Название | Der erste Landammann der Schweiz |
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Автор произведения | Georges Andrey |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198467 |
«Die Grosse Mediation»: zugegebenermassen ein etwas provozierender Vorschlag, um ein Gegengewicht zur «Mediation» herzustellen, auch dies eine Wortwahl von Historikern,38 eine Zeit, die eine wenig glorreiche, wenn nicht gar schimpfliche Episode darstellt, die zwar kurz, aber doch zu lang war in einem langen Heldengedicht, welches die Schweizer Geschichte gewesen wäre. Die Geringschätzung, an der die Mediation leidet, ist die Frucht einer überschwänglichen Geschichtsschreibung,39 die unter dem Beiwort patriotisch ihren Nationalismus oder vielmehr ihren chronischen Lokalchauvinismus schlecht verbirgt, den des «Sonderfalls» und des «Alleingangs», zwei Aspekte eines zutiefst anti-europäischen Isolationismus.
Der heutige Prozess der Schaffung Europas lädt dazu ein, die Geschichte seiner Nationen und Staaten unter einem neuen Gesichtspunkt zu lesen. Die napoleonische Episode erscheint dann wie ein Versuch unter anderen, den alten Kontinent zu vereinigen, diesen westlichen Fortsatz von Asien. Vom heutigen Vorstoss zur Einigung Europas, der auf einem gemeinsamen Vorgehen und gegenseitiger Zustimmung der Völker und Regierungen beruht, unterscheidet sich die Methode Napoleons grundlegend. Dieser wird oft «der glückliche General» genannt – und beinahe wäre es ihm gelungen, als Engländer geboren zu werden.40 Sein Einigungsversuch stützte sich zumindest teilweise auf römische und karolingische Modelle. Geistreich hat Napoleon versucht, die «brüderliche Vereinigung der Völker» gegen die Regierungen, die gegenüber den Grundsätzen von 1789 feindlich eingestellt waren, auszuspielen. Nachdem diese ideologische Feindseligkeit nach zwei Jahrhunderten ganz oder beinahe verschwunden ist, scheint die Idee der Menschenrechte41 den Vereinigten Staaten von Europa, die ohne jeglichen Hegemonieanspruch einer Nation über die andere aufgebaut wurden, eine neue Chance zu geben.
Welches sind im Rückblick von 200 Jahren die wesentlichen Resultate unserer Grossen Mediation? Ihr erstes Verdienst ist zweifelsohne, der Schweiz mitten in einem vom Krieg heimgesuchten Europa den Frieden bewahrt zu haben: In der Tat ist der wesentliche Pluspunkt der Grossen Mediation, dass sie das Land nach innen befriedet hat und gegen aussen den Frieden zu bewahren vermochte.42 Doch konnte die selber nicht im Krieg stehende Schweiz dem gemeinsamen Schicksal Europas, welches durch die unaufhörlichen militärischen Auseinandersetzungen erschüttert wurde, nicht ganz entgehen. Von 1803 bis 1813 folgten vier Kriege aufeinander. Hunderttausende von Männern wurden mobilisiert, und Zehntausende von Toten und Verletzten waren zu beklagen, von den Opfern unter der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen. Da die Schweiz sich durch die «Capitulation militaire», einen militärischen Staatsvertrag von 1803, an das französische Imperium gebunden hatte, war sie verpflichtet, der «Grande Armée» dauernd 16 000 Mann zu stellen. Dies gelang ihr nur mit Schwierigkeiten. Im Verlauf der Jahre wurde die Rekrutierung wegen der immer zahlreicher werdenden Abgänge, welche ununterbrochen Löcher in die Bestände rissen, zunehmend schwieriger. Es gab Deserteure, Widerspenstige oder solche, die sich selbst verstümmelten. Man weiss auch – noch dramatischer –, dass Schweizer, welche in französischen oder spanischen Armeen dienten, sich gegenseitig bekämpften, so geschehen in der fürchterlichen Schlacht von Baylen in Andalusien (1808).43 «Das Schweizer Blut wurde durch Schweizer Hände vergossen», um das Wort Napoleons wieder aufzunehmen, welches er mit Bezug auf den Bürgerkrieg in der Schweiz 1802 ausgesprochen hatte.
DIE MEDIATION, EINE UMFASSENDE REGELUNG DER SCHWEIZERISCHEN PROBLEME
Übrigens sind die grossmütigen, universellen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, die 1789 proklamiert und bald in ganz Europa verbreitet wurden, der Geschichte der Grossen Mediation nicht fremd: Die Akte von 1803 wurde durch sie direkt inspiriert.44 Die Historiker sind sich heute einig: Im Gegensatz zu dem, was die Handbücher in ihrer Besessenheit, an die alte Freiheit der untergegangenen Eidgenossenschaft anzuknüpfen, während zu langer Zeit lehrten, war der Föderalismus, zu dem die Schweiz durch die vom Mediator vermittelte Übereinkunft zurückkehrte, nicht mehr derjenige des Ancien Régime. In Wirklichkeit begründete die Akte von Paris einen neuen Föderalismus, basierend auf der Gleichheit von Ständen und Personen.45 So kennzeichnete das Jahr 1803 den zweiten Tod des vormals wurmstichigen und nicht mehr zeitgemässen Föderalismus, welcher ein erstes Mal 1798 von der Bühne der Weltgeschichte weggefegt worden war. Er wiederholte sich 1848 ein drittes Mal bei der Gründung des eidgenössischen Bundesstaates, welcher auf die Föderation der Staaten von 1815 folgte, und sogar ein viertes Mal 1874 durch die Verstärkung des Zentralstaates von 1848. Mit anderen Worten: Der Föderalismus hörte nicht auf, sich zu entwickeln, blieb aber auf der soliden Basis von 1803 verankert. Deshalb ist die Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Mediationsakte im Jahre 2003 vollauf gerechtfertigt.
In den Augen der Urner bestand die Grösse des Ersten Konsuls darin, ihnen ihre «glückliche Vergangenheit» zurückgebracht zu haben. Im Klartext, die Bedeutung der Männer der Mediation besteht darin, von Paris zunächst eine globale Regelung des Schweizer Problems in einer für beide Seiten annehmbaren Form einer Befriedungsübereinkunft erreicht zu haben, welche zwei Punkte beinhaltet: Abschaffung des Regimes der Helvetischen Republik (effektiv am 10. März 1803), Wiederverhandlung des offensiven und defensiven Allianzvertrages von 1798, welcher an der Tagsatzung von Freiburg im Sommer 1803 in Angriff genommen und am 27. September durch die Unterschrift des defensiven Allianzvertrages, versehen mit einer Kapitulation, beendet wurde. Die neue Allianz von Freiburg – erinnert sie nicht an diejenige von 1516?46 – verschaffte der Schweiz auf dem internationalen Parkett eine Glaubwürdigkeit, die mit derjenigen unter dem Ancien Régime vergleichbar war und folglich von feindlichen Mächten Frankreichs nur schwer strittig gemacht werden konnte.
Die Schweiz – «neutral und Alliierter von Frankreich», das war schon ihr Status in der Epoche der Ewigen Allianz (1516) – bekommt so den Frieden zurück, den sie vor 1798 genoss, einen Zustand, der von ganz Europa respektiert wurde, auch wenn er immer wieder bedroht und gefährdet war. Die gleiche Situation bestand auch während der Mediation. Wenn man in Betracht zieht, welche Erfahrungen die Schweiz im 20. Jahrhundert während der zwei Weltkriege gemacht hat, kann man den psychologischen Druck ermessen, den die Kriegsgefahr zur Zeit Napoleons auf das Land ausübte, zumal wenn man berücksichtigt, dass während der Mediation innerhalb von nur zehn Jahren die Eidgenössische Armee drei Mobilmachungen erlebte (1805, 1809, 1813). Droht der Schweiz wieder eine Besetzung wie 1798/99? Wird sie von neuem zum Schlachtfeld Europas? Solche Fragen beunruhigten die Schweizer dieser Epoche.
Jeder Staatschef Frankreichs, von König Franz I. bis zu Kaiser Napoleon I., also während ganzer 300 Jahre,47 war Alliierter, Vermittler und Arbeitgeber der Schweizer. Die Übereinkunft von 1803 fand ihre Berechtigung in der jahrhundertealten Tradition von gegenseitigen Rechten und Pflichten des Völkerrechts und war für die damaligen Verhältnisse weder schockierend noch unehrenhaft. Die Neutralität war für die Schweizer ein charakteristisches politisches Verhalten, welches hauptsächlich auf unilateralen Erklärungen beruhte und kein juristisches Statut war, das die internationale Gemeinschaft und das Corpus helveticum vertraglich verpflichtet hätte. Erst beim Wiener Kongress 1815 und im Vertrag von Paris wurde die Schweizer Neutralität offiziell anerkannt, umschrieben und garantiert;48 anerkannt im Interesse von ganz Europa und definiert als «immerwährende und bewaffnete Neutralität».49 Somit kann man sagen, dass die Neutralität wie auch der Föderalismus sich der Entwicklung anpassten, was ein Zeichen von Vitalität und ein gutes Omen für die Zukunft war.
DAS LAND MIT «WENIGER STAAT» DYNAMISIEREN
In Frieden leben in einem Europa im Krieg, Revolution und Tradition miteinander aussöhnen, das sind die zwei Wagnisse, welche die Mediation einging und gewann. Es gibt noch ein drittes, nicht kleineres Wagnis, das sie auch bestand, nämlich das Land mit «weniger Staat» zu redynamisieren, um einen heute modischen Ausdruck zu gebrauchen. Effektiv bedeutete die Rückkehr zum Föderalismus nicht nur den Verzicht auf das zentralistische