Название | Der erste Landammann der Schweiz |
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Автор произведения | Georges Andrey |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198467 |
RECHT AUF AUSBILDUNG UND WISSEN
Es ist das Verdienst des demokratischen Föderalismus von 1803, der bürgerlichen Gesellschaft nach dem raschen Zusammenbruch der Helvetischen Republik, Opfer ihrer eigenen Revolution, zugestanden zu haben, die Entfaltung des Individuums durch das Recht auf Ausbildung zu ermöglichen. Eine zu dieser Zeit nicht alltägliche Idee. Die helvetische Verfassung vom 12. April 1798 hatte dieses Recht ausdrücklich festgelegt (Art. 7).77 Aber die Zeit reichte dem neuen Regime nicht, es umzusetzen. Die Mediation – das ist eines ihrer zahlreichen Verdienste – sprach nicht von diesem Recht, genehmigte aber, ohne ein Wort zu sagen, dessen Realisierung durch das Wirken und Werk der drei Pädagogen Fellenberg,78 Girard79 und Pestalozzi.80 Ihre internationale Bekanntheit gerade in dieser Epoche gereichte auch dem Regime von 1803 zur Ehre.
Den Zugang zum Wissen für alle zu erleichtern scheint heute in jeder Gesellschaft, die sich als modern betrachtet, selbstverständlich. So war es zu dieser Zeit noch nicht. Der Obskurantismus, ein Begriff für das «Dunkel des Aberglaubens», mit dem die Befürworter des allgemeinen, obligatorischen und unentgeltlichen Unterrichts ihre Gegner bezeichneten, war eine mehr unterirdische Strömung als ein öffentliches Bekenntnis. Daher kam auch seine Stärke. Der Obskurantismus hatte seine Anhänger in dem Milieu der traditionellen Didaktik, die auf dem Prinzip «lernen, ohne zu verstehen» gründete, das auf das allgemeinere Autoritätsprinzip zurückgeht. Der kritische Geist, das persönliche Nachdenken und die Zurückweisung des Dogmatismus wurden von den Obskurantisten mit Misstrauen beurteilt. Man versteht, dass unsere drei Pädagogen gegen diese Auffassung waren. Sie revolutionierten das universelle pädagogische Denken. Keine andere Zeit der Schweizer Geschichte hat gleichzeitig so viele aussergewöhnliche Männer in diesem Fach hervorgebracht. Das ist die grösste Leistung der Grossen Mediation.
Noch andere Gemeinsamkeiten vereinigten das Triumvirat, das sich mit Leib und Seele dem Kind gewidmet hat, um dessen Verstand und Herz zu wecken und zu fördern und seine Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen. Es war zunächst und vor allem ihr Liberalismus, in dem die Verbundenheit mit der Freiheit aus Überzeugung oder aus persönlicher Sensibilität die tragende Idee war. Sie teilten auch ihre Zuneigung zur Philanthropie, die sie als Aufmerksamkeit gegenüber dem Notstand anderer und den Sozialproblemen im Allgemeinen verstanden. Sie bezogen sich in ihren Schriften und ihrem Unterricht häufig auf die Religion, was den Katholiken Girard den zwei protestantischen Fachkollegen näherbrachte.81 Alle drei leiteten von Kant und seinem «sapere aude» (»wage selber zu denken») ihr hauptsächliches philosophisches Credo ab. Man kann nachvollziehen, wieso an den Ufern der Saane der «patriotische Mönch» Gregor Girard bei der römischen Kirchenhierarchie genau von dem Tag an nicht mehr mit der Aura der Heiligkeit umgeben war, an dem die «Grosse liberale Mediation» der «Grossen konservativen Restauration» Platz machte. Trotz starker Unterstützung durch die Classe politique wurde er gezwungen, seine revolutionäre Methode des gegenseitigen Lehrens und Lernens82 aufzugeben, welche die Bewunderung nicht nur der «toleranten Schweiz», der Katholiken und der Protestanten, sondern auch des ganzen liberalen Europa erregt hatte.
Die Grösse eines politischen Regimes misst sich nicht an seiner Dauer, genau wie die Grösse eines Landes sich nicht allein aus seiner Oberfläche oder aus der Bevölkerungszahl errechnet. Das vorliegende Buch nimmt nicht in Anspruch, eine Geschichte der Grossen Mediation zu sein, die erst noch geschrieben werden muss. Sein Ehrgeiz beschränkt sich darauf, ausgehend von zum grossen Teil unveröffentlichten Quellen erster Hand, neue Perspektiven zu eröffnen und den zu engen Horizont, in den man diese ebenso reiche wie kurze Periode zu oft eingeschlossen hat, neu auszuleuchten. Es möchte verhindern, dass diese Periode aus dem Gedächtnis der Schweizer verbannt bleibt und zu viele seiner Akteure, Politiker, Militärs und Diplomaten der Vergessenheit anheimfallen. In diesem Sinne ist die Darstellung des Lebens von Louis d’Affry, der zum ersten Mal in seiner wahren Gestalt erscheinen wird, ein Desideratum der schweizerischen Geschichtsschreibung.
IM SCHATTEN DES VATERS
EINE FREIBURGER ADELSFAMILIE IM DIENST DER SCHWEIZERISCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN
Geschichtsschreibung kann je nach Epoche und Zeitgeschmack heissen: verdunkeln, wo etwas stört, oder aufhellen, wo etwas nützt, unabhängig von den historischen Fakten. Wenige Autoren haben sich in der Vergangenheit mit den d’Affrys befasst. Der letzte Kommandant des ersten Korps der «befreundeten und verbündeten Nation» blieb ebenso verkannt wie sein Sohn, der erste Landammann der Schweiz. Woher rührt dieser Mangel an Publizität? Er liegt in der Geschichte der Familie begründet. Ungewöhnlich ist die Dynastie der d’Affrys wegen der Funktionen, die sie nacheinander wahrnahmen und die in der Geschichte unseres Volkes ihresgleichen suchen. Louis Auguste Augustin d’Affry (1713–1793) war der einzige Schweizer, der das Amt des Administrators der schweizerischen Truppen in Frankreich so lange und in einem entscheidenden Augenblick der Geschichte Frankreichs ausgeübt hatte. Ebenso fiel es seinem Sohn Louis d’Affry (1743–1810) zu, die Grundlagen für die Neuregelung anhand der Mediationsakte von 1803 des Ersten Konsuls zu legen – eine Aufgabe, die sich anderen Landammännern nicht stellte.
1 Porträt von Louis d’Affry, nach seinem Tod geschaffen.
Die Familie d’Affry ist in der Schweiz seit über einem Jahrhundert ausgestorben, ihre Archive aber sind fast vollständig erhalten geblieben. Dennoch hat sich bislang niemand ernsthaft die Mühe gemacht, sich in sie zu vertiefen und eine erschöpfende Darstellung der beiden geschichtlichen Hauptgestalten dieser Familie zu erarbeiten. Der Grund dafür lag offenbar in der umstrittenen Rolle, die Louis Auguste Augustin d’Affry, der Vater des späteren Landammanns, gespielt hat. Der Vater war unter Ludwig XVI. informeller Botschafter des Corps helvétique in Frankreich. Niemand verstand es besser als er, die oft widersprüchlichen Interessen und Ansprüche der Kantone mit dem Willen des Königs und seiner Minister in Einklang zu bringen. Besser als sonst jemand brachte er es fertig, die französischen Anliegen seinem Land und umgekehrt die seines Landes Frankreich diskret zu vermitteln. Das hatte zur Folge, dass er oft als zögerlich erschien und immer wieder gute Miene zum bösen Spiel machen musste. Wobei ihm das Spielen im Blut lag: Seine Nachfahrin Adèle d’Affry, ihres Zeichens Bildhauerin unter dem Pseudonym Marcello, schreibt in ihren Memoiren, ihr «Ahnherr trat in Sceaux bei der Herzogin du Maine in Anwesenheit von Madame de Deffand als Komödiant auf. Diesem Vergnügen musste er aber entsagen, sich zu seinem Vater begeben und unter seinem Befehl den Italienfeldzug mitmachen.»1 Vater d’Affry gestaltete sein Leben als Theaterstück. Aus unseren Recherchen ergibt sich die ganze Vielschichtigkeit eines Mannes, der mithilfe des französisch-schweizerischen Bündnisses vor allem das Überleben der Eidgenossenschaft zu bewahren suchte. Dennoch muss seine Persönlichkeit auf die Verfechter des Wahlspruchs «Ehre und Treue» – die eine einseitige und an Heiligenverehrung grenzende Auffassung vom Militärdienst in Frankreich haben – gelinde gesagt verwirrend wirken. In der Freiburger Historiografie hat sich im Übrigen das Bild einer Familie festgesetzt, die Frankreich bedingungslos ergeben ist.2 Zweihundert Jahre nach der Mediationsakte soll sich die vorliegende Studie mit der Persönlichkeit von Louis d’Affry befassen, dem Mann, der in der Dynastie den höchsten Rang erreicht hat. Bis zum Tod des Vaters im Jahr 1793 lebte Louis in dessen Schatten. Er setzte dessen Werk fort, und auf seinen Schultern lastete ein schweres Erbe. Beim Tod des Vaters ist Louis fünfzig Jahre alt und hat nur noch siebzehn