Название | Der erste Landammann der Schweiz |
---|---|
Автор произведения | Georges Andrey |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198467 |
Allerdings ging man nicht so weit, die Gerichte einzuschalten. Man begnügte sich mit der moralischen Verurteilung und zettelte keine politischen Prozesse an, denn die Mediationsakte verbot dies mit ihrer Amnestieklausel (Teil II, Art. XIII) ganz formell. Es gab deshalb während der Mediation keine Verurteilungen wegen «Vergehen in Bezug auf die Revolution». Die Frage hatte sich zwar gestellt. Die Amnestie verordnete also von Amtes wegen die nationale Versöhnung. Sie übte die erwartete Wirkung auf die Befriedung aus: Auf die Aktivseite der Mediation kann man das Fehlen von jeglichem politischem Mord, Putsch oder Putschversuch setzen. Zwar wurde das neue Regime gleich zu Beginn von einem schweren Volksaufstand getroffen, dem einzigen, dem berüchtigten Bockenkrieg. Die Strenge, mit der er unterdrückt wurde, widerspiegelt die Verhärtung des Strafrechts gegenüber jenem der Helvetik – Wiedereinführung der Folter und der Todesstrafe –, sagt aber noch mehr aus, wie wir gleich sehen.
Die öffentliche Volksstimmung – zu unterscheiden von der öffentlichen Meinung, die keine moralische Verbindung kennt57 –, basiert primär auf dem Respekt vor der Autorität, deren Prinzip immer wieder von Staat und Kirche, die sich dabei gegenseitig unterstützen, überall bekräftigt wird. In der staatsbürgerlichen Gesinnung (civisme) der Mediation hatte der Respekt vor der Autorität Vorrang vor dem kritischen Geist. Die Vorherrschaft des Autoritätsprinzips trachtete danach, die Legitimität der legal errichteten Macht zu verklären und das Vergehen wegen Ungehorsams schärfer zu gewichten. Das ist deshalb so wichtig, weil das Strafrecht sich von der Mediationsakte beeinflussen liess, die ausdrücklich den Straftatbestand der kollektiven Revolte vorsah.58 Da es kein eidgenössisches Strafrecht gab, diente in diesem Punkt die Mediationsakte den 19 Kantonen als gemeinsame Grundlage.
Kann die öffentliche Volksstimmung, durchtränkt von Mässigung und Respekt vor der Autorität, das militante Verhalten in der Politik anheizen? Wenn ja, wäre das nicht heimtückischerweise eine schleichende Militanz eines einheitlichen ideologischen Gedankenbreis, eine breite Neutralisationskampagne des Geistes und eine Ermutigung zur Selbstzensur? Die «weisen Denker und Freunde des Guten», um nochmals die Akte von 1803 anzuführen, hatten nur ein einziges Ziel: «die Befriedung und das Glück der Schweizer».59 Das war ihr Glaubensbekenntnis, eine milde Ausdrucksweise, um eine schöne Sache zu verteidigen, aber ohne öffentliche Debatte in den Parteien oder in den Zeitungen. Die Presse war streng überwacht, und ein Pluralismus der Meinungen konnte sich nicht entfalten. Die Wahlen liefen ohne Wahlkampf ab. Das politische Engagement hiess: «allgemeine Sammlung im Zentrum», das famose «juste-milieu», Treffpunkt der biederen Bürger, der «honnêtes gens». Diese mieden die «Grossmäuler» (»exagérés»), die «Prinzipienreiter» (»principiers»), «Anarchisten» und andere «Jakobiner», alles Parteien, die noch 1802 behaupteten, das Gesetz zu diktieren, und deren Sektiererei, wie man sagte, das Land in die Anarchie und den Ruin60 getrieben hatte.
Man muss eingestehen, dass der Ultrazentrismus, die beherrschende und gewissermassen geradezu offizielle Ideologie, das politische Leben61 betäubte. Von heute aus gesehen führt diese Situation unvermeidlich zu der Frage: Wie stand es mit der Demokratie in einem solchen Klima? Dieses Wort kam nirgendwo vor: Presse, offizielle Ansprachen und Gesetzestexte kannten es nicht. Man findet es auch in der Mediationsakte nicht, welche die 19 kantonalen (nicht vorhandenen) Verfassungen vertritt. Ist diese Feststellung ein bedrückendes Zeugnis für das Regime? Rechtlich gesehen existierte die repräsentative Demokratie, aber mit Einschränkungen: keine Gewaltentrennung, ein stark einschränkendes Zensuswahlsystem, welches die Herrschaft der Reichen favorisierte, und beschränkte Redefreiheit. Umgekehrt waren die persönlichen sowie die Klassenprivilegien offiziell aufgehoben, die Niederlassungs-, Handels- und Industriefreiheit aber garantiert. Bilanz des Inventars: Das verfassungsmässige System, welches durch die Mediationsakte eingeführt wurde, war mehr liberal als demokratisch.
Jedes politische System wird auch und vielleicht vor allem durch die Geistesverfassung bestimmt, die es beseelt. Dasjenige der Mediation war von der Ablehnung jeglicher Unordnung und Anarchie geprägt. Die nationale Versöhnung und der Geist der Eintracht – das Gegenteil von Parteiengeist – zwangen zum Vergessen der «Helvetik», die aus Frankreich importiert wurde, aus dem gleichen Frankreich, das durch die Stimme seines neuen Herrn die Nutzlosigkeit der Helvetik anerkannt hatte. In den Augen der damaligen eidgenössischen Führungsschicht musste man jetzt das Blatt wenden, auf einer neuen Grundlage wieder anfangen und in die Zukunft blicken.
WIRTSCHAFTLICHE ERHOLUNG MIT LANDWIRTSCHAFTLICHER HEGEMONIE
Im Frieden mit sich selbst und auf dem internationalen Parkett offiziell neutral, gelingt es der Schweiz in der sogenannten Grossen Mediation, mit einem zentralen politischen Apparat, der auf die einfachste Form reduziert wurde – ein weiterer Zug von Grösse –, sich wirtschaftlich zu erholen. Auch hier gibt die Mediation, die vom wiedergefundenen Frieden profitiert, nach der endgültigen Ablösung von der Helvetischen Republik den Anstoss dazu. Freiheit von Handel und Industrie, deren Idee 1798 proklamiert wurde, wird 1803 aufrechterhalten. Auch die Binnenzölle, die schon von der Helvetik abgeschafft wurden, werden bei der Wiedererrichtung der kantonalen Grenzen nicht mehr eingeführt. Diese zwei Grundbedingungen schaffen einen gemeinsamen eidgenössischen Markt, der Austausch und Konkurrenz, Privatinitiative und Unternehmungsgeist anregt. Wenn wir noch berücksichtigen, dass die öffentliche Gewalt sich in die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht einmischt, so versteht man die Bourgeoisie, die sich dafür einsetzt, wie ein sich gewählt ausdrückender Historiker richtigerweise geschrieben hat, dass «der Profit nicht auf sich warten lässt».62 Dieser Profit fliesst ebenfalls und sogar hauptsächlich aus den Exporten, wobei Europa der erste Kunde der Schweizer Produkte ist. Darum kann man sagen, dass «weniger Staat» diesen ersten Boom der schweizerischen Wirtschaft ermöglicht hat und es nur noch ein kleiner Schritt ist bis zur Ideologie des «laisser faire, laisser passer».
Diese Schlussfolgerung berücksichtigt allerdings nicht, dass die Tagsatzung, zuständig für die Aussenpolitik der Konföderation – inklusive Import und Export –, auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht untätig geblieben ist. Ein nicht zu vernachlässigender Teil ihrer Aktivität, der vom Landammann wahrgenommen wurde, war den Verhandlungen mit den Nachbarländern über gegenseitige Verträge gewidmet. Mit anderen Worten, man muss die vermeintliche Schwäche an der Spitze des konföderativen Staates relativieren, wenn man berücksichtigt, welche grosse Verantwortung der vorsitzende Landammann trug. Eine Frage, die die Wirtschaftshistoriker nur indirekt beantwortet haben, bleibt offen: War die Tagsatzung zur Zeit des vorindustriellen Europa, wo nach Meinung einiger ein «rücksichtsloser Liberalismus» herrschte, nur das Triebrad der schweizerischen Arbeitgeber? Einer Arbeitgeberschaft, die zwar in voller Entwicklung und noch schlecht eingespielt war, deren Wichtigkeit sich aber rasch zeigte.
Wie damals überall blieb die Landwirtschaft vorherrschend und war deshalb in wirtschaftlichen Belangen das Hauptobjekt der Behörden. Sie beschäftigte zwei Drittel der aktiven Bevölkerung. Doch fehlten in gewissen Jahren die Arbeitskräfte, vor allem während der drei Mobilmachungen der Armee, was erklärt, warum die am meisten betroffenen Kantone sich über das eidgenössische Aufgebot für das Armee-Kontingent beklagten. Dazu kam eine örtlich begrenzte Knappheit an Arbeitskräften, welche sich zwischen 1803 und 1813 bemerkbar machte. Der Grund dafür lag ohne Zweifel in der Militärkapitulation: Die grosse napoleonische Armee war auf dem europäischen Markt für junge und starke Männer ein wichtiger Arbeitgeber. Die Schweiz hatte Mühe, das Kontingent dauernd aufzufüllen, und die Landwirtschaft musste sich mit den Leuten begnügen, die übrig blieben. Glücklicherweise kannte das Land von 1800 bis 1816 weder Teuerung noch Hungersnot. Trotz allem reichte die einheimische Produktion – wie immer – bei Weitem nicht aus, um alle Bedürfnisse der Ernährung zu befriedigen, selbst wenn der Getreideanbau in Bezug auf Wiesen und Weiden eine weitaus grössere Fläche nutzte als in späteren Jahren. Gewiss, die Schweiz zählte weniger als zwei Millionen Einwohner, aber die wenig leistungsfähige landwirtschaftliche Technik