Название | Der erste Landammann der Schweiz |
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Автор произведения | Georges Andrey |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198467 |
18 Das Haus in Prehl in der Nähe von Murten.
Zehn Tage vor den Septembermassakern scheint für d’Affry alles verloren. Nach revolutionärer Logik stand ihm das gleiche Schicksal bevor wie seinen im September massakrierten Untergebenen, ihm, der alles darangesetzt hatte, die Entfernung der Schweizergarden aus Paris zu verhindern, welche die Nationalversammlung seit Wochen an die Grenzen zu entsenden suchte. Behörden und Presse kennen die Dickköpfigkeit, mit welcher d’Affry und sein Stab das Regiment der Schweizergarden in Paris halten wollten. Liest man den Pressebericht vom 10. August, so droht d’Affry das Schlimmste. Nach ausführlicher Schilderung der Verhaftung «dieses Schweizer Höflings» glauben Les Révolutions de Paris ankündigen zu können, «dass ihm zweifellos der Prozess gemacht werden wird; diesen blutrünstigen Greis darf man nicht aus den Augen lassen», und etwas weiter erfährt man, das Volk habe sich «in das Gefängnis L’Abbaye begeben, um d’Affry seinen hingerichteten Soldaten nachfolgen zu lassen».146 Doch am 29. August kommt der grosse Überraschungscoup; der in Paris ansässige Bankier François Gédéon Jain (1748–1819) aus Morges kann seinem Bruder berichten, dass «am 22. Herr d’Affry verhört wurde; am 23. des Monats wurde er, wie man mir eindeutig versichert, von der Anklage entlastet; ich kenne allerdings Leute, denen das nicht behagt.»147 Zu guter Letzt schreibt er ihm am 6. September, «alle in der Abbaye befindlichen Offiziere und Unteroffiziere der Schweizergarden sind hingerichtet worden, ausser Oberst d’Affry, der vom Volk gerettet und nach Hause gebracht wurde.»148 Was war geschehen? Nach einer allzu einfachen Lesart «wurde Herr d’Affry seines hohen Alters wegen als entlastet erklärt.»149 Haben etwa «seine weissen Haare» allein die künftigen Septembriseurs besänftigen helfen? Oder ist es, weil d’Affry, der am 14. Juli und auch am 10. August krank ist, «durch eine brüske Kehrtwendung der öffentlichen Meinung dem Massaker entkam und in die Schweiz flüchten konnte»?150 Eine zu simple Erklärung! Trotz dem 10. August oder gerade wegen des dadurch ausgelösten Schocks in der Schweiz musste unter allen Umständen das Symbol der französisch-schweizerischen Freundschaft gerettet werden. Zu diesem Zweck trennte die revolutionäre Macht den Fall d’Affry vom übrigen Stab ab, dem die gesamte Verantwortung für die Tragödie auferlegt wurde. Betont wurde überdies die Unschuld der einfachen Soldaten, nicht nur, weil sie immer noch nützlich sein konnten, sondern auch, weil sie aus einem traditionell mit Frankreich befreundeten Volk kamen, wie wenige Monate später der doch alles andere als freundliche Robespierre betonte. Hingegen wurden die beiden Untergebenen des alten Obristen, Bachmann und Maillardoz, erbarmungslos hingerichtet. Ende August wurden die mittlerweile im Dienst der Mächtigen stehenden Zeitungen ersucht, d’Affry positiv darzustellen.151 Da aber dennoch irgendein d’Affry als, und sei es nur virtuelles, Opfer gesucht werden musste, verfiel man auf seinen Sohn Louis, den man als gegenüber der königlichen Familie «aufgeschlossener» porträtierte, der den Schiessbefehl gegeben und dies mit dem Leben zu bezahlen habe.152 So verlieh man Louis d’Affry die Gabe der Allgegenwart und stellte ihn in die vorderste Linie. Fast niemand konnte glauben, dass sich der Sohn d’Affry bereits auf seine Güter zurückgezogen hatte. Ein auf dem Revolutionsaltar geopferter d’Affry, das war, als habe schon sein Vater für seine Haltung genug gebüsst. Am 5. September erfuhren die Nordisten, dass am 1. in Paris «die Instruktion des Prozesses von Herrn Bachmann, Major der Schweizergarden, vor dem Sondergericht begonnen hat»,153 und am 9. September, «Herr d’Affry sei vom Volk gerettet und nach Hause gebracht worden.»154
RETTET DEN SOLDATEN D’AFFRY!
Kaum war die neue Staatsgewalt etabliert, erwies sie sich insofern als würdige Nachfolgerin des verblichenen monarchischen Regimes, als sie keinerlei Interesse daran hatte, mit den Schweizern zu brechen. Wenn schon nicht weniger als vier Deputationen der Pariser Kommune nötig waren, um die Nationalversammlung zur Schaffung eines Gerichts zu zwingen – die Brissot vergeblich bis zur Einrichtung der Convention zu verhindern suchte –, war es durchaus natürlich, dass der Vertreter der Schweizer Interessen in Frankreich Gegenstand aufmerksamer bis intensiver Fürsorge war. Nach der Überlieferung wurde d’Affry am 2. September 1792 im Triumph zu seiner Wohnung getragen von demselben Volk, das an diesem Tag in den Gefängnissen brutal wütete. Diese unglaubliche Randnotiz zu den Septembermassakern wird von ernstzunehmenden Dokumenten bezeugt, so etwa dem Bulletin du tribunal criminel vom 10. August, das zu diesem Thema nichts anderes aussagt, als was im Freispruch vom 18. Oktober nachzulesen ist.155 So fielen die Zeitgenossen zwar nicht über d’Affry her, aber seine erstaunliche Rettung entging ihrer Aufmerksamkeit nicht. Am 3. September 1792 um 11 Uhr morgens, wenige Stunden nach der Hinrichtung des Majors der Schweizergarden, schickte Madame Pacquement Bachmanns Bruder dessen letzten Brief. Die Massaker kommentierte sie so: «Von unserem Seelenzustand spreche ich nicht. Er entspricht dem uns umgebenden Unheil. 6000 [sic] Gefangenen wurden diese Nacht die Köpfe abgeschnitten. Als Einziger entkam Herr d’Affry. Das wütende Volk hat es so gewollt, ohne das Urteil abzuwarten.»156
Was ging an dem berüchtigten 2. September 1792 vor sich? D’Affry verdankte seine Rettung der Staatsraison. Hier ist zu betonen: Eine Beseitigung d’Affrys wäre einem Bruch mit den Schweizer Kantonen gleichgekommen. Die Abtrennung seines Falles vom übrigen Stab trug zur Wahrung der Überreste der mehrhundertjährigen Allianz mit den Eidgenossen und zur Erleichterung der stillschweigenden Entlassung von rund zehn noch in Frankreich stationierten Schweizer Regimentern bei.
Die neu etablierte Staatsmacht wollte den Anschein und den möglichen Rest des Bündnisses mit den Schweizern wahren, und darum versah sie den Freispruch d’Affrys mit besonderem Glanz, um den schädlichen Eindruck der Septembermassaker auf die öffentliche Meinung in der Schweiz zu mildern, gleichzeitig aber auch die fanatischen Revolutionäre zu besänftigen. Ein Grossteil der Soldaten wurde diskret gerettet, die Offiziere wurden augenfällig geopfert, der Regimentsoberst namens der Staatsraison ausgespart und seine Befreiung prompt mit grossem Gepränge verkündet. Am 10. September 1792 präzisierte Lebrun sorgfältig: «Von den 9 oder 10 in Haft befindlichen Schweizer Offizieren war Herr d’Affry der einzige, der verschont blieb und vom jubelnden Volk nach Hause begleitet wurde.»157 Der Fall d’Affry veranschaulicht die Vielschichtigkeit dieser Septembertage. Dass d’Affry unter dem Deckmantel des Vorspiels zum Massaker, des Happy Beginning – wenn man diesen Neologismus zur Beschreibung eines Grossereignisses nutzen darf, das hier seinen Anfang nimmt (und nicht sein Ende findet) –, aus der Conciergerie herauskam, lässt einerseits den Schluss zu, dass die Behörden die Dinge kaum in der Hand hatten. Andererseits ist die Tatsache, dass d’Affry im letzten Moment gerettet wurde, nachdem die Nachricht von seiner Befreiung schon seit einer Woche kursierte, ein Hinweis darauf, dass die provisorischen Behörden mindestens teilweise überrascht wurden. Sie konnten weder die einfachen, in der Abbaye vergessenen Schweizer Soldaten – von denen manche an den Ereignissen vom 10. August gar nicht beteiligt waren – noch die in der Conciergerie inhaftierten Stabsoffiziere retten. Immer vorausgesetzt, dass die neuen Machthaber sie wirklich der Wut des Volkes entziehen wollten.
Doch wie bei Besenval 1790 musste man die Spannungen sich erst legen lassen, ehe am 18. Oktober 1792 das endgültige Urteil gefällt werden konnte. Indem sie den Freispruch d’Affrys um einige Wochen verzögerte, behielt die Regierung der blutjungen Französischen Republik zudem einen d’Affry in der Hand, der ihr gegenüber umso willfähriger war, als er ungeduldig auf die Genehmigung zur Rückkehr in die Schweiz wartete. Der Freispruch vom 18. Oktober, der ihm in aller