Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey

Читать онлайн.
Название Der erste Landammann der Schweiz
Автор произведения Georges Andrey
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198467



Скачать книгу

am 21. September in einem Brief nach Freiburg: «Ich fange an, mich für ein paar unselige Überreste des Regiments nützlich zu machen, will mich aber bewusst in nichts einmischen, sondern werde von Herrn de Servan zwei Kommissare der Versammlung erbitten, um die Siegel beim Major, an der Schatztruhe und an den Kontrollbeständen zu entfernen. Sie werden, jeder zu seinem Teil, das Nötige tun.»168 Am 28. September erfährt nunmehr der Kanton Solothurn, dass d’Affry der Frage der Nachfolge Besenvals nicht mehr nachgehen kann: «Meine Gesundheit wird so schwach, dass ich, sobald ich das für das Schweizergarderegiment Nützliche erledigt habe, darum bitten werde, heimkehren und dort die Ruhe finden zu können, derer ich dringendst bedarf.»169

      Nun ist auch das letzte noch verbliebene Schweizer Regiment, das Zürcher, in guter Form entlassen. Offiziell verbleibt keine Schweizer Truppe mehr in der Republik. D’Affry braucht nur noch zu packen und muss niemandem mehr seine Aufwartung machen. Sobald die Verwaltungsdinge liquidiert sind, verlässt d’Affry am 20. Oktober 1792 Paris, wohin er nie mehr zurückkehrt, und findet eiligst procul negotiis (fern der Angelegenheiten) zu sich selber. Louis d’Affry und seine Schwester reisen am 24. Oktober ab und gesellen sich zu ihrem Vater in Saint-Barthélémy, wo er am 28. erwartet wird.170 Am 30. Oktober finden wir ihn bei seinem Sohn im Schloss der Vogtei d’Echallens, um dort endlich seinen, wie man zu sagen pflegt, wohlverdienten Ruhestand zu geniessen. Am 2. November teilt d’Affry von dort aus dem Staat Freiburg mit, sein Gesundheitszustand gestatte ihm nicht, nach Freiburg zu kommen, und äussert die Hoffnung, dass Ihre Exzellenzen ihn von der Anwesenheit dispensieren.171 Er weiss, dass er in der Stadt der Zähringer nicht gerade willkommen ist. D’Affry kommt nicht nach Freiburg und die Patrizier gehen ihm aus dem Weg. Auch ihm liegt nicht besonders viel daran, sie wiederzusehen. Seine letzten Lebensmonate scheint er friedlich verbracht zu haben, wobei er sich über die Heimkehr seines Enkels Charles freut, nachdem das am Vorabend des 10. August in die Normandie entsandte Detachement der Schweizergarde am 17. September 1792 in Dieppe entlassen wurde.172 Bis zum letzten Atemzug ist d’Affry weitgehend im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten, wie seine Korrespondenz und die Aussage de Forestiers, des Schatzmeisters der einstigen Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fridel Zurlauben bestätigen. Darin beschreibt er seinen letzten Besuch beim einstigen Obersten vor einigen Tagen in dessen Schloss von Saint-Barthélémy, «wo wir den Chef in einem Zustand antrafen, dessen Zerfall trotz aller Kunst Tissots bevorzustehen scheint. Aber er besitzt immer noch seine Fröhlichkeit, seine Geistesruhe und sein volles Gedächtnis.»173 Ein klarer Widerspruch zur Legende eines d’Affry, der sein Leben von allen geächtet und von Gewissensbissen geplagt beendet habe. Anfang Mai erleidet er einen Schlaganfall, aber gegen Ende des Monats scheint sich sein Zustand wieder zu bessern. Am 10. Juni 1793 stirbt er friedlich in seinem Bett, auf den Tag genau zehn Monate nach der schrecklichen Niederlage seines Regiments. Er wird nicht an dem für die d’Affrys reservierten Ort in der Klosterkirche in Freiburg beigesetzt, sondern «in der Pfarrei St-Germain in Assens, Landvogtei d’Echallens, den Kantonen Bern und Freiburg unterstellt.»174 Als Jean Nicolas Elie Danse,175 sein treuer Pariser Mitarbeiter, die Nachricht erfuhr, schrieb er am 21. Juni an Louis d’Affry: «Er starb in der Gewissheit, in seiner Heimat vor allem viele glücklich und nicht wenige undankbar gemacht zu haben. Seine einzige Sorge war, leidend zu sterben, denn den Tod hat er nicht gefürchtet. Gott hat seine Bitte erhört, denn er starb, ohne leiden zu müssen.»176

      Ein Grabstein an der Mauer der Kirche von Assens im Kanton Waadt ruft den Mann in Erinnerung, der sich diese Beschriftung erbeten hatte: Hic quies. Nach 80 Jahren auf Erden starb ich am 10. Juni 1793 in meinem Schloss Saint-Barthélémy umgeben von meinen Kindern und Enkeln. Gratus exivi. Louis Auguste d’Affry. «Gratus exivi» – was will diese Inschrift genau besagen? Der erste wahrhaft helvetische Botschafter in Frankreich und letzte Oberst der Schweizergarden verblich in Seelenfrieden. Glücklich, gelebt, und zufrieden, seinen Auftrag erfüllt zu haben, sieht er nun furchtlos den Vorhang fallen über einem Leben, das ihm alles in allem viel Abwechslung bot. Sein Sohn wird ihn nur um siebzehn Jahre überleben.

      Das Ableben von Generalleutnant d’Affry befreite seinen Sohn vom Schatten des Kommandeurs. Nun war er voll und ganz Louis d’Affry, wie er fortan genannt wird. Waise war er im doppelten Sinne, denn seit je lebte seine Familie im Spannungsfeld des französisch-schweizerischen Bündnisses. Für den enttäuschten, mittellosen und seiner traditionellen Bezugspunkte beraubten Fünfzigjährigen war es höchste Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen. Doch bevor er sich der Welt öffnen konnte, zog sich Louis zunächst auf seine Güter zurück. War der Kanton Freiburg, in den er heimkehrte, auch für die «fetten Kühe» bekannt, so brechen für d’Affry dennoch die Jahre der «mageren» an. Nach dem Tod seines Vaters verkauft Louis das Schloss Saint-Barthélémy und wohnt meist zurückgezogen in seinem Landhaus in Prehl bei Murten. War das Beste am Sohn der Vater gewesen, so war es nun auch das Schlimmste, wenn man sich die Ansichten der Zeitgenossen seiner Kaste zu eigen macht. Der in Freiburg zur persona non grata gewordene Louis nahm eine Wartestellung ein an einem Ort, von dem aus er beobachten konnte, ohne allzu nahe überwacht zu werden. Der Wohnsitz in Prehl entpuppte sich ganz offenkundig als naheliegendes Exil, wo er dafür sorgte, vergessen zu werden. Marius Michaud schreibt: «Bis 1798 verfolgt er dennoch die Entwicklung in Frankreich und in seinem eigenen Land sehr genau. Er spürt, dass sich die Revolution unausweichlich auf das übrige Europa ausbreiten wird.»177

      Fred von Diesbach interpretierte d’Affrys Fernbleiben von Freiburg so: «Urplötzlich fand er sich mit allen ihm anhängenden Lasten in der Klemme. Für das, was ihm nun noch an Mitteln blieb, war Saint-Barthélémy zu drückend und zu kostspielig. Er verkaufte das Schloss zwei Jahre später und vergab einen Teil des Mobiliars sowie die Bibliothek, von der wenige Bruchstücke in Waadtländer Familien übrig sind. D’Affry ertrug diese Opfer mit viel Gleichmut und Gelassenheit. Aber er hatte kein Zuhause.»178 Zwar hatte er im Januar 1777 ein Haus in der Rue de la Préfecture179 erworben, aber es war an Emigrierte vermietet. Zuvor hatte sein Vater 1783 den Familienwohnsitz an der Place Notre-Dame verkauft. «Übrig blieben die (ihm über den Vany-Zweig überkommene) Domäne von Givisiez und der kleine Besitz in Prehl zwischen Salvagny und Murten, unweit von Courgevaux. Dort liess er sich nieder.»180 Auf Rosen ist d’Affry offenkundig nicht gebettet. Beim Sturz der Monarchie verlor er seinen Sold als Marschall und seine Pension.

      Dennoch war Louis d’Affry nicht zu bedauern. Wie erwähnt, besass er ein Stadthaus in Freiburg.181 Volksnah und knapp bei Kasse, verwaltete Louis d’Affry seinen Besitz mit grosser Sorgfalt. So machte er sich beispielsweise am 14. März 1798 Sorgen um vier Weingärten, die er gemeinsam mit seiner Schwester, «Ehefrau des Bürgers Diesbach», in Aran in der Pfarrei Villette besitzt, die er eiligst bei Glayre, dem Vorsitzenden des Überwachungs- und Polizeikomitees von Lausanne,182 ebenso anmeldet wie ein Häuschen, das sein Winzer bewohnte.

      Abgesehen von seinen Nachbarn de Greng und du Loewenberg, Garville und Tessé pflegte Louis nur sehr wenig Umgang mit französischen Emigranten, deren Sitten und Gewohnheiten zu wünschen übrig liessen und die sich im Übrigen auch vor ihm in Acht nahmen. Max von Diesbach dazu: «Wenngleich sich d’Affry dank seiner Bildung und den Beziehungen in der Jugendzeit in dieser gemeinhin eleganten und frivolen Welt gut zurechtfand, war er seiner Umgebung doch durch seinen gesunden Menschenverstand und die Familientradition überlegen, die ihm als Schutz dienten. Zudem hatte ihn die Natur mit einem Herzen gesegnet, das ihn schon für sich allein vor verächtlicher Voreingenommenheit bewahrte.»183 Der glänzende Soldat am Versailler Hof hatte nunmehr einem kleinen Landgutbesitzer Platz gemacht. So lautete das Zeugnis des Memoirenschreibers Norvins:

      «Man muss ihn samt Frau und Kindern einmal in ihrem Landhäuschen in Prehl gesehen haben. Man hätte ihn glatt für den Sohn einer Familie von Kleinbauern gehalten. Nie hat mich eine Metamorphose mehr beeindruckt, mich, der sie als ihr Nachbar in Paris so wohlsituiert erlebt hat. Sie nahmen das Dorf ebenso zu Herzen wie vordem die Stadt und den Hof und besassen die grosse Gabe, sich in beiden doch so unterschiedlichen Positionen gleichermassen zurechtzufinden.»184