zu informieren und die öffentliche Meinung zu sensibilisieren (Informationsrolle). Die Gesellschaft funktionierte mit diesem philanthropischen Schema etwa zehn Jahre lang, bevor sie den Akzent auf pädagogische und öffentlich-wirtschaftliche Fragen verschob. Als nationale Organisation blieb sie dem Prinzip der politischen und konfessionellen Neutralität verbunden. Entstanden aus privater Initiative, bewahrte sie auch ihre private Organisationsform, aber ihr Zielpublikum wie auch der Umfang und die Dauer ihrer Tätigkeit machten daraus eine quasi-offizielle Einrichtung, welche für die Schweizer Identität grundlegend war. Gegenüber der Classe politique funktionierte die Gesellschaft der Bürger nicht auf dem Konkurrenzprinzip, sondern auf dem der Subsidiarität.

      Die Mediationsakte und die 19 kantonalen Verfassungen, die in ihrem ersten Kapitel verankert sind und der föderalen Akte im eigentlichen Sinne vorausgingen, bezogen sich nicht auf eine Erklärung der Menschen- oder Naturrechte. Dennoch bestand eine De-facto-Anerkennung der wichtigsten Minoritäten der Eidgenossenschaft. Während die Schweizer der reformierten Konfession demografisch die Mehrheit besassen, setzte sich eine konfessionelle Parität durch, die sich darin zeigte, dass von sechs Vororten drei protestantisch (Basel, Bern, Zürich) und drei katholisch waren (Freiburg, Luzern, Solothurn). Das war kein Zufall. Es ist selbstverständlich, dass diese vollkommene Parität nichts anderes bewirken wollte, als die friedliche konfessionelle Koexistenz in der neuen Schweiz zu fördern. In Bezug auf die Sprachen bedeutete die Aufnahme Graubündens (rätoromanisch), des Tessins (italienisch) und der Waadt (französisch) in den Schoss der Mutter Helvetia für die drei lateinischen Minderheiten nicht nur eine Aufwertung, sondern auch eine gesetzliche Anerkennung ihrer Gleichheit mit der deutschsprachigen Mehrheit, welche durch ihr demografisches Gewicht und durch die Zahl der Kantone vorherrschte. Es handelte sich da mit Bezug auf das Ancien Régime, das im Innersten