Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

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Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



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besass eine feine Bauernart, gepaart mit viel gesundem Menschenverstand, eine Mischung aus Versailler Höfling und Berner Aristokrat, aus Grandseigneur und altem Soldaten, aus Geniesser und einfachem Schweizer, die aus ihm etwas Besonderes machten.»

      Nachdem er den grössten Teil des Lebens unter dem Ancien Régime verbracht hatte, besass er eine stets äusserst würdige und feine Art; als Bourgeois des 19. Jahrhunderts liebte er die Bequemlichkeit im Interieur und war allen gegenüber, auch seinen Untergebenen, stets höflich.

      Wie sein Vater entwickelte d’Affry eine schmiegsame und vielgestaltige Persönlichkeit, die Fähigkeit, gleichzeitig mehrere Rollen zu spielen. Aufrichtig den einfachen Freuden zugetan, benahm er sich wie ein «gentleman farmer», den es von Zeit zu Zeit in die Stadt zog. Dennoch kann man nicht umhin zu denken, dass er sich auf seinem Stückchen Land ein wenig isoliert vorkam, zumal sein Sohn Charles schon früh nach der Rückkehr aus Paris den Kanton Freiburg zu verlassen suchte. Es ist behauptet worden, kein d’Affry habe je gegen Frankreich gekämpft. Dennoch gibt es eine Ausnahme. In den in Vincennes geführten «Etats de services successifs de campagnes de Monsieur le comte Charles Philippe d’Affry» (Verzeichnis der Feldzüge des Grafen Charles Philippe d’Affry) ist unter dem 1. Juli 1814 nachzulesen, nach der Entlassung in Dieppe am 1. September 1792 sei Charles d’Affry nach England gegangen. Er kämpfte in Belgien und Italien gegen die Franzosen. Im November 1792 stand er mit General von Diesbach vor Lüttich. Im Mai 1793 trat er als einfacher Kadett ins ungarische Regiment von Erzherzog Anton ein; im Oktober 1793 zum Fähnrich ernannt, wurde er im Januar 1796 Leutnant. Von 1793 bis 1795 kämpfte er in Italien.185 1793 nimmt er an den Kämpfen von Dégo teil, sodann an weiteren, so zum Beispiel am 24. und 27. Juni 1794 am Col de Sept Pain und St. Jacques, an der Schlacht von Loano am 23. November 1795, im Jahre 1796 an den Kämpfen bei Savona sowie an der Überschreitung des Po bei Lodi. Im August 1796 quittierte er den österreichischen Dienst.186

      Wieder in der Schweiz, wurde er 1797 Stabshauptmann in der Miliz des Kantons Freiburg, was zeigt, dass er wieder in Gnaden aufgenommen war. Im Dienste der Koalition verpflichtete er sich den Gegenrevolutionären und stellte die Hingabe seiner Familie an das unter Beweis, was man in Freiburg die «gute Sache» nannte. 1797/98 war er Mitglied des Freiburger Grossen Rates und erwarb das Schloss Belfaux, wo er mehrere Umbauten vornahm, was auf eine fortan günstigere finanzielle Lage hindeutet. Den Giebel zierte das Wappen der d’Affry und Diesbach. Als sich das Ancien Régime in Freiburg dem Ende zuneigte, schien sich auch die Lage der Familie d’Affry sichtlich zu normalisieren.

      Louis d’Affry spaziert täglich mit der Pfeife im Mund über die Felder, im Alltagsgewand des Landedelmannes.187 Vermutlich ist es eine der schönsten Zeiten seines Lebens. Da er das Glück hat, in der Nähe der Landstrasse zwischen Lausanne und Murten zu wohnen, begegnet er am 23. November 1797 General Bonaparte, der auf dem Weg von Genf über Basel zum Rastatter Kongress die Schweiz durchquert. Zufall oder von langer Hand vorbereitete günstige Gelegenheit? Fred von Diesbach beschreibt uns einen Louis d’Affry, der «auf der feuchten Strasse an diesem eisigen Herbstmorgen vom 23. November in dem vom See aufsteigenden Nebeldunst auf und ab geht. Der Wind wirft die letzten Blätter von den Bäumen auf das reifstarre Gras. Der höchst einfach gekleidete Louis d’Affry [...] späht nach der Kutsche und ihrer Eskorte von Berner Dragonern im gelbroten Rock.

      Der General hatte Lausanne am frühen Morgen verlassen. Es war noch dunkel. Er durchquert Moudon, dessen Schultheiss, Herr de Weiss, seit acht Tagen auf der Landstrasse auf und ab marschiert in der Hoffnung, einen Blick auf sein Idol werfen zu können. In Domdidier geht Bonaparte in ein Bauernhaus und macht sich eigenhändig ein einfaches Frühstück. Dann besteigt er wieder seinen Wagen, der durch das verlassene Land weiterfährt. Plötzlich gibt es einen Stoss; eine Feder ist gebrochen. Bonaparte steigt aus und sieht das Beinhaus von Murten: ‹Ah, ah, die Knochen der Burgunder›, sagt er und wendet sich an einen Adjutanten (Marmont). ‹Das ist was für dich, du bist doch Burgunder!› Während das Gefährt notdürftig repariert wird, wirft Bonaparte, der nie einen Augenblick verliert, einen scharfen Blick auf die Hügel und Wiesen, die einst ein Schlachtfeld gewesen waren.» Und wen erblickt er da plötzlich? Erlach, meint Barante in seiner Geschichte des Directoire. Aber es kann sich nicht um einen Berner handeln. General Bonaparte machte keinen Hehl aus seiner «feindseligen Einstellung» ihnen gegenüber. Er «sagte immer wieder, der Berner Adel, seine Interessen und seine Machtgelüste seien mit der Republik unvereinbar; seiner Meinung nach musste das damals Bestehende durch einen neuen Zustand ersetzt werden. Er vermied es deshalb sorgfältig, irgendwo in der Schweiz mit einer massgebenden Obrigkeit zusammenzutreffen, und beeilte sich deshalb, so gut es ging»,188 erinnert sich Marmot. «Ein Einwohner auf der Strasse, Herr d’Affry, ehemaliger Oberst des Schweizergarderegiments, gab dem General die Erläuterungen, nach denen er sich erkundigte; sie bezogen sich vor allem auf die Bewegungen der beiden Armeen und ihre jeweiligen Stellungen».189 Fred von Diesbach kommentiert: «Der General überlegt einen Moment lang, dann sagt er zu Marmont und Junot, die ihn begleiten: ‹Dieses Land kann man mit zweitausend Mann besetzen!›» Eine beunruhigende Aussage, von der man nicht recht weiss, ob sie rein spekulativ oder konkret gemeint ist.

      Wenig später besteigt Napoleon Bonaparte seine Kutsche wieder und fährt schnell bis Murten weiter, wo eine längere Pause eingelegt werden muss, mindestens zwei Stunden, um die gebrochene Feder auszutauschen. Der dortige Schultheiss, Herr de Gottrau, bittet den General ins Schloss, wo ihn eine warme Mahlzeit erwartet. Er geht hin, traut aber wohl den Speisen nicht und nimmt nur Kaffee zu sich. Er ist von Würdenträgern umgeben, darunter Herr de Rougemont und der Pariser Bankier du Löwenberg, der an gewisse finanzielle Dienste erinnert, die er der Familie erwiesen habe. «Ach?», meint der General darauf nur. D’Affry, den Gottrau holen liess, bringt das Gespräch auf allgemeine politische Themen: «Die Schweiz ist ein glückliches Land», sagt Bonaparte, «daran soll man nicht rühren, sondern alles lassen, wie es ist. Die Neutralität der Schweiz ist ein grosses Glück für Frankreich.» Das wissen alle wohlmeinenden Franzosen. Der General stellt dann noch ein paar Fragen, denn er befindet sich auf kaum bekanntem Neuland, und ist erstaunt zu erfahren, dass Neuenburg dem König von Preussen gehört.

      Während des Gesprächs beobachtet d’Affry den seltsamen, trockenen, sonnengebräunten Mann mit der gebogenen Nase, dem leicht olivfarbenen Teint und dem ungepuderten, zusammengebundenen Haar. Er ist mager, trägt einen einfachen Reiserock, nicht einmal eine Uniform. Aber von ihm geht eine unvergleichliche Anziehungskraft und Autorität aus, fast eine Faszination. Er ist der Held auf der Brücke von Arcole, den Gros unsterblich gemacht hat. In ihm steckt eine gewaltige Kraft. Man spürt, dass er die Ereignisse befehligen wird. Im Anschluss an das Gespräch verlässt Bonaparte Murten und erreicht noch am selben Abend Bern, das er hinter sich lässt, ohne an dem Bankett teilzunehmen, das ihm die «Oligarchen» bereitet haben.190

      Diese Begegnung ist für d’Affry ein gutes Omen, und bald schon kommt die Stunde, da er wieder im politischen Rampenlicht stehen wird.

      Heute wissen wir, dass die Idee der Mediationsakte 1803, als der Erste Konsul die Schweizer Frage regelte, nur insoweit etwas Neues ist, als sich die Mediation nunmehr für die Schweiz insgesamt und nicht mehr nur für diesen oder jenen Teil der Eidgenossenschaft aufdrängte. Die Neuheit lag in der späteren Betrachtung der Mediation als einer aussergewöhnlichen Zeit. Gern wird vergessen, dass die Schweiz in in traditioneller Weise mit Frankreich liiert war und von einer fremden Macht abhing. Für uns bezeichnet die Mediation den Moment, in dem die Frankreichhörigkeit ihren Höhepunkt erreichte und dabei die gesamte Schweiz umfasste. Zuvor hatten die einzelnen Stände unterschiedene Abhängigkeiten von den benachbarten Mächten. Die strukturelle Trägheit der Tagsatzung hatte dies recht gut ertragen.

      Die Rolle des Vermittlers fiel Bonaparte sehr schnell zu. Der Basler Peter Ochs (1752–1821) forderte ihn zum Eingreifen auf, um das unitaristische System durchzusetzen, und bat ihn gar, sich zum «Gesetzgeber der Schweiz» zu erheben – ein Angebot, das der General zum damaligen Zeitpunkt ablehnte.191 Ochs übernahm es also, den Verfassungsentwurf zu formulieren, nachdem er die Ansichten von Daunou und