Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

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Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



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Entschlossenheit, nahm aber auch wahr, dass sein sachter Druck mit brutaler Energie oder Hinterlist eines Kriegsführers im Felde nichts zu tun hatte.21 Der neue Hannibal, der 1800 über den Grossen Sankt Bernhard22 marschiert war, hatte nach der Rückkehr in seine Pariser Büros die Uniform mit dem Gehrock vertauscht, den er ebenso gut trug. Er, der an der Spitze einer Armee von 40 000 Mann nur zehn Tage gebraucht hatte, um seine einzigartige Unternehmung zu Ende zu führen, setzte mehr als zwei Monate ein, um von seinen Gästen – einer paritätischen Delegation von zehn Schweizern und vier französischen Senatoren – eine für beide Seiten akzeptable Formulierung zu erreichen. Kurz gesagt, auch die Schweizer verbargen unter ihrer starken Panzerrüstung solide Verhandlungsqualitäten. Hätte der Herr von Frankreich das nicht gewusst, die Consulta hätte es ihm beigebracht.23

      Die am 10. März 1803 in Kraft getretene Mediationsakte, die eher ein schiedsrichterliches Resultat einer langen, bilateralen franko-schweizerischen Verhandlung als ein Kompromiss war, der zwei rivalisierenden helvetischen Fraktionen mit einer Ermattungsstrategie abgerungen worden war, eröffnete eine beispiellose Periode der Schweizer Geschichte. Sie erstreckte sich über ein gutes Dezennium (sie endete am 29. Dezember 1813) und dauerte doppelt so lange wie die Helvetische Republik (1798–1803). Zum Vergleich: Die Restauration hatte 16 Jahre Bestand (1814–1830) und die Regeneration 18 (1830–1848). Sie als «Protektorat» zu bezeichnen, unter dem die Schweiz von 1798 bis 1813 gestanden hätte, ist im juristischen Sinn ein ungenauer Ausdruck.24 Gewisse Historiker haben daraus trotzdem ihr Glaubensbekenntnis gemacht.25 Andere26 bestanden auf dem Wort Domination, selbstverständlich der französischen Herrschaft, ohne einzusehen, dass die Könige von Frankreich während Jahrhunderten eine eigentliche Schutzherrschaft über die Schweiz ausgeübt haben. Wieder andere haben richtig erkannt, dass die Fremdherrschaft in der Schweiz mit ihren wiederholten Einmischungen in die eidgenössischen Angelegenheiten und ihrem militärischen, politischen, diplomatischen, ökonomischen und religiösen Druck von 1798–1848 ein halbes Jahrhundert fortbestanden hat, aufgeteilt in zwei Zeiträume, wobei der Kongress von Wien die Zäsur bedeutete: 1798–1815 (französische Periode), 1815–1848 (Periode der Heiligen Allianz).27

      In diesem halben Jahrhundert stürmischer Geschichte hat die Mediation, welche nur mit einem Fünftel der Zeitdauer von der Revolution bis zum Sonderbund zu Buche schlägt (10 von 50 Jahren), ihren gut markierten Platz und besticht durch ihre ganz eigene Physiognomie. Das Bild, das sich im Spiegel der Geschichte zeigt, unterscheidet sich von einem Autor zum andern, von einer Epoche zur anderen, von einer historischen Schule zur anderen. Soweit Geschichte ein Gebiet der Humanwissenschaften ist, erfordert sie eher Scharfsinn und Einfühlsamkeit als geometrischen Geist, um mit Blaise Pascal zu sprechen. Glücklicherweise ist der Beruf der Clio nicht eine exakte Wissenschaft und das Feld der möglichen Interpretationen unbegrenzt. Beispielsweise könnte man mit gutem Grund die Mediation als uneheliche Tochter des Ancien Régime und der Revolution betrachten, da sie von ihren beiden Eltern Erbgut übernommen hat: vom Ancien Régime das Fehlen einer zentralen Regierung und der Gewaltentrennung, von der Revolution die Postulate der Gleichheit der Stände und Personen, die Niederlassungs-, Handels- und Industriefreiheit wie auch und vor allem den Verzicht auf Privilegien.

      War die Mediation ein zwitterhaftes Regime, das niemanden zufriedenzustellen vermochte, oder im Gegenteil ein sinnreicher Kompromiss, ein Mittelweg zwischen Revolution und Gegenrevolution? Sollte man auf sie nicht die Formulierung anwenden, die Ludwig XVIII. später anstelle eines politischen Programms für das Frankreich unter seiner Herrschaft erfunden hat: «Das Ancien Régime ohne seine Missbräuche»? Eine klug dosierte Mischung von Tradition und Moderne, das war, könnte man sagen, die «weise Mediation». Aber welch eine seltene Tugend ist die Weisheit! War die Mediation in Wirklichkeit nicht nur ein einfacher Übergang, eine «kleine Restauration» in Erwartung der grossen (1814/15)? Um ein gastronomisches Bild zu bemühen, können wir sagen, dass diese «kleine Restauration» aus Speisen bestand, welche von einer neuen «classe politique», je nach Kanton anders zusammengesetzt, von aufgeklärten Aristokraten von früher und in der Zwischenzeit klug gewordenen Demokraten aus der Revolutionszeit gemeinsam genossen worden war. Der Zutritt zum Restaurant – der Ausdruck stammt aus der Epoche – war nicht gratis: Ein verschärfter Wahlzensus filterte die Tischgenossen und beugte dem Zustrom des Plebs aus der Landschaft vor, der berüchtigten «Bauernkratie».28 Man blieb unter seinesgleichen, unter «honnêtes gens». Nachdem man sich mit der soeben vergangenen und bereits vergessenen Zeit versöhnt hatte, sang man im Chor Lobeshymnen auf den Mediator und die Verdienste der Mediation. Doch die Mediation wird mit ihrem Vermittler untergehen.

      Ist man in erster Linie an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Schweiz interessiert, erscheint die Mediation wie eine Etappe, die den Beginn der industriellen Revolution und den Aufstieg der kämpferischen, kapitalistischen oder progressiven29 Bourgeoisie anzeigt. Im Gegensatz dazu würden ein Politologe und ein Jurist, die mehr Aufmerksamkeit für die institutionellen Mechanismen aufbringen, in der Verfassung von 1803 die Originalformel einer Föderation von republikanischen Staaten ausmachen, die auf den Grundsätzen von Gleichheit und Freiheit und einer jährlich wechselnden Einmannpräsidentschaft gründet: Sechs Vororte – in der Reihenfolge Freiburg, Bern, Solothurn, Basel, Zürich, Luzern – beherbergen nacheinander den eidgenössischen Hauptort, gleichzeitig Sitz der Tagsatzung und der zentralen Verwaltung30 wie auch des vorsitzenden Landammanns. Werden seine zahlreichen Chargen und wichtigen Kompetenzen in Betracht gezogen, die alle ausführlich in der Mediationsakte31 aufgeführt sind, erscheint er wie der Angelpunkt des Systems. Er verfügt zwischen zwei Tagsatzungen über eine Manövriermarge, die es ihm erlaubt, viele persönliche Initiativen zu ergreifen, gerade etwa im Fall von diplomatischen Beziehungen, welche er dann vor der versammelten Tagsatzung zu verantworten hat. Da er von keinem kollegialen Regierungssystem eingeengt ist, verfügt er über eine umso grössere Freiheit. Das Fehlen eines solchen kollektiven Organs ist riskant in einer Schweiz, die sich immer gegen jede Form von persönlicher Macht misstrauisch gezeigt hat. Der Mediator habe diese präsidentielle Instanz aufgezwungen, wird gesagt, um nur einen einzigen Verantwortlichen zu haben, mit dem er die Angelegenheiten der Schweiz behandeln konnte.32 Aber man weiss auch, dass er sich der Schaffung eines Staates und einer Armee widersetzte, die aus der Schweiz einen zu wenig fügsamen Alliierten gemacht hätten. Der Vermittler hatte etwas Machiavellisches an sich: Er wusste zu «teilen, um zu herrschen».

      Für zahlreiche Historiker ist der Kanton die Grundzelle und das Fundament des «Hauses Schweiz», bestimmt durch drei grundlegende Attribute, welche das öffentliche internationale Recht jedem Staat zuerkennt: Territorium, Volk, Regierung. Sie sehen in der Mediation eine Föderation von 19 Staaten. Sie rufen so die Souveränität und Unabhängigkeit jedes Kantons ins Gedächtnis zurück, unterstreichen aber gleichzeitig die Aufnahme von sechs Miteigentümern in das grosse eidgenössische Chalet, die bisher einfache Mieter waren, das heisst Untertanenländer (Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt) und Verbündete (St. Gallen und Graubünden – das Wallis blieb bis 1815 ein französisches Departement). Diese zusätzlichen Mitglieder werden sich im neuen Staat bemerkbar machen, denn das demografische Gewicht von einigen verleiht diesen eine doppelte Stimme in der Tagsatzung.33

      «Konföderation der 19 Kantone»,34 diese Formulierung, die schon durch ihren römischen Klang Achtung einflösst – man beachte den offiziellen Ausdruck «Confoederatio Helvetica», der immer noch in Kraft ist –, verfügt gleichzeitig über einen mnemotechnischen und pädagogischen Vorteil, um die Mediation im Zeitablauf gut als einen bestimmten Augenblick (kurze Dauer) einer Geschichte (lange Dauer) einreihen zu können, welche sich heute über acht Jahrhunderte erstreckt: Der Ausdruck unterstreicht ausgezeichnet das Vorher und Nachher. Geschichtlich gesehen nachteilig ist die vielleicht willentlich ausgeklammerte «eine und unteilbare» Helvetische Republik. Sie wird so von der jahrhundertelangen Evolution weggeschoben, die von der Schweiz der drei Gründerorte (1291) zu jener der 13 Stände (1513), dann zu jenen der 19 (1803), der 22 (1815) und der 23 (1978) in der logischen Erwartung der 24 oder mehr Kantone führt, wie wenn es sich um ein Wachstum ohne Ende einer ewigen Konföderation handelte, obschon sich die Grösse des Territoriums seit dem 16. Jahrhundert praktisch nicht mehr geändert hat.